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Aus: Ausgabe vom 21.01.2023, Seite 4 / Inland
Wahl in Berlin

Narren in Hochform

Szenen aus dem Berliner Wahlkampf: Wagenknecht spricht in Schöneberg. Landespartei um Distanz bemüht
Von Nico Popp
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Teilnehmer der Kundgebung am Donnerstag in Berlin-Schöneberg

Auf dem Crellemarkt geht es am frühen Abend trotz Kälte und Dunkelheit lebhafter zu als gewöhnlich. Den kleinen, für seinen Wochenmarkt bekannten Platz am nördlichen Ende der Crellestraße direkt neben den Bahngleisen in einer früher mal proletarisch geprägten, inzwischen aber längst gentrifizierten Ecke Schönebergs hat sich der Linke-Bezirksverband Tempelhof-Schöneberg für eine Wahlkampfveranstaltung ausgesucht, die der Landesverband der Partei nicht bestellt hat. Hauptrednerin an diesem Donnerstag ist die Bundestagsabgeordnete Sahra Wagenknecht.

Rund 300 Menschen sind da. Keine Massenversammlung also, aber immer noch ein zahlreicheres Publikum als bei den Veranstaltungen, die der Landesverband vor der Wiederholungswahl zum Abgeordnetenhaus abspult. Die Landesspitze hat sich vorab bemüht, die Veranstaltung in Schöneberg zu ignorieren. Die Abgeordnete Elif Eralp, die im Landesvorstand sitzt, tat am Montag bei Twitter kund, dass Wagenknecht »nicht in unserem Namen« spreche; dem einladenden Bezirksverband stehe im Landesverband – der sich im Wahlkampf als »Berliner Linke« von der Bundespartei absetzt – »eine große Mehrheit« gegenüber. Und das ist, was Funktionäre, Abgeordnete und ihren Anhang angeht, vermutlich keine falsche Beschreibung der Verhältnisse in der von regierungslinken Profis beherrschten Hauptstadt-Linken. Angesichts dieser Konstellation hatte der Tagesspiegel am Donnerstag vorab voller Erwartung geschrieben, Wagenknecht werde »zum Ziel linken Protests« werden.

Das klappt am Abend indes nicht recht: Rund 150 Meter von der kleinen Bühne entfernt haben sich, beäugt von ein paar Polizisten, sechs oder sieben Leute aus jenem auf »antifaschistisch« frisierten Spektrum eingefunden, das sich im vergangenen Jahr darauf spezialisiert hat, am Rande von linken Veranstaltungen aufzutauchen, bei denen mit ein paar kritischen Worten zur NATO zu rechnen ist. Sie begleiten die Wagenknecht-Rede mit einer bizarr wirkenden Schreiperformance.

Die Abgeordnete macht in ihrer Rede keine Werbung für die »Berliner Linke«, sondern bittet um Erststimmen für die Kandidaten des einladenden Bezirksverbandes Alexander King und Friederike Benda. Wagenknecht spricht auch nicht zur Berliner Landespolitik, sondern zum Komplex Krieg und Teuerungskrise. »Krieg ist ein Verbrechen«, man verurteile alle Kriege, »egal, ob sie von Russland, egal, ob sie von den USA ausgehen«. Sie wünsche sich, dass »wir in Deutschland wieder eine starke Friedensbewegung bekommen, und zwar eine starke und große Friedensbewegung«. In der Regierung säßen »Kriegsnarren«; die Rüstungs- und Waffenlobbyisten liefen »zur Hochform« auf.

Man beende einen Krieg nicht, indem man immer mehr Waffen liefere; es brauche statt dessen Druck, um eine Verhandlungslösung zu finden, so Wagenknecht. Es gehe bei dem Krieg in der Ukraine nicht um »Werte«. Dort kämpfe der »korrupte russische Oligarchenkapitalismus gegen den korrupten ukrainischen Oligarchenkapitalismus, der von den USA unterstützt wird«. Wagenknecht sprach sich einmal mehr gegen die »unsäglichen Wirtschaftssanktionen« aus. Das sei ein »Wirtschaftsprogramm, das Interessen bedient«, und diese Interessen säßen »in den USA«. Es sei »bescheuert«, »Politik für die US-Wirtschaft zu machen«. Um die explodierenden Preise kümmere sich die Regierung nicht. Wagenknecht forderte unter anderem einen bundesweiten Mietpreisdeckel. Dafür und für andere Dinge brauche man indes »Druck von der Straße«.

Klaus Lederer, Spitzenkandidat der »Berliner Linken«, gab unterdessen dem Journalisten Tilo Jung ein Interview, das ebenfalls am Donnerstag veröffentlicht wurde. Angesprochen auf Wagenknecht, sagte Lederer, die Bundestagsabgeordnete trage »nicht unbedingt bei« zu den »Erfolgen«, die man als Landesverband »hinbekommen« habe. Wagenknecht versuche, an Stimmungen anzuknüpfen, »die ich nicht für progressiv, die ich nicht für links halte«. Menschen, die »Täter-Opfer-Umkehr in bezug auf den Ukraine-Krieg betreiben und die Sanktionen mit Blick auf die Wirtschaftsinteressen des deutschen Volkes in Frage stellen«, würden »keine linken Positionen vertreten«. Lederer bekräftigte anschließend, dass er Waffenlieferungen an die Ukraine befürworte.

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  • Leserbrief von Hans Wiepert aus Berlin (23. Januar 2023 um 17:57 Uhr)
    Wann zieht sich Herr Lederer endlich aus der Politik zurück und sich selbst eine schicke Uniform an, um für Selenskij zu kämpfen? Es ist bezeichnend, dass ausgerechnet ehemalige ranghohe Militärs wie Kujat und Vad das Panzer-Hurra nicht mitmachen, welches von grünlich-links-simulierenden Figuren wie Hofreiter, Baerbock und Lederer gebrüllt wird.
  • Leserbrief von Roland Winkler aus Aue (23. Januar 2023 um 15:38 Uhr)
    Ansichten Sahra Wagenknechts musste man in vergangenen Jahren nicht immer teilen. Da soll bekanntlich in freiheitlich-demokratischen Parteien nicht anders sein. Wer aber einer Wagenknecht – wie geschehen – Rassismus und Spalterei vorwirft, der lügt, diffamiert bewusst und in voller Absicht. Es handelt sich nicht um harmlose Narren, sondern um Kriegstreiber und Brandstifter. Beinahe lustig oder eher bitterer Ernst, wenn wir sehen und hören, wie Rassismus, Faschismus , Kriegstreiberei, Russenhass , Völkerhass von den gleichen Leuten mitgetragen und betrieben wird, die einer Wagenknecht diese Vorwürfe machen. Ein Odessaplatz in Karlshorst hat Antirassisten und Gegner von Wagenknecht in keiner Weise gestört diese »Ehrung« zu unterstützen. Pfui Teufel fällt einem da nur noch ein, zu einer »Linken«, in der es wahrlich selbstgerecht rein gar nichts mehr zu spalten gibt. Eine Politikerin in heutiger Zeit höchster Gefahr vor dem dritten Weltkrieg des Rassismus und Spalterei zu verleumden, die gegen Sanktionen, Waffenlieferungen und für diplomatische Friedensverhandlungen eintritt, da gehört ein Höchstmaß an politischen Verrat, Prinzipienlosigkeit und Menschenfeindlichkeit dazu.
    Was ist daran links, nach den Erfahrungen zweier Weltkriege, nach den Mordaufrufen und Mord an Luxemburg und Liebknecht, nach dem Faschismus und seinem Krieg wie aller Geschichte? Was unterscheidet einige Linke-PolitikerInnen noch von christlich-pazifistischer-kriegstreiberischer Politik der Ampelregierung, die sich grün, pazifistisch, antirassistisch verstanden wissen wollen oder wollten und doch nur von blindem Russen- und Völkerhass, Kriegsgeilheit getrieben sind. Wenn es noch gelingen sollte einen dritten Weltkrieg zu stoppen, dann wird sich die friedliebende Menschheit ganz gewiss derer wie Wagenknecht erinnern und wird wissen, wer die anderen gewesen sind. Wünschen wir uns in einer Zeit, in der die Masken fallen, die Wahrheiten ans Licht gelangen, dass die friedliebende Mehrheit aufsteht, ihren Friedenswillen diesen Regierenden deutlich nahebringt.
    Wer verhindert eine Friedenslösung, wer hat sie bisher boykottiert, wer steht dem Frieden im Wege? Welche Ziele verfolgen sie? Fordern wir alle darauf die Antwort der Regierenden.
  • Leserbrief von Peter Groß aus Bodenseekreis (23. Januar 2023 um 13:53 Uhr)
    Rund 31 Millionen Menschen sind in Deutschland in einem Ehrenamt tätig. Sie füttern beiläufig die Kriegskasse, damit der Staat von Pflichtleistungen frei, weltweit in Kriege ziehen kann oder dass Aktionäre, Millionenerben und Oligarchen nicht etwa das Tafelsilber, wie in vorangegangenen Kriegen beispielsweise, zur »Winterhilfe« tragen müssen. Wer zukünftig bis 67 oder 70 Jahre an seinen Arbeitgeber gekettet ist, wird wohl bei der Tafel, Caritas, dem Millionärsbund Rotes Kreuz, Sportvereinen, Parteien oder Sonstigen fehlen. Dabei wäre die Umwandlung des Ehrenamtes in eine sozialabgabenpflichtige Beschäftigung eine der vielen Lösungen, über die Die Linke nachdenken sollte, um der Forderung der Arbeitgeberverbände entgegenzutreten. Bekanntermaßen gehen Politiker im Ruhestand zudem unsinnigerweise den hoch dotierten Beschäftigungen in diesen ehrenamtlichen Einrichtungen nach. Die massivsten Umweltzerstörungen haben kriegbedingte Ursachen. Für die Grünen war das Umwelt- und Friedensthema allenfalls ein Marketinginstrument, um die (Realo-)Macht an sich zu reißen. Preise werden von der Ampel abseits jeder marktwirtschaftlichen Vernunft verordnet, beispielsweise vom Lagerhalter Lauterbach, der 151 Millionen Dosen Coronaimpstoff aus dem Zentrallager des Bundes (2022) vernichten und dazu 130,7 Millionen Dosen Coronaimpfstoff bis Ende 2023 zu Höchstpreisen erwerben muss und für fiebersenkende Pharmaprodukte neue Lagerkapazitäten schafft, nachdem er eben mal eigensinnig deren Abnahmepreis um 50 Prozent heraufgesetzt hat. Wo heute noch um Panzer und Munition geschachert wird, können in den nächsten Jahren computergestützte Waffensysteme die halbe Welt an einem Vormittag vernichten. Diese sind als Computersimulation in den Bodenseelaboren bereits in der Endplanung. Sevim Dagdelen oder Sahra Wagenknecht gehören zu den Visionärinnen einer neuen Linken, die sich zur Massenbewegung entwickeln könnte. Das würde jedoch den Rückzug aller bräsigen Kriegstreiber und Umweltfeinde erfordern.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Henry F. aus Berlin (22. Januar 2023 um 07:49 Uhr)
    Herr Lederer, nur Leuten wie Sahra Wagenknecht, Ellen Brombacher und anderen hat die Linke meine Wahlstimme bisher zu verdanken. Das was Sie, Herr Lederer, für Links halten, ist nicht Links! Da Sie und andere das Linke-Schiff gekapert haben, bekommen Sie meine Stimme nicht mehr!
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Gabriel T. aus Berlin (21. Januar 2023 um 14:02 Uhr)
    Demnächst macht Lederer uns auch noch den Habeck.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Josie M. aus 38448 Wolfsburg (21. Januar 2023 um 11:23 Uhr)
    Laut Wagenknecht kämpfe der »korrupte russische Oligarchenkapitalismus gegen den korrupten ukrainischen Oligarchenkapitalismus, der von den USA unterstützt wird«. Tja, »wir« wissen, dass Sahra Wagenknecht sehr viel differenzierter argumentieren kann, aber in dem hier beschriebenen kleinen Rahmen einer der jetzigen Berliner Wahlveranstaltungen führte sie, wie das o.g. Zitat beweist, nicht nur »die moralischen« Gründe im Sinne einer Friedenspolitik an, sondern brachte die Sache des Wirtschaftskrieges doch auch wieder sehr deutlich auf den Punkt, wie sicher nicht nur ich finde.

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