junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Gegründet 1947 Mittwoch, 8. Mai 2024, Nr. 107
Die junge Welt wird von 2751 GenossInnen herausgegeben
junge Welt: Jetzt am Kiosk! junge Welt: Jetzt am Kiosk!
junge Welt: Jetzt am Kiosk!

Leserbriefe

Liebe Leserin, lieber Leser!

Bitte beachten Sie, dass Leserbriefe keine redaktionelle Meinungsäußerung darstellen. Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe zur Veröffentlichung auszuwählen und zu kürzen. Leserbriefe sollten eine Länge von 2000 Zeichen (etwa 390 Wörter) nicht überschreiten. Kürzere Briefe haben größere Chancen, veröffentlicht zu werden. Bitte achten Sie auch darauf, dass sich Leserbriefe mit konkreten Inhalten der Zeitung auseinandersetzen sollten. Ein Hinweis auf den Anlass Ihres Briefes sollte am Anfang vermerkt sein (Schlagzeile und Erscheinungsdatum des betreffenden Artikels bzw. Interviews). Online finden Sie unter jedem Artikel einen Link »Leserbrief schreiben«.

Leserbrief zum Artikel Nord Stream 2: Säbelrasseln gegen Russland vom 08.09.2020:

Permanente Verdummung

Herr Norbert Röttgen (CDU), der sich gern als die »Nummer eins« in außenpolitischen Betrachtungen und Einschätzungen präsentiert, bringt es auf den Punkt. Er sieht die Welt »erneut brutal mit der menschenverachtenden Realität des »Regimes Putin konfrontiert«. Und, damit kommt er zum Kern, fordert er die Einstellung der Arbeiten an »Nord Stream 2«. Soweit sein politisches Geschwätz, das aber von vielen Zeitungsschreibern in Deutschland wissentlich mitgetragen wird. Es ist schon verwunderlich, dass wir in Deutschland seit langem nur noch wenige Journalisten kennen, die objektiver Recherche und Betrachtung verpflichtet sind. Man schwimmt im Mainstream bzw. bestimmt diesen. Keiner stellt die entscheidende Frag: cui bono? Wem nützen die Ereignisse und Vorfälle, steckt womöglich eine bestimmte Absicht dahinter? Zu keinem der zurückliegenden Vorfälle (u. a. »MH 17«, Skripal) gab es schlüssige, unwiderlegbare Beweise. Es gab jeweils ein Konglomerat von Anhaltspunkten, Indizien, Vermutungen sowie politisch begründeten Behauptungen usw. Bei näherem Hinsehen brachen die Kartenhäuser teilweise ein. Es überrascht jedoch schon, dass man von allen Untersuchungen Russland ausschloss. Wenn man objektiv untersuchen will, dann wäre das doch das mindeste, die Russen einzubeziehen. Also, wer hat da etwas zu verbergen? Ich darf daran erinnern, dass die Lügen u. a. zum Beginn des Vietnam-, des Irak-Krieges, des Jugoslawien-Krieges nirgendwo in der westlichen Welt, bei keinem Journalisten einen Sturm der Entrüstung hervorriefen, keiner brandmarkte die USA als Lügner.
Ich sehe im Zusammenhang mit der Hysterie zu Nawalny andere Zusammenhänge, auf die man eventuell achten sollte: Der russische Präsident Putin ist seit 1999 bemüht, Russland im Konzert der Großen mitspielen zu lassen. Und da er dem Taten folgen lässt (im Unterschied zu seinem trunkseligen Vorgänger), ist er zum Hauptangriffsziel der USA und seiner willfährigen Mitläufer geworden. Dazu wurde unter Federführung der USA ein außenpolitisches, militärisches und wirtschaftspolitisches Konzept entwickelt. Die US-Amerikaner haben darin klar ihre Einflusssphären markiert (die reichen bis an die russische Grenze), und dem folgen alle anderen, insbesondere die NATO-Partner. Warum hat keiner unserer Journalisten die Aktivitäten des US-amerikanischen Außenministers Pompeo analysiert, der eine klare »rote Linie« des Einflusses seines Landes und der NATO bis an die Grenze Russlands zieht und die Europäer, besonders die Osteuropäer, politisch und ökonomisch unter Druck setzt? Dabei ist Russland der Hauptangriffsgegner – und nachfolgend China.
Und so passt in die strategische Ausrichtung der neue Vorfall um Nawalny. Die Politik und die Medien machen ihn zur Nummer eins unter den Oppositionellen in Russland, mit großem Einfluss. Selbst die Deutsche Welle kommt nicht umhin, einzuschätzen, dass dieser Möchtegern keine bedeutsame Rolle in Russland spielt. Aber die angebliche Vergiftung Nawalnys, ein Vorfall, den ich nicht bewerten kann, spielt wunderbar in die Karten der Russland- und insbesondere Nord-Stream-2-Gegner. Wie war das doch: Die USA wollen das Projekt mit allen Mitteln des ökonomischen und politischen Drucks verhindern, sie wollen ihr Frackinggas teuer in Europa verkaufen. Und nun zu Nawalny: Wer auch immer die Fäden zieht, Fragen muss man stellen: Warum haben die Charité und dann ein Bundeswehr-Labor (!?) die Untersuchungsergebnisse erstellt, warum kein unabhängiges? (Wahrscheinlich, weil es sich mutmaßlich um Kampfmittel handelte, wie ein anderer Leser schrieb; jW.) Die Bundeswehr benötigte ungewöhnlich lange – musste man auf eine Weisung warten? Warum fanden die Russen mit einem hochmodernen US-amerikanischen Massenspektrometer nichts oder wenig, aber das Bundeswehr-Labor? Wie gelang es Nawalny, die Zeit vom Wirkungseintritt bis zur Behandlung in Berlin zu überleben, wenn man die Wirkung phosphororganischer Kampfstoffe kennt? Die Wirkung, verkürzt dargestellt, besteht in Pupillenverengung, Sehstörungen, Nasen-, Tränen- und Speichelfluss, Kopfschmerzen und weiter Atemnot, Erbrechen, Bewusstlosigkeit usw. Ohne medizinische Gegenmaßnahmen kommt es zu Atemlähmung, Kreislaufkollaps und Tod. Verabreicht hätte dieser Kampfstoff nur unter Schutzmaßnahmen werden können – es gibt aber wundersamerweise keine anderen Betroffenen, oder? Warum wird in keiner deutschen Berichterstattung erwähnt, dass Nowitschok schon in den 90er Jahren auch in den Besitz des BND gelangte, dass die USA und Großbritannien (auch weitere Länder) über diesen Stoff verfügen? Warum lassen wir wieder nicht zu, dass die Russen an der Auswertung zu Nawalny teilnehmen? Wenn Journalisten der Wahrheit verpflichtet wären, dann müssten sie doch mindestens solche oder ähnliche Fragen stellen. Aber es ist so leicht, eine Massenhysterie zu entfachen und einfach nicht die ganze Wahrheit zu sagen bzw. zu schreiben. Der deutsche Michel soll arbeiten, die Schnauze halten und nicht nachdenken. Und so nimmt die permanente Verdummung ihren Lauf!
Wolf Hinke
Veröffentlicht in der jungen Welt am 15.09.2020.
Weitere Leserbriefe zu diesem Artikel:
  • Unter umgekehrten Vorzeichen

    Hinsichtlich der Ereignisse in Belarus wird nicht nur massiv gelogen, auch gibt es Erscheinungen deutscher Außenpolitik, wie es sie seit März 1939 gegen Polen nicht mehr gegeben hat: Das Verhalten der...
    Dr. Holger Michael, Erkner
  • Vorwand gegen »Nord Stream 2«

    In den letzten Jahren häufen sich die Anklagen an die Adresse der Russischen Föderation. Sei es die Vergiftung von Litwinenko mit Polonium, die Vergiftung der Skripals, beides in Großbritannien, oder ...
    Wolfgang Herzig
  • Für dumm verkauft

    Giftanschläge sind grundsätzlich zu ächten, harte Strafen sind gerechtfertigt. Nicht zu rechtfertigen ist das, was man hierzulande den Bürgern bezüglich des mutmaßlich vergifteten russischen Videoblog...
    Dr. Gert Alisch, Chemnitz
  • Es geht um die Gasgeschäfte

    Unter den vielfältigen Charakterisierungen von Putin ist mir eine bisher nicht begegnet: Er sei ein Volldepp! Wie blöd müsste er sein, Nawalny vergiften zu lassen, aber so, dass er nicht sofort stirbt...
    Fritz Dittmar, Hamburg
  • Vor der eigenen Türe kehren ...

    Frau Bundeskanzlerin! Nawalny lebt, Oury Jalloh ist tot (wurde in Dessau von Polizisten umgebracht, verbrannt). Es ist doch kaum zu glauben, dass die russische Regierung Nawalny und Skripal ermorden w...
    Horst Jäkel, Potsdam
  • Ideologische Kriegsvorbereitungen

    Um Nawalny wurde in Deutschland, von NATO und EU ein ungeheurer Propagandakrieg gegen Russland entfesselt, den ich als ideologische Kriegsvorbereitung werte, weil am Feindbild gearbeitet wird. Offen u...
    Horst Neumann
  • Ungewöhnlich flach

    Es ist unverständlich, wie Frau Dr. Merkel als Bundeskanzlerin »aus der Hüfte« gegen Russland schießt. Ihr Ziel, »Europa aus der Krise zu führen«, gerät so ins Gegenteil. Allein die Tatsache, dass das...
    Gerd Weißmann, Friedensinitiative Nordheide
  • Absichtlich zweierlei Maß

    Wieso ist es so, dass Ermittlungen in Deutschland vom nach wie vor ungelösten NSU-Komplex bis zu Amri nicht vorankommen und keine Lösung finden, aber im Fall Nawalny bis zum Außenministerium alle sofo...
    Istvan Hidy
  • Wo der Hund begraben liegt ...

    Berlin zeigt auf Moskau und Moskau zeigt auf Berlin, alles wie immer, trotz Corona! Einer behauptet etwas, der andere blockt ab oder stellt sich gar strohdumm, dann geht das Ganze wieder mit einem kal...
    Klaus P. Jaworek, Büchenbach
  • Ins falsche Horn

    Die Äußerung des Linke-Kovorsitzenden Bernd Riexinger, es sei wegen Nawalny dringend notwendig Druck auf die russische Seite auszuüben, verwundert mich. Meint er wirklich, die Russen hätten Nawalny na...
    Reinhard Schmiedel, Weimar