Leserbrief zum Artikel Sanktionsregime: 15 Jahre Verfassungsbruch
vom 06.11.2019:
Verfassungsgericht als Verfassungsfeind
Artikel 93 des bundesdeutschen Grundgesetzes bestimmt im einzelnen, wie und inwiefern das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe seine Rolle als »Hüter der bundesdeutschen Verfassung« auszufüllen hat. In seinem Urteil 1 BvL 7/16 vom 5.11.2019 (vgl. https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2019/11/ls20191105_1bvl000716.html) begründet es die verfassungsrechtliche Minderung des unveräußerlichen, nicht relativierbaren und unmittelbar durch den Sozialstaat zu gewährleistenden Existenzminimums im Kontext der Paragraphen 31, 31a und 31b des SGB II mit einer Erhöhung der »Beschäftigungswahrscheinlichkeit« (siehe 1 BvL 7/16, Absatz mit der Randnummer [Rn.] 169) für Menschen mit gemindertem ALG II. Der in den Artikeln 1 und 20 des bundesdeutschen Grundgesetzes niedergelegte Kernbestand von unveräußerlicher, nicht relativierbarer und unmittelbar alle staatliche Gewalt bindender Menschenwürde und Sozialstaatlichkeit wird somit vom Bundesverfassungsgericht zu einer bloßen Wahrscheinlichkeit veräußert, relativiert und zur Mittelbarkeit degradiert.
Damit unternimmt es das Bundesverfassungsgericht, die Ordnung des Grundgesetzes zu beseitigen. Gemäß Absatz 4 von Artikel 20 des bundesdeutschen Grundgesetzes haben somit »alle Deutschen das Recht zum Widerstand« gegen das Urteil 1 BvL 7/16 des Bundesverfassungsgericht, »wenn andere Abhilfe nicht möglich ist«.
Eine absurde Situation: Der oberste Hüter der Verfassung betätigt sich als Verfassungsfeind. Diese Absurdität lässt sich meines Erachtens nur so interpretieren, dass sich die Bundesrepublik Deutschland zumindest formell im Bürgerkrieg befindet. Da die staatlichen Organe ihrer Aufgabe nicht gerecht werden, existieren sie konstitutionslogisch nicht mehr, wir benötigen neue.
Das Urteil 1 BvL 7/16 des bundesdeutschen Verfassungsgerichts entfaltet selbst in aller wünschenswerten Klarheit die im zentralen Grundrecht der Menschenwürde und im zentralen Staatsziel der Sozialstaatlichkeit konstituierte Unverfügbarkeit (siehe 1 BvL 7/16, Absätze mit Rn. 118 und 120), Unantastbarkeit (siehe 1 BvL 7/16, Absätze mit Rn. 119 und 157) und Nicht-Relativierbarkeit (siehe 1 BvL 7/16, Absätze mit Rn. 119 bis 121) sowie die staatliche Pflicht, das Existenzminimum unmittelbar zu gewährleisten (siehe 1 BvL 7/16, Absätze mit Rn. 125, 132, 141 und 209). Diese gilt für jeden Einzelfall, jeden einzelnen Menschen in jeder einzelnen Situation, unantastbar, unverfügbar, nicht relativierbar.
Nichtsdestotrotz genügt dem Gericht ein mittelbarer und im Einzelfall nicht gegebener Zweck des Gesetzgebers, nämlich die perspektivische Möglichkeit einer Beendigung von Hilfebedürftigkeit durch Lohnarbeit, als Begründung für einen Einschnitt in Höhe von 30 Prozent in das Existenzminimum, obgleich es zugleich deutlich zu Protokoll gibt, dass nach fast 15 Jahren Geltung der Sanktionsregeln im SGB II die notwendig zu erbringende empirische Evidenz für die tatsächliche Erfüllung dieses mittelbaren Zwecks allerhöchstens sehr vage erbracht wurde (siehe 1 BvL 7/16, Absätze mit Rn. 60, 134, 136, 167, 189, 192, 193, 200 und 205). Völlig klar ist hingegen allen, dass dieser Zweck nicht unmittelbar, sofort und verlässlich in jedem Einzelfall zum Wegfall der Hilfebedürftigkeit führt. Also tastet das Bundesverfassungsgericht hier entgegen besseren eigenen Wissens die Menschenwürde an, relativiert sie, macht sie zum bloßen Mittel und verfügt nach Gutsherrenart über sie, indem es z. B. an zentralen Stellen immer wieder von einem nicht näher belegten und sogar nach eigener Aussage nicht zu belegenden »derzeitigem Erkenntnisstand« und ähnlichem schwadroniert (siehe 1 BvL 7/16, Absätze mit Rn. 137, 192, 194, 200, 201, 211, 214 und 215). Schillernd ist in diesem Zusammenhang der wohl einzig sardonisch zu nennende Satz in 1 BvL 7/16, Absatz mit Rn. 183: »Es ist jedenfalls auch bei der Ausgestaltung des Sozialrechts nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, von zahlreichen Faktoren abhängige Wertungen selbst vorzunehmen, sondern dem Gesetzgeber überantwortet, eine solche Entscheidung zu treffen (oben Rn. 122).« Gleichwohl wertet das Gericht eine Minderung von 30 Prozent auch ohne empirische Evidenz als vertretbar.
In 1 BvL 7/16, Absatz mit Rn. 127 sagt das Gericht: »Art. 1 Abs. 1 GG schützt die Würde des Menschen, wie er sich in seiner Individualität selbst begreift und seiner selbst bewusst ist (BVerfGE 49, 286 [298]). Das schließt Mitwirkungspflichten aus, die auf eine staatliche Bevormundung oder Versuche der ›Besserung‹ gerichtet sind (vgl. BVerfGE 128, 282 [308]; zur historischen Entwicklung oben Rn. 5, 7).« Nichtsdestotrotz hat es sich für staatliche Bevormundung und Versuche der »Besserung« entschieden und gegen Artikel 1 und 20 des Grundgesetzes. Auf die merkwürdige Auslegung des Artikel 12 des Grundgesetzes in 1 BvL 7/16, Absätze mit Rn. 148 bis 151 lohnt sich meines Erachtens daher ein näheres Eingehen gar nicht, weil das Urteil die bedeutsameren Artikel 1 und 20 bereits mit Füßen tritt.
Das Urteil lässt sich in mancher Hinsicht auch durchaus positiv lesen. 1 BvL 7/16, Absatz mit Rn. 143 fordert zwingend eine mündliche Anhörung vor einer Minderung. Im Kontext ist naheliegend, wenn auch nicht in wünschenswerter Klarheit gesagt, dass diese Anhörung regelmäßig sozialpsychologisch geschulte externe Gutachter involvieren muss. Zudem ist aus der Gesamtargumentation ersichtlich, dass auch eine Minderung von 30 Prozent nur dann überhaupt in Frage kommen kann, wenn die Existenz dennoch dadurch gesichert bleibt, dass ein »sofort verwertbares Schonvermögen oder sonstige Einnahmen zur Verfügung stehen« (1 BvL 7/16, Absatz mit Rn. 48). Die gestrige Berichterstattung der Medien hat diesen Umstand allerdings eher verschleiert als offengelegt. Das Urteil selbst macht durch seine Komplexität und Länge (siehe zur Textstruktur https://drive.google.com/file/d/1Eawx7epAv41ap5ETc8_zG4bDnbVOApvj/view) diese Voraussetzung für eine Minderung eher undeutlich als deutlich. Dass die staatlichen Verwaltungen rund um das SGB II diese Voraussetzung sowohl verstehen als auch beherzigen, steht mindestens in Zweifel. Tun sie es oder begreift der über eineinhalb Jahrzehnte sich mit seiner Verfassungsfeindlichkeit wohlfühlende Gesetzgeber demnächst doch einmal, welche Pflichten ihm Artikel 1 und 20 des Grundgesetzes auferlegen, so wäre dies eine »andere Abhilfe« gemäß Absatz 4 des Artikel 20 des Grundgesetzes. Tun sie es nicht, bleiben wir formelles Bürgerkriegsland.
Damit unternimmt es das Bundesverfassungsgericht, die Ordnung des Grundgesetzes zu beseitigen. Gemäß Absatz 4 von Artikel 20 des bundesdeutschen Grundgesetzes haben somit »alle Deutschen das Recht zum Widerstand« gegen das Urteil 1 BvL 7/16 des Bundesverfassungsgericht, »wenn andere Abhilfe nicht möglich ist«.
Eine absurde Situation: Der oberste Hüter der Verfassung betätigt sich als Verfassungsfeind. Diese Absurdität lässt sich meines Erachtens nur so interpretieren, dass sich die Bundesrepublik Deutschland zumindest formell im Bürgerkrieg befindet. Da die staatlichen Organe ihrer Aufgabe nicht gerecht werden, existieren sie konstitutionslogisch nicht mehr, wir benötigen neue.
Das Urteil 1 BvL 7/16 des bundesdeutschen Verfassungsgerichts entfaltet selbst in aller wünschenswerten Klarheit die im zentralen Grundrecht der Menschenwürde und im zentralen Staatsziel der Sozialstaatlichkeit konstituierte Unverfügbarkeit (siehe 1 BvL 7/16, Absätze mit Rn. 118 und 120), Unantastbarkeit (siehe 1 BvL 7/16, Absätze mit Rn. 119 und 157) und Nicht-Relativierbarkeit (siehe 1 BvL 7/16, Absätze mit Rn. 119 bis 121) sowie die staatliche Pflicht, das Existenzminimum unmittelbar zu gewährleisten (siehe 1 BvL 7/16, Absätze mit Rn. 125, 132, 141 und 209). Diese gilt für jeden Einzelfall, jeden einzelnen Menschen in jeder einzelnen Situation, unantastbar, unverfügbar, nicht relativierbar.
Nichtsdestotrotz genügt dem Gericht ein mittelbarer und im Einzelfall nicht gegebener Zweck des Gesetzgebers, nämlich die perspektivische Möglichkeit einer Beendigung von Hilfebedürftigkeit durch Lohnarbeit, als Begründung für einen Einschnitt in Höhe von 30 Prozent in das Existenzminimum, obgleich es zugleich deutlich zu Protokoll gibt, dass nach fast 15 Jahren Geltung der Sanktionsregeln im SGB II die notwendig zu erbringende empirische Evidenz für die tatsächliche Erfüllung dieses mittelbaren Zwecks allerhöchstens sehr vage erbracht wurde (siehe 1 BvL 7/16, Absätze mit Rn. 60, 134, 136, 167, 189, 192, 193, 200 und 205). Völlig klar ist hingegen allen, dass dieser Zweck nicht unmittelbar, sofort und verlässlich in jedem Einzelfall zum Wegfall der Hilfebedürftigkeit führt. Also tastet das Bundesverfassungsgericht hier entgegen besseren eigenen Wissens die Menschenwürde an, relativiert sie, macht sie zum bloßen Mittel und verfügt nach Gutsherrenart über sie, indem es z. B. an zentralen Stellen immer wieder von einem nicht näher belegten und sogar nach eigener Aussage nicht zu belegenden »derzeitigem Erkenntnisstand« und ähnlichem schwadroniert (siehe 1 BvL 7/16, Absätze mit Rn. 137, 192, 194, 200, 201, 211, 214 und 215). Schillernd ist in diesem Zusammenhang der wohl einzig sardonisch zu nennende Satz in 1 BvL 7/16, Absatz mit Rn. 183: »Es ist jedenfalls auch bei der Ausgestaltung des Sozialrechts nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, von zahlreichen Faktoren abhängige Wertungen selbst vorzunehmen, sondern dem Gesetzgeber überantwortet, eine solche Entscheidung zu treffen (oben Rn. 122).« Gleichwohl wertet das Gericht eine Minderung von 30 Prozent auch ohne empirische Evidenz als vertretbar.
In 1 BvL 7/16, Absatz mit Rn. 127 sagt das Gericht: »Art. 1 Abs. 1 GG schützt die Würde des Menschen, wie er sich in seiner Individualität selbst begreift und seiner selbst bewusst ist (BVerfGE 49, 286 [298]). Das schließt Mitwirkungspflichten aus, die auf eine staatliche Bevormundung oder Versuche der ›Besserung‹ gerichtet sind (vgl. BVerfGE 128, 282 [308]; zur historischen Entwicklung oben Rn. 5, 7).« Nichtsdestotrotz hat es sich für staatliche Bevormundung und Versuche der »Besserung« entschieden und gegen Artikel 1 und 20 des Grundgesetzes. Auf die merkwürdige Auslegung des Artikel 12 des Grundgesetzes in 1 BvL 7/16, Absätze mit Rn. 148 bis 151 lohnt sich meines Erachtens daher ein näheres Eingehen gar nicht, weil das Urteil die bedeutsameren Artikel 1 und 20 bereits mit Füßen tritt.
Das Urteil lässt sich in mancher Hinsicht auch durchaus positiv lesen. 1 BvL 7/16, Absatz mit Rn. 143 fordert zwingend eine mündliche Anhörung vor einer Minderung. Im Kontext ist naheliegend, wenn auch nicht in wünschenswerter Klarheit gesagt, dass diese Anhörung regelmäßig sozialpsychologisch geschulte externe Gutachter involvieren muss. Zudem ist aus der Gesamtargumentation ersichtlich, dass auch eine Minderung von 30 Prozent nur dann überhaupt in Frage kommen kann, wenn die Existenz dennoch dadurch gesichert bleibt, dass ein »sofort verwertbares Schonvermögen oder sonstige Einnahmen zur Verfügung stehen« (1 BvL 7/16, Absatz mit Rn. 48). Die gestrige Berichterstattung der Medien hat diesen Umstand allerdings eher verschleiert als offengelegt. Das Urteil selbst macht durch seine Komplexität und Länge (siehe zur Textstruktur https://drive.google.com/file/d/1Eawx7epAv41ap5ETc8_zG4bDnbVOApvj/view) diese Voraussetzung für eine Minderung eher undeutlich als deutlich. Dass die staatlichen Verwaltungen rund um das SGB II diese Voraussetzung sowohl verstehen als auch beherzigen, steht mindestens in Zweifel. Tun sie es oder begreift der über eineinhalb Jahrzehnte sich mit seiner Verfassungsfeindlichkeit wohlfühlende Gesetzgeber demnächst doch einmal, welche Pflichten ihm Artikel 1 und 20 des Grundgesetzes auferlegen, so wäre dies eine »andere Abhilfe« gemäß Absatz 4 des Artikel 20 des Grundgesetzes. Tun sie es nicht, bleiben wir formelles Bürgerkriegsland.
Veröffentlicht in der jungen Welt am 07.11.2019.