»Die Leute erwarten den Sozialismus zurück«
Interview: Arnold SchölzelFür dieses Interview erreiche ich Sie in der Altairegion, buchstäblich am geographischen Mittelpunkt Asiens. Sie sind mit politischer Arbeit befasst, obgleich Sie im Mai 2021 in Moskau wegen angeblicher Anstiftung zu Unruhen zu fünf Jahren Haft auf Bewährung verurteilt wurden und keine Wahlämter ausüben dürfen. Bestimmte Tätigkeiten sind aber gestattet?
Ich erhielt nur die Auflage, mich einmal im Monat bei der Polizei zu melden. Das tue ich auch. Ansonsten gibt es keine Beschränkungen. Offiziell bin ich jetzt Referent der Duma-Abgeordneten Angelika Glaskowa, die Mitglied der Fraktion der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation, KPRF, ist – und meine Frau. Sie kandidierte bei den Parlamentswahlen 2021 auf der KPRF-Liste für drei föderale Gebiete: die Republik Altai, die Region Altai und die Republik Tuwa, d. h. für Südsibirien an den Grenzen zu Kasachstan, der Volksrepublik China und der Mongolei. Wir sind in jedem Monat drei Wochen in Moskau und eine Woche hier in der Region – wobei wir weniger politisch arbeiten, sondern vielmehr den normalen Aufgaben von Volksvertretern nachgehen. Wir treffen uns mit der Bevölkerung, mit Regierungsbeamten und manchmal auch mit der Staatsanwaltschaft, wenn wir vermuten, dass sie eingeschaltet werden muss. Es ist der Versuch, die Probleme der Menschen an Ort und Stelle zu lösen. Das gelingt in vielen Fällen. Wenn nicht, weil zum Beispiel Gesetzesänderungen nötig sind, bringen wir in Moskau entsprechende Vorlagen ein.
Der Altai gilt als ein besonders malerisches Gebirge, seine Reservate wurden als »Goldene Berge des Altai« 1998 von der UNESCO in die Liste des Weltnaturerbes aufgenommen. Wie muss man sich die wirtschaftliche und soziale Lage in einem solchen Gebiet der Russischen Föderation vorstellen?
Dazu muss man wissen: Südsibirien war ein Teil der sowjetischen Kornkammer. Die Region besteht aus zwei Teilen: dem Gebirge – das heute ein Touristenmekka ist, weil es wirklich sehr schön und vielfältig ist und viele archäologisch interessante Stätten aufweist – sowie dem Flachland nördlich davon. Das gehörte zu dem »Neuland«, das für die Getreideproduktion ab 1954 in der Sowjetunion unter den Pflug gebracht wurde. Hier wächst der beste Weizen der ganzen Föderation, weil die Vegetationsbedingungen ideal sind: Im Sommer ist es nicht so heiß wie im Süden Russlands und im Winter nicht so kalt wie im Norden Sibiriens. Hier werden jährlich einige Millionen Tonnen Weizen höchster Qualität produziert. In der Sowjetunion gab es zudem in dieser Gegend verschiedene Fabriken. Zum Beispiel wurde hier im Altai ein spezieller Traktor für schwere Böden entwickelt und hergestellt. Von dem einst riesigen Werk sind aber nur Ruinen übrig, ähnliche Entwicklungen gibt es auch woanders. Das ist der Grund, warum meine Frau und ich für die Wiederherstellung der Industrie eintreten. Es schmerzt mich, wenn wir hier im Foyer eines Kulturhauses in einem Dorf stehen, eines großen Gebäudes, wie ich es in Deutschland nicht in Großstädten gesehen habe. Die Sowjetunion hat nicht nur für Arbeit gesorgt, sondern auch für Unterhaltung und Kultur.
Das erinnert mich an das Schicksal von DDR-Kulturpalästen …
Das ist vergleichbar. Früher haben Betriebe oder Kolchosen diese Häuser unterhalten und außerdem für oft kostenlose Wohnungen gesorgt.
Wovon leben die Menschen heute?
Das ist das entscheidende Problem. Die Einkommen sind nicht nur im Altai sehr niedrig, hinzu kommt der Verfall der sozialen Infrastruktur. An den Bezirkskrankenhäusern gibt es in der Regel kaum Spezialisten etwa für Herzkrankheiten, weil sie in Großstädte ziehen, in denen sie mehr verdienen. Die Einkommensunterschiede sind sehr groß. Wir kämpfen dagegen auch mit unseren Gesetzesvorhaben. Aber für die Menschen hier ist es schwierig, sehr schwierig – sie leben nicht, sie überleben. Das betrifft Schulen, Krankenhäuser, niedrige Löhne und vor allem: Es gibt keine sicheren Arbeitsplätze.
Moskau, die föderale Regierung kümmert das nicht?
Auch in der Altairegion herrscht die Regierungspartei »Einiges Russland«, aber mit ihr rechne ich nicht. Wir Kommunisten schlagen eine landesweite Steuerreform vor, weil gegenwärtig ein Großteil der Steuereinnahmen nach Moskau geht. Die Behörden in den Regionen, etwa die für Bildung oder Gesundheit, sind unterfinanziert, sie benötigen mehr Freiraum für Gestaltung. Die Lohnsteuer ist die größte Einnahmequelle des Staates, aber Gehälter und Beschäftigung sind niedrig. Wir haben immerhin erreicht, dass für Ärzte im Altai von Moskau 720 Millionen Rubel (rund 11,7 Millionen Euro, jW) extra bereitgestellt werden. Das ist eine beachtliche Summe, jeder Arzt hier erhält jetzt im Monat 10.000 Rubel (rund 160 Euro, jW) mehr. Diese Steuerreform haben wir bereits vorgelegt.
Sind das Gründe, warum die KPRF bei den Parlamentswahlen 2021 fast 20 Prozent erreicht hat?
Wir sind damals zum Beispiel in Altaidörfer gegangen, in denen noch nie ein Abgeordneter aufgetreten war. Uns war egal, ob 20 oder 120 Leute kamen – wir versuchten einfach, mit ihnen zu reden, ihre Probleme kennenzulernen. Ich bin sehr froh, dass die Bevölkerung hier den Kommunisten mehr als 30 Prozent der Stimmen gab, darunter meiner Frau. Sie hat sich auf Dorfmärkte gestellt und wurde erstaunt gefragt, ob sie die aus dem Fernsehen sei, die jetzt Flugblätter verteilt.
Ihre Frau und Sie haben Anfang 2019 die Bewegung »Für einen neuen Sozialismus« gegründet. Warum?
Ich bin seit Jahren in den großen russischen Fernsehkanälen als Experte aufgetreten und setzte mich dort für die Neuauflage des Sozialismus auf Grundlage unserer Erfahrungen ein. Er muss nach meiner Überzeugung demokratisch sein, und es muss mehrere Parteien geben, damit wir bei einem Wahlsieg nicht einschlafen. Zudem braucht es kleine Betriebe und – wie man in Deutschland sagt – einen Mittelstand; der Staat muss nicht Friseurläden oder Kantinen betreiben. Das kostet nur Steuergeld für Subventionen. Aber die Dinge, von denen das Leben der Bevölkerung abhängt, muss der Staat übernehmen. Da darf es nicht um Gewinn gehen, sondern darum, Güter und Dienstleistungen zur Verfügung zu stellen.
Leute, die auch so denken, haben in vielen Städten Klubs gegründet, in denen ich als geistiger und politischer Anführer gesehen wurde. Es gab keine Struktur, ich wurde vielmehr immer wieder zu Vorträgen eingeladen. Damals war ich Lehrstuhlleiter an der Moskauer Universität für Geisteswissenschaften und reiste praktisch an jedem Wochenende in eine andere Stadt. Das bedeutet: Die Leute erwarten, dass der Sozialismus auf legalem Weg in unserem Land zurückkommt. Selbst das Wort Sozialismus war bis dahin verpönt – und nun trat einer für dessen Wiederaufbau auf. So kam es, ganz spontan.
Danach begann 2020 die Repression: Hausdurchsuchung, 349 Tage Hausarrest und schließlich am 19. Mai 2021 der Prozess?
Ich nehme an, die Regierung war überrascht, als da jemand aus dem Nichts kam. Wir hatten kein Geld, keine Organisation, dennoch gab es bei meinen Auftritten Hunderte, sogar Tausende Zuhörer. Und da hieß es, der Platoschkin könne sich vielleicht entschließen, für das Präsidentenamt zu kandidieren. Das bedeutet in unserem Land schon etwas. 80 Prozent waren für Putin, alle anderen lagen bei zwei bis drei Prozent, lauter bekannte Namen. Und nun kam einer, den ein Jahr zuvor niemand gekannt hatte. Heute glaubt selbstverständlich niemand in Russland, dass ich als Wissenschaftler und ehemaliger Diplomat zu Massenunruhen aufgerufen habe. Der Vorwurf ist lächerlich.
Aber auch gefährlich. Am Tag der Verhandlung hatten Sie Ihre Sachen fürs Gefängnis gepackt und ins Gericht mitgenommen.
Die Staatsanwaltschaft hatte dafür plädierte, mich zu sechs Jahren Haft zu verurteilen. Deswegen kam ich mit Gepäck zur Urteilsverkündung. Ich bin den vielen tausend Menschen dankbar, die der Staatsanwaltschaft zu meinem Fall unzählige Briefe geschrieben haben. Ich kannte und kenne diese Leute nicht, aber auch jetzt noch passiert bemerkenswertes. In einem Altaidorf sagte mir ein Mann, den ich zum ersten Mal sah: »Wissen Sie, als das Urteil kam und Sie auf freien Fuß gesetzt wurden, habe ich geweint. Und ich bin 80 Jahre alt.«
Seit 2014 herrscht in der Ukraine Krieg, in den die russische Armee seit dem 24. Februar eingreift. Worin sehen Sie die Ursachen des Krieges?
Im Zerfall der Sowjetunion 1991. Wir schätzten das damals nicht richtig ein, aber die UdSSR war ein einzigartiger Staat. In ihr lebten Letten und Jakuten, Turkmenen und Russen zusammen – Völker, die einst nie voneinander gehört hatten. Es gab Hunderte Sprachen, Millionen von Ehen zwischen den Völkerschaften. Jeder konnte in seiner eigenen Sprache lesen und schreiben, zudem sprachen alle Russisch – was nicht heißen soll, dass es höher als andere Sprachen gestellt wurde. Und es gab eine gemeinsame Geschichte, im Großen Vaterländischen Krieg kämpften alle füreinander – die Kasachen für Moskau, die Russen für Kiew. Die Unterschiede interessierten nicht. Der Zerfall war – da hat Putin recht – eine Katastrophe, aber die Führungen in den einzelnen Republiken wollten sich profilieren. Die neuen Regimes betonten alles, was von Russland trennt.
Die Ukraine in besonderem Maß?
Dort sind die Nazikollaborateure und ihre Nachkommen stark. Die ersten Denkmäler für den Nationalistenführer und Hitler-Fan Stepan Bandera wurden nicht 2014 aufgestellt, sondern bereits 1991. Präsident Wiktor Juschtschenko verlieh ihm 2010 den Titel »Held der Ukraine«. Die Bandera-Leute haben nicht nur Juden umgebracht, sie haben wahrscheinlich auch auf meinen Großvater mit deutschen Waffen geschossen. Er kam als einer von drei Männern 1945 in mein Heimatdorf zurück, mehr als 300 kehrten aber nicht zurück. Wie kann ich, selbst wenn ich nicht Kommunist wäre, solche Ehrungen hinnehmen? Jahrzehntelang feierten die Menschen in der Sowjetunion und ihren Republiken den 9. Mai als Tag des Sieges. In der unabhängigen Ukraine wurden die Veteranen der Roten Armee dagegen mit den ehemaligen Mitgliedern der SS-Division »Galizien« gleichgestellt.
Wilhelm Liebknecht hatte recht, als er sagte, im preußisch-österreichischen Krieg von 1866 habe der »dressierende Schulmeister« gesiegt. In den Schulen der Ukraine wurde nach 1991 ein antirussischer Stil gepflegt. Ich habe mir Schulbücher zur Geschichte angesehen. Nach ihnen haben die Russen im Zarenreich wie in der Sowjetunion stets versucht, das ukrainische Volk zu unterjochen. Oder dort steht: 1941 begann der deutsch-sowjetische Krieg auf ukrainischem Boden. Dazu muss man wissen: Die sowjetische Ukraine und Belarus wurden 1945 zusammen mit Russland Gründungsmitglieder der Vereinten Nationen, weil die ganze Welt, vor allem auch die USA, damals anerkannt haben, welch bedeutende Rolle diese Länder bei der Befreiung Europas vom Hitlerfaschismus gespielt haben. Heute wird im Westen – nicht bei den linken Parteien – die Losung ausgegeben: Nie wieder Sowjetunion. Wenn sich Russen, Weißrussen und Ukrainer wieder zusammentun, dann besteht die »Gefahr«, dass die Sowjetunion wiederaufersteht. Daher wird alles unternommen, um insbesondere Russen und Ukrainer voneinander zu trennen.
Warum begann dieser Krieg gerade 2014?
Die konkrete Ursache war, dass die damalige Regierung der Ukraine, die heute aus unverständlichen Gründen als prorussisch gilt, entschieden hatte, ein Freihandelsabkommen mit der EU anzustreben. Daraufhin wurden die Konzernchefs der Ukraine bei Präsident Wiktor Janukowitsch vorstellig und fragten ihn, ob er wahnsinnig sei. 80 Prozent ihrer Produktion gingen nach Russland – ein Freihandelsabkommen mit dem Westen würde bedeuten, die Betriebe zu schließen. Als Janukowitsch erklärte, er werde solch ein Abkommen nicht abschließen, war das Anlass für die prowestliche Opposition, mit Parolen wie »Man hat uns betrogen«, »Wir wollen nach Europa« oder »Wir wollen Visumfreiheit« auf die Straße zu gehen. Letzteres ist ja berechtigt, wir sind auch für Visumfreiheit zwischen Russland und der EU. Um das Jahr 2000 herum haben wir dazu Gespräche mit Brüssel geführt. Aber die Deutschen waren mit der Begründung dagegen: »Ihr seid zu groß.« Das war es mit der Reisefreiheit.
Am 30. November bezeichnete der Bundestag in einer Erklärung die Hungerkrise in der Sowjetunion 1932/1933 als Völkermord an den Ukrainern. Was sagen Sie als Historiker dazu?
Ich schäme mich für die Bundesrepublik, denn ich gehe davon aus, dass es im Bundestag ehrliche Leute gibt. Das ist Teil dieser schwarzen Legende, wonach alles Unheil in der Ukraine und anderen Staaten von den Russen gebracht wird. Damals, 1932, fand die schwierige Kollektivierung der Landwirtschaft statt. Sie war in Russland, in der Ukraine und in Kasachstan von Widerstand begleitet. So versuchten zum Beispiel die Großbauern, die enteignet wurden, ihre Rinder zu schlachten, um sie nicht den Kolchosen zu übergeben. So kam es zur sogenannten Fleischkrise. Die armen Leute aber, die sich zusammenschlossen, besaßen nichts – weder Boden noch Vieh. Die Lebensmittel wurden rationiert, und es gab eine Dürre. Es hatte solche Dürren schon zu Zarenzeiten gegeben, denn gerade die Südukraine ist zwar sehr fruchtbar, aber es gibt dort keine großen Flüsse und wenig Wasser, bis in der Sowjetunion die beiden Kanäle von der Wolga zum Don und vom Dnjepr auf die Krim gebaut wurden. Damit endeten die Hungersnöte. Die letzte geschah übrigens in der gesamten Sowjetunion 1946/1947.
Seit mehr als 20 Jahren behauptet nun die Ukraine, die Hungersnot 1932 sei von Kommunisten gegen die Ukraine veranstaltet worden, obwohl die Kollektivierung überall in der Sowjetunion stattfand und die Trockenheit alle südlichen Gebiete betraf. Es ist schon interessant, wie die Völker gegeneinander aufgewiegelt werden. 2003 bat uns die damalige ukrainische Regierung, in der UNO gegen Polen aufzutreten. Die polnische Regierung hatte nämlich erklärt, dass die ukrainischen Nationalisten 1943 in Wolynien etwa 100.000 Polen umgebracht haben. Die Ukrainer behaupteten daraufhin, Polen verfälsche die Geschichte und verlangten Unterstützung von Russland als Brudervolk. Der Westen versucht meines Erachtens heute, diese historischen Ereignisse umzudeuten – auch die Massenmorde in Wolynien, die mit Duldung der Deutschen stattfanden. In ukrainischen Lehrbüchern steht heute sogar: Schuld waren die sowjetischen Partisanen.
Ich frage mich, wie die Deutschen den Bandera-Leuten, die Tausende Juden ermordet haben, Glauben schenken können. Die SS hatte das organisiert, die Handlanger waren aber die ukrainischen Nationalisten. Wie kann man Leuten vertrauen, die – ich würde sagen – tollwütige Nationalisten zu Nationalhelden erklären? Ich hielt das nicht für möglich. Stellen Sie sich vor, Belgien würde erklären, Léon Degrelle (1906–1994, belgischer SS-Offizier, jW) sei ein guter Mann gewesen und man müsse ihm zu Ehren Straßen benennen. Das würde einen Riesenskandal geben. Aber in der Ukraine wird das akzeptiert, obwohl die Nationalisten dort viel mehr Blut an ihren Händen hatten als Degrelle und seine Leute.
Dieser Antrag im Bundestag reiht sich ein in eine ganze Kette. Denken Sie an die Einstufung Russlands als »Terrorstaat« durch das EU-Parlament am 23. November …
Das nenne ich auf gut deutsch eine himmelschreiende Sauerei. Am 2. Mai 2014 konnte ich nicht schlafen, weil damals in Odessa mehr als 40 Menschen bei lebendigem Leibe verbrannt wurden. Das war Terrorismus. Ich habe später einen Augenzeugen kennengelernt, der fliehen konnte. Er sagte mir: »Mich hat Lenin gerettet.« Die Erklärung: Als sich die Leute damals im ehemaligen Gewerkschaftshaus verschanzten, war er in einem Raum, in dem eine Lenin-Werkausgabe stand. Er steckte einige Bände unter seine Jacke, und als die sogenannten Freiheitskämpfer das Haus stürmten und ihn mit Eisenstangen niederschlugen, schützten ihn die Bücher und retteten ihm so das Leben. Er wurde aus dem zweiten Stock geworfen und hatte Glück, weil nur ein Bein gebrochen war. Es gibt aber auch Berichte, wonach versucht wurde, eine schwangere Frau mit einem Telefonkabel zu erwürgen. Warum versucht nicht wenigstens die Ukraine, das Verbrechen aufzuklären – vom EU-Parlament nicht zu reden? Das geschah mitten in Europa im 21. Jahrhundert.
Oder der Donbass: Nach UN-Angaben starben dort etwa 14.000 Menschen seit 2014. Was wollten die Menschen dort? Eine Volksabstimmung. Als die Ukraine im Dezember 1991 das Referendum über die Unabhängigkeit abhielt, schickte die Sowjetunion keine Kampfflugzeuge. Dabei hatten die Ukrainer das Gesetz, das den Austritt aus der UdSSR regelte, gebrochen. Wenn sie damals nicht mit uns zusammenleben wollten, warum verwehren sie denen, die nicht mit ihnen zusammenleben wollen, dasselbe Recht? Ich verstehe das nicht. Ich bin für gleiche Rechte der Völker und nicht dafür, dass nur diejenigen, die uns gefallen, Rechte haben. Die Kosovaren sind prowestlich, dürfen also aus Jugoslawien und Serbien austreten – die Russen im Donbass sind prorussisch, die dürfen das nicht.
Ende November wurde in Moskau von Wladimir Putin und Miguel Díaz-Canel, dem Präsidenten Kubas, eine Fidel-Castro-Statue aufgestellt. Welche Bedeutung hat das?
Putin hat Díaz-Canel mit »Genosse« angesprochen, und Duma-Präsident Wjatscheslaw Wolodin, der der Regierungspartei angehört, nannte Kuba ein »leuchtendes Beispiel«. Die kubanische Regierung stand zu Russland in der schwierigsten Situation seit dem Zerfall der Sowjetunion, obwohl wir ihnen unsere Unterstützung Anfang der 90er Jahren entzogen haben. Kuba hatte damals eine sehr schwere Zeit. Die Sanktionen gegen Russland sind im Grunde eine Kleinigkeit im Vergleich zu der Blockade, welche die USA und der Westen insgesamt gegen Kuba verhängt haben. Das bedeutet: Die Kubaner sind echte Freunde. Es gibt das Sprichwort, dass man wahre Freunde in der Not erkennt. Sie unterstützen uns jetzt moralisch und politisch, und wir zahlen – auch finanziell – das zurück.
Ich bin sicher, dass es auch in Deutschland, in England, in Frankreich oder Spanien Millionen von Menschen gibt, die gegen diesen blöden Nationalismus gegen Russland auftreten. Als ich in den 90er Jahren an der russischen Botschaft in Berlin arbeitete, lernte ich viele Deutsche kennen, die zusammen mit mir die Kriegsdenkmäler für sowjetische Soldaten geschützt haben. Ohne die Hilfe aus der deutschen Bevölkerung und auch aus verschiedenen Parteien hätten wir nichts erreicht, als man versuchte, sie zu beseitigen. Dass Nikolai Bersarin – 1945 der erste sowjetische Stadtkommandant von Berlin – seit 2003 wieder Ehrenbürger von Berlin ist, verdanken wir der PDS, aber auch Bündnis 90/Die Grünen. Die Jüdische Gemeinde sagte mir damals: »Herr Platoschkin, Sie brauchen uns nichts zu erzählen: Die sowjetischen Soldaten haben uns vor den Krematorien bewahrt.« Ich habe in Deutschland Tausende Menschen guten Willens, wie es früher hieß, kennengelernt. Natürlich macht Russland Fehler, und ich bin der letzte, der alles unterschreibt, was unsere Regierung macht. Aber in der wichtigsten Sache, dem Sozialismus und dem Frieden, müssen wir zusammenstehen. Und der echte Sozialismus ist nach meiner Meinung der, der auffordert: Proletarier aller Länder, vereinigt euch!
Nikolai Platoschkin (Jahrgang 1965) ist Historiker und war bis 2006 sowjetischer und russischer Diplomat. Er gründete 2019 zusammen mit seiner Frau Angelika Glaskowa die Bewegung »Für einen neuen Sozialismus«, wurde 2020 unter Hausarrest gestellt und ein Jahr später auf Bewährung verurteilt. Danach kandidierte seine Frau auf der Liste der KPRF erfolgreich für die Duma, Platoschkin ist seither ihr Mitarbeiter. Im Juli 2022 wurde sein Youtube-Kanal mit 700.000 Abonnenten gelöscht.
Nikolai Platoschkin wird Referent der XXVIII. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz am 14. Januar in Berlin sein. Infos: jungewelt.de/rlk
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