Gegründet 1947 Dienstag, 19. März 2024, Nr. 67
Die junge Welt wird von 2767 GenossInnen herausgegeben
Marx 200

Marx 200

Am 5. Mai 1818 wurde Karl Marx geboren – gemeinsam mit seinem Freund Friedrich Engels sollte er Weltgeschichte schreiben. Marx lebte in der Zeit des entstehenden Kapitalismus. Die Analyse der Entfesselung der Produktivkräfte bildet sein wissenschaftliches Hauptwerk. Die Überwindung dieser zutiefst unvernünftigen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung war das Hauptinteresse des Politikers und Revolutionärs.

  • · Hintergrund

    Widerspruch und Dialektik

    Das Gesetz vom Widerspruch muss auch auf den Marxismus Anwendung finden
    Wolfgang Fritz Haug
    eq.jpg
    In seiner listigen Befreiung durch Herakles scheint die Potenz des Marxismus auf, mit Widersprüchen zu operieren — der an den Felsen gekettete Prometheus (Ölbild von Antonin Prochazka, 1911)

    In diesen Tagen erscheint das Heft Nummer 329 der Zeitschrift Das Argument unter dem Titel »Marx 200 und Achtundsechzig 50« mit Beiträgen von Peter Jehle, Frigga Haug, Klaus Weber und vielen anderen. Wir veröffentlichen daraus mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber den Beitrag von Wolfgang Fritz Haug »Widersprüche des Marxismus« – leicht gekürzt und unter Weglassung weiterführender Fußnoten. Das aktuelle Heft kann bestellt werden unter: www.argument.de (jW)

    Seit der Frühzeit des Marxismus ist immer wieder gefordert worden, diesen seinen eigenen Grundsätzen entsprechend zu begreifen. Im folgenden werde ich diesem Anspruch dadurch zu genügen versuchen, dass ich den Marxismus von dem Standpunkt aus begreife, den Marx seine »dialektische Methode« nannte.

    Bereits Henri Lefebvre hatte dazu angesetzt, »die lebendigen und gelebten Widersprüche, d. h. die Dialektik« des Marxistseins zu denken, und Adam Schaff mahnte 1978, diese Dialektik werde »leider zumeist ignoriert«. Aber wie ist sie zu verstehen? Es kann hier nicht um einen einseitig deterministischen Ansatz gehen, denn die geschichtsmaterialistisch verstandene Determination wirkt nie unvermittelt. Sie resultiert aus der Wechselwirkung von weltverändernder Praxis mit der zu verändernden Wirklichkeit. Dieses Verhältnis ist ein gleichsam polemisches, eines der Gegensätze und kann, »wie alles, was mit Konflikt, Zusammenstoß, Kampf zusammenhängt, ohne materialistische Dialektik keinesfalls behandelt werden« – so hat es der marxistische Dichter-Philosoph Bertolt Brecht 1956, ein halbes Jahr vor seinem Tode, notiert. Mit diesem Gedanken stand Brecht nicht allein. Auf eine Umfrage aus dem Vorjahr, 1955, antwortete er: »Die Lektüre, die im vergangenen Jahr den stärksten Eindruck auf mich gemacht hat, ist Mao Tse-tungs Schrift ›Über den Widerspruch‹.« Mao eröffnet diese Schrift mit der These: »Das Gesetz des Widerspruchs, der den Dingen innewohnt, oder das Gesetz der Einheit der Gegensätze, ist das fundamentalste Gesetz der materialistischen Dialektik.«¹

    Vorklärungen

    In meinem Beitrag will ich zeigen, dass dieser Satz auch für die Bewegungsformen des Marxismus in seiner Geschichte Gültigkeit hat. Dazu sind zwei Vorklärungen nötig, eine zum Begriff des Widerspruchs und eine zweite zum Begriff der Dialektik. Was Widersprüche betrifft, so halten viele sie für etwas zu Vermeidendes. Und sie haben recht, wenn sie damit meinen, bei Erklärungen und Handlungen Konsistenz, also Widerspruchsfreiheit, anzustreben. Wenn Marx von Widersprüchen redet, meint er jedoch reale, objektive Widersprüche. Diese sind mit Kants Begriff des »Realgegensatzes« vergleichbar. Das einfachste Beispiel bietet die Ware. Sie ist einerseits Gebrauchswert als konkreter Reichtum, andererseits aber, und dominant, ist sie Wert als abstrakter Reichtum, Geld in spe, in dem vom konkreten Reichtum abstrahiert ist. Ihrer Produktion liegt gesellschaftliche Arbeitsteilung zugrunde, zugleich erfolgt sie ungesellschaftlich. Anders gesagt, der Warenproduzent produziert für die Gesellschaft, aber wirtschaftet in die eigene Tasche. Diese und andere Eigentümlichkeiten fasst Marx in dem Satz zusammen, »dass der Austauschprozess der Waren widersprechende und einander ausschließende Beziehungen einschließt. Die Entwicklung der Ware hebt diese Widersprüche nicht auf, schafft aber die Form, worin sie sich bewegen können. Dies ist überhaupt die Methode, wodurch sich wirkliche Widersprüche lösen.«²

    Über diese Widersprüche muss jedoch selbstverständlich in logisch konsistenter, d. h. widerspruchsfreier Weise gesprochen werden. Die Doppeldeutigkeit des Wortes Widerspruch, dass es sowohl auf die Logik von Aussagen als auch auf die Struktur der ausgesagten Gegenstände sich beziehen kann, kommentiert Marx: »Dass das Paradoxon der Wirklichkeit sich auch in Sprachparadoxen ausdrückt, die dem common sense widersprechen, dem what vulgarians mean and believe to talk of, versteht sich von selbst. Die Widersprüche, die daraus hervorgehn, dass auf Grundlage der Warenproduktion Privatarbeit sich als allgemeine gesellschaftliche darstellt, dass die Verhältnisse der Personen als Verhältnisse von Dingen und [als; WFH] Dinge sich darstellen – diese Widersprüche liegen in der Sache, nicht in dem sprachlichen Ausdruck der Sache.« (MEW 26.3, 134)

    Der wirkliche Widerspruch lässt sich begreifen als die Einheit von Einheit und gegensätzlicher Spaltung. Nun mag man denken, es ist für Marx eben der Kapitalismus von Widersprüchen heimgesucht, und die Überwindung des Kapitalismus löst alle Widersprüche auf. Doch dann wäre nicht einzusehen, warum Marx im »Hegelschen ›Widerspruch‹« die »Springquelle aller Dialektik« sieht (MEW 23, 623, Fn. 41), die es nur aus der idealistischen Form in die geschichtsmaterialistische zu übersetzen gelte. Im Sinne dieser Übersetzung traf Mao die marxsche Auffassung genau, als er Widersprüche in allen Dingen und Erscheinungen annahm.

    Widersprüche sind jedoch nicht nur unvermeidlich wie eine ontologische Grundgegebenheit, sondern wirken auch als Motoren der Entwicklung. Vor Gericht, sagt Rosa Luxemburg, gilt der einzelne als überführt, wenn er sich in Widersprüche verwickelt, »die menschliche Gesellschaft im ganzen aber verwickelt sich fortwährend in Widersprüche, sie geht aber daran nicht zugrunde, sondern tritt umgekehrt erst dann in Bewegung, wo sie in Widersprüchen steckt«. Zur Bekräftigung lässt sie Hegel sagen: »Der Widerspruch ist das Fortleitende.«³

    Diesem Bewegungsantrieb, der ebenso schöpferisch wie zerstörerisch ausfallen kann, kommt eine Schlüsselrolle zu. Die Frage nach ihr führt zur zweiten Vorklärung. Sie betrifft den Begriff der Dialektik. Vorstellungen wie die, man könne die Hegelsche Dialektik einfach »umstülpen«, weil sie bei ihm »auf dem Kopf steht«, führen in die Irre. Denn während Marx zwar die idealistische, Hegelsche Dialektik »auf die Füße gestellt« hat, kann dieser Akt doch nicht als einfache Umkehrung begriffen werden. Die Übertragung hegelscher Denkformen auf geschichtsmaterialistischen Boden verlangt ihre Rekonstruktion von Grund auf, wobei »die Textur auseinandergenommen und nach einem völlig anderen ›Algorithmus‹ zusammengesetzt werden« muss.⁴ Meine jahrzehntelangen Untersuchungen zur marxschen Praktizierung der Dialektik im »Kapital« und die dabei gemachte Beobachtung, dass und wie Marx die Widersprüche und die Übergänge zu ihren Bewegungsformen durch Analyse der Praxis entwickelt, haben mich dazu geführt, sie als Dialektik der Praxis zu charakterisieren. Praxis meint hier das Verhalten in bestimmten Verhältnissen, die ihm seine Bedingungen vorgeben und die es modifiziert. Im Anschluss daran lässt sich zwischen theoretischer Dialektik und praktischer Dialektik unterscheiden. Sie bezieht sich auf menschliches Handeln, gerade auch auf organisiertes Handeln, unter dem Gesichtspunkt des Umgangs mit Widersprüchen oder der »Eingriffe in ein widersprüchliches Feld«.⁵ Hier kommt eine radikale Zweideutigkeit der Widersprüche in den Blick: Sie sind Gefahr und Chance in einem. Sie bedrohen die durch Organisation erreichbare Handlungsfähigkeit, während sie zugleich den Moment des möglichen Sprunges auf ein höheres Niveau anzeigen.

    Operieren mit Antinomien

    Eine Notiz Bertolt Brechts aus dem Jahre 1932 mündet in den Satz: Damit die Gegensätze nicht die Organisation spalten, »ist Operierenkönnen mit Antinomien nötig«.⁶ »Operierenkönnen mit Antimonien« bedeutet hier konkret, dass die kommunistische Partei, um nicht von Widersprüchen zerrissen zu werden, auch einander ausschließende Interessen verschiedener Sektoren ihrer Klassenbasis berücksichtigen muss (1932 vor allem Arbeitende vs. Arbeitslose). In diesem Sinn können wir im Rahmen der praktischen Dialektik zwischen aktiver Dialektik und passiver Dialektik unterscheiden. Die aktive Dialektik lässt sich mit der Kunst des Wellenreitens vergleichen, die passive mit dem Überrollt-Werden von der Welle. Für eine politische Führung, die immer neu eine Einheit von Unterschieden und zum Teil auch von Gegensätzen herstellen muss, kann die Kunst der aktiven Dialektik zur Überlebensfrage werden.

    Formt die praktische Dialektik ihre Begriffe im Blick auf Widersprüche, mit denen weltverändernde Praxis zu rechnen hat, so ist ihr Ernstfall eine konkrete Situation, die Ziele und Wege, Zwecke und Mittel in einen unvermeidlichen Gegensatz bringt. Praktisch geht es um die Stärkung der Fähigkeit, aktuelle oder potentielle Krisenerscheinungen in der Perspektive ihrer möglichen Abwendung oder sogar ihrer Nutzung als Anstoß für Erneuerung wahrzunehmen.

    Der Nutzen unserer Fragestellung für das marxistische Selbstverständnis erschließt sich, wenn man sich klarmacht, dass die Nachzeichnung der »Windungen und Wendungen«, der »Zickzackwege« des internationalen marxistischen Sozialismus sich in Millionen Details verlieren würde. Um dies zu verhindern, lenkt sie die Aufmerksamkeit auf die strukturellen Widersprüche des marxistischen Projekts, seine internen ebenso wie die äußeren, in seinem Verhältnis zu seinem gesellschaftlichen Umfeld sich ergebenden. Die internen Widersprüche des marxistischen Projekts lassen sich als Determinanten langer Dauer fassen, die in den wechselnden Konjunkturen in unterschiedlicher Weise virulent werden. Im Folgenden versuche ich, Aspekte einer Dialektik des Marxismus auf der Spur seiner konstitutiven Widersprüche zu skizzieren.

    Der Weg von der marxschen Theoriebildung bis zur tatsächlichen geschichtlichen Geburt des Marxismus umfasst beinahe ein halbes Jahrhundert. Die Möglichkeit blitzt auf in den Monaten vor der bürgerlich-demokratischen 1848er Revolution in Gestalt des »Manifests der kommunistischen Partei«, das Marx 1847 im Auftrag eines kleinen, in London gegründeten Geheimbunds, des »Bundes der Kommunisten«, verfasste. Doch diese Schrift, bis heute eine der am weitesten verbreiteten auf der Welt, verschwand für ein Vierteljahrhundert in der Vergessenheit. Der zweite Moment, nun schon mit geballtem geschichtlichen Potential, ereignete sich siebzehn Jahre später. Marx formulierte die Inauguraladresse, mit der die Internationale Arbeiter-Assoziation (IAA), später bekannt als Erste Internationale, sich mit einem Paukenschlag auf der geschichtlichen Bühne zu Wort meldete. Dies ist der Geburtsmoment der modernen Arbeiterbewegung, noch nicht des Marxismus.

    Philosophie der Praxis

    Die marxsche Theorie bildet sich aus der Kritik zeitgenössischer Konzeptionen und der in diesen weiterwirkenden historischen Traditionen. Für die Rezeption der marxschen Theorien durch die späteren Marxisten ergibt sich daraus ein Widerspruch, der, solange er unbemerkt wirkt, eine passive Dialektik in Gang setzt und die Schüler von Marx hinter Marx zurückwirft. Kritik ist antithetisch, und die These, der sie sich entgegensetzt ist die des Gegners. Der erste, der auf das Problem hingewiesen hat, ist Antonio Labriola. Er macht es an Engels’ »Anti-Dühring« fest. Dieses Buch entwickle »keine Thesen, es ist vielmehr antithetisch«. Was dabei verloren zu gehen droht, nennt Labriola die »Philosophie der Praxis«, das »Mark des historischen Materialismus«.⁷ Antonio Gramsci wird an diese Einsicht anknüpfen. Unter seinen Zeitgenossen ist es wiederum Brecht, der verstanden hat, was es ferner heißt, dass »die Einwände, die wir den Behauptungen unserer mächtigen Gegner entgegenstellen müssen, aus dem gegnerischen Wort- und Begriffsmaterial zu formulieren sind« (GA 21, 585). Wenn Marx beispielsweise sagt: »Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt« (MEW 13, 9), so ist dieser Gegen-Satz als Antithese von der These bestimmt, die er negiert. Daraus die Lehre zu machen, »das Sein determiniert das Bewusstsein«, bedeutet einen Rückfall in vormarxistische Metaphysik, denn es negiert unwillentlich genau das, worum es marxistisch geht, nämlich die weltverändernde Praxis.

    Der unerkannte Widerspruch erwischt die Marxisten gleichsam auf dem falschen Bein. Die Geschichte des Wortes »Marxist« führt auf den Gegensatz zwischen der marxschen Theorie-Praxis und den im Umfeld der entstehenden Arbeiterbewegung aktiven Gruppierungen. »Marxist« war ein Schimpfwort, das die Gegner von Marx in der Ersten Internationale gegen dessen Anhänger richteten, bis diese einige Jahre später daraus einen Ehrennamen machten. Bei der Gründung der Zweiten Internationale, sechs Jahre nach dem Tode von Marx, bekannten sich alle dort vertretenen politischen Organisationen der Arbeiterbewegung zum Marxismus. »Sie werden darüber verrückt werden, dass sie uns diesen Namen gegeben haben!« schrieb Engels (MEW 37, 235).

    Die Fusion einer wissenschaftlichen Theorie mit einer proletarischen Bewegung gebar den Marxismus als lebendigen Widerspruch. Auf diesen Widerspruch war der Marxismus nicht theoretisch vorbereitet, denn er verfügte im Verständnis der Arbeiterklasse über keinen Begriff für sein unabdingbares intellektuelles – weil wissenschaftliches – Element. Dieser unreflektierte Widerspruch zwischen Wirklichkeit und Selbstverständnis hat ebensoviel Schaden angerichtet wie das Fehlen einer marxistischen Theorie der Führung. Beides erarbeitete erst Antonio Gramsci in faschistischer Haft Anfang der 1930er Jahre, aber seine Texte kamen erst nach dem Zweiten Weltkrieg zum Tragen, weithin sogar erst nach dem Untergang des europäischen Staatssozialismus.

    Ein dritter Widerspruch ergab sich aus der Wechselwirkung des Marxismus mit seiner Umwelt. Die Marxsche Kapitalismustheorie verfügte, so großartig sie die allgemeinen Widersprüche des Kapitalismus und deren Bewegungsformen herausarbeitete, noch über keinen Begriff davon, wie ihr eigenes Praktisch-Werden den Kapitalismus verändern würde. Die dadurch mitbedingte historische Materialität einer sich schnell verwandelnden Welt entfernte die klassischen Texte des historischen Materialismus immer weiter von der aktuellen Realität. Die Revolution von 1917 potenzierte diese Distanz, da ihre Bedingungen den Marxschen Annahmen diametral entgegengesetzt waren. Gramsci nannte sie daher »Revolution gegen das ›Kapital‹«, nämlich im Widerspruch zur Marxschen Theorie. Dass Lenin sich dieser Distanz völlig bewusst ist, zeigt sein Vorwurf an Bela Kun, die Politik der Komintern zu kritisieren »auf Grund von Zitaten aus Marx, die sich auf eine der jetzigen ganz unähnliche Situation beziehen«.⁸ Dagegen bezeichnet Lenin nun »die konkrete Analyse einer konkreten Situation« als »die lebendige Seele des Marxismus«. Sie hat in jeder Epoche die Strategie der Arbeiterbewegung neu zu bestimmen. Auch der Umgang mit diesem Widerspruch kann zur Gefahr werden, wenn bei Stalin unter der »Vorherrschaft des Taktischen vor dem Theoretisch-Prinzipiellen« letzteres »zu einer Garnierung, einem Überbau, einer Verschönerung absinkt«, was den Niedergang beider besiegelte. So begriff es der späte Lukács.⁹

    Bereits der Zusammenschluss von wissenschaftlicher Theorie und Proletariat hatte den praktizierten Marxismus in Gegensatz zum theoretischen gebracht. Rosa Luxemburg hat dies als Rache der »von Marx theoretisch aufgedeckten sozialen Daseinsbedingungen des Proletariats in der heutigen Gesellschaft an den Schicksalen der Marxschen Theorie selbst« bezeichnet (GW 1, 368). Es waren aber die Erfolge, die den Marxismus Ende des 19. Jahrhunderts in seine erste große Krise stürzten, als der Gegensatz zwischen (tatsächlich erreichter) Reform und (ausbleibender) Revolution virulent wurde. In die Politik brechen derartige Widersprüche als Gegensatz zwischen Nahzielen und Fernziel ein. Luxemburg, die in ihrer Polemik gegen Bernstein 1899 diesen Widerspruch eher unreflektiert ausgetragen hatte, insistierte vier Jahre später auf der Notwendigkeit, die auseinanderstrebenden Pole auf eine Weise zusammenzuhalten, die der Realpolitik gibt, was der Realpolitik ist, aber das pragmatisch Nötige auf die Realpolitik hinaustreibenden Ziele hin auszurichten. Sie orientiert auf »revolutionäre Realpolitik«, um den »spannungsreichen Vermittlungszusammenhang zwischen Nah- und Fernziel« aufrechtzuerhalten und zu verhindern, dass die Partei inmitten der Erfolge in der Sozialpolitik ihre Identität verliert. Diese »Spannung zwischen Weg und Ziel«, dem jeweiligen Tag und einer letztlich ungewissen Zukunft, durchzieht die Geschichte des Marxismus.¹⁰

    Chancen des Gelingens

    Widersprüche dürfen nicht mit Fehlern verwechselt werden. Fehler ereignen sich im Behandeln von Widersprüchen. Wenn es, wie Mao sagt, »keine Dinge [gibt], die nicht Widersprüche in sich trügen« (ÜdW, 371), ist das Operierenkönnen mit Widersprüchen eine Bedingung für politisches Gelingen. Widersprüche sind zu fürchten, aber lediglich wie eine Probe, die man bestehen muss, um nicht unterzugehen. Wenn die Widersprüche aufgestauten Veränderungsbedarf anzeigen, stellt die Gefahr zugleich eine Chance dar. Darum gilt die Maxime, die Bertolt Brecht seinem Dreigroschen-Roman voranstellt, nicht nur im Blick auf die Widersprüche der Gegner des Marxismus, sondern auch für diesen selbst: »Die Widersprüche sind die Hoffnungen!« (GA 21, 139) Doch freilich ist die bloße Hoffnung »nur eine unbeständige Lust«, wie Spinoza sagt, weil wir »über den Ausgang in gewisser Hinsicht in Zweifel sind«.

    Wenn die Kunst des Wellenreitens einen lehrt, zur Spitze zu gelangen, ohne von den stets bedrohlich lauernden Widersprüchen herabgerissen zu werden, dann sind Antinomien, im antiken Sinne des Gehorsams gegenüber zwei gleichermaßen bindenden, jedoch einander ausschließenden Normen, widersprüchliche Wellen, die nicht geritten werden können, sondern uns nur herabreißen können. An Antinomien zu zerbrechen, ist das Thema, das dem politischen Drama der griechischen Antike seinen Charakter der Tragödie aufgeprägt hat. Ein vieldiskutiertes Beispiel bietet die Antigone des Sophokles. Antigones Bruder, Polyneikes, hat gegen Kreon, den Herrscher Thebens, sein Schwert erhoben. Er wird besiegt und getötet, die Bestattung seines Leichnams untersagt. Nun machen sich zwei gleichermaßen unantastbare Sittengesetze geltend: Das Staatsgesetz, verkörpert durch den Herrscher, verbietet die Bestattung des Aufrührers nach den Regeln des Kultes. Das kultische Sittengesetz aber verlangt von der Schwester des Toten in gleicher Unbedingtheit die Bestattung. Indem sie diesem Gebot gehorcht, verstößt Antigone gegen das staatliche Verbot und wird »lebendig eingemauert«. Nun zeugt die unversöhnte Antinomie Katastrophe um Katastrophe. Antigone begeht Selbstmord. Ihr folgt ihr Verlobter Haimon, der Sohn des Herrschers, in den Tod, diesem wiederum seine Mutter, Eurydike, die Gattin des Herrschers.

    Die Logik des Operierenkönnens mit Antinomien, die ansonsten Katastrophen nach sich ziehen, wird von Aischylos dem Herakles bei der Befreiung des Prometheus zugeschrieben. Prometheus, für den jungen Marx »der vornehmste Heilige und Märtyrer im philosophischen Kalender«, war lebenslänglich an einen Felsen des Kaukasus »angekettet«. Das war die Strafe dafür, dass er gegen das Verbot des Herrschers der Götter, Zeus, verstoßen und die Menschen im Umgang mit dem Feuer unterrichtet hatte, was der Entwicklung ihrer Kultur zu einem Großen Sprung verhalf. Aischylos zufolge weiß Prometheus, dass Zeus und mit ihm die ganze herrschende Ordnung untergehen werden. Auf Zeus’ Frage, wer diesen Untergang bewirken werde, lässt er den Gefesselten antworten: »Er selbst sich selber, weil die Torheit ihn berät.«

    Vorschein

    Den doppelten Bann bricht Herakles. Er befreit Prometheus auf Schelmenweise, die das Urteil des Herrschers Zeus buchstabengetreu respektiert und dennoch zugleich nicht nur den Gefesselten befreit, sondern auch die herrschende Ordnung und Zeus selbst vor dem Untergang bewahrt: Prometheus muss für alle Zeiten einen Ring tragen, in den ein Stück des kaukasischen Felsens eingelassen ist. Der marxistische deutsch-schwedische Schriftsteller Peter Weiss hat sich in seinem großen, dreibändigen Jahrhundertroman »Die Ästhetik des Widerstands« die herakleische Aufgabe gestellt, eine Erzählweise für die Antinomien des Marxismus im 20. Jahrhundert zu schaffen. Sie macht den Eindruck, er befolge auf literarische Weise Brechts Maxime des Operierenkönnens mit Antinomien, obgleich er sie nicht kennen konnte, da sie erst zehn Jahre nach seinem Tode – er starb bereits 1982, kurz nach Fertigstellung seines Werkes – publiziert worden ist. Peter Weiss lässt historische Exponenten der zerreißenden Gegensätze des damaligen Marxismus auf eine Weise zu Wort kommen, die in ihnen die unaufhebbaren Antinomien respektiert. Dabei taucht der Vorschein eines künftigen Marxismus auf, der gelernt hat, seinen Widersprüchen nicht nur die Stirn zu bieten, sondern ihnen ins Auge zu blicken. Klaus Holzkamp, der Begründer der marxistischen Kritischen Psychologie, hat 1983, in Anspielung an eine berühmte Formulierung von Marx gesagt: »Die Vorgeschichte des Marxismus ist noch nicht zu Ende.«¹¹ Hier nun scheint die Geschichte des Marxismus als die des befreiten Prometheus auf – wenngleich nur als literarisch-imaginäre Antizipation und im Gedenken an so viele Opfer.

    Anmerkungen

    1 Mao Tse-tung: Über den Widerspruch in: Ausgewählte Werke, Bd. I, Peking 1968, 365–408 (zitiert als ÜdW)

    2 Karl Marx u. Friedrich Egels: Marx-Engels Werke, Bd. 1–42, Berlin 1957 ff., hier Bd. 23, S. 118 (zitiert als MEW)

    3 Rosa Luxemburg: Gesammelte Werke, 5 Bde., Berlin 1970–1975, hier Bd. 5, S. 719 (zitiert als GW)

    4 Wolfgang Fritz Haug: Marx’ Lernprozess. Von den Grundrissen bis zu Marx’ französischer Übersetzung von Kapital I«. In: ders.: Dreizehn Versuche, marxistisches Denken zu erneuern, Hamburg 2005, S. 223–235, hier S. 227

    5 Wolfgang Fritz Haug: Für praktische Dialektik, S. 23. In: Das Argument 274, 50. Jg., 2008, H. 1, S. 21–32

    6 Bertolt Brecht: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Frankfurt am Main 1989 ff., hier Bd. 21, S. 579 (zitiert als GA)

    7 Antonio Labriola: Unterhaltungen über Sozialismus und Philosophie (1898). In: ders.: Drei Versuche zur materialistischen Geschichtsauffassung, hg. v. Wolfgang Fritz Haug, Berlin 2018, S. 172–280, hier S. 202 und 206

    8 Wladimir Iljitsch Lenin: Werke, Bd. 31, Berlin 1953, S. 154

    9 Georg Lukács: Gespräche mit Hans Heinz Holz, Leo Kofler und Wolfgang Abendroth (1966), Werke, Bd. 18, Bielefeld 2009, S. 349 f.

    10 Frigga Haug: Revolutionäre Realpolitik. In: dies.: Rosa Luxemburg und die Kunst der Politik, Hamburg 2007, 57–94, hier S. 62

    11 Klaus Holzkamp: »Aktualisierung« oder Aktualität des Marxismus? In: Aktualisierung Marx’, Argument-Sonderband 100, Berlin 1983, S. 53–64, hier S. 64

  • · Berichte

    Materialismus ohne Natur?

    Eine Veranstaltung zu Marx mit Kurt Bayertz in Hamburg
    Richard Sorg
    S 11.jpg
    »Noch nicht abgearbeitete Agenda« (Wandgemälde im »Demeure du Chaos«-Museum bei Lyon)

    Seit Ende 2017 existiert in Hamburg ein Arbeitskreis »Dialektik & Materialismus«. Er entstand als eine Art Graswurzelinitiative, ist interdisziplinär zusammengesetzt und tagt etwa einmal monatlich. Das Spektrum der bisher behandelten Themen ist vergleichsweise breit (eine unvollständige Auswahl: Dialektik-Einführung, Arbeiterklasse heute, materialistische Behindertenpädagogik, Zufall und Gesetzmäßigkeiten, Dialektik im Marxschen »Kapital«, Materialismuskonzepte, Rolle der Arbeit sowie eine Buchlesung in der Heine-Buchhandlung).

    Am vergangenen Samstag fand eine Veranstaltung mit dem emeritierten Münsteraner Philosophieprofessor Kurt Bayertz über sein 2018 erschienenes Buch »Interpretieren, um zu verändern. Karl Marx und seine Philosophie« (Verlag C. H. Beck) statt. Es unterscheidet sich stark von den meisten der in den letzten Monaten zum Marx-Jubiläum erschienenen Publikationen, weil es einen neuen, forschenden Zugang zum Werk von Marx versucht. Die erneute Befassung mit Marx hält Bayertz deshalb für lohnend, weil hier »eine noch nicht abgearbeitete Agenda formuliert« sei. Um dieser auf die Spur zu kommen, gelte es, vor dem Hintergrund der gewaltigen Rezeptionsgeschichte, die sich »wie eine Nebelwand vor die Originaltexte« schiebe, sich noch mal neu auf die von Marx behandelten Theorieprobleme einzulassen und dabei »dem Prinzip der wohlwollenden Interpretation« zu folgen, »ohne dass man Unklarheiten und Inkonsistenzen kaschiert«. Der Schwerpunkt seiner detaillierten Untersuchung liegt auf den philosophischen Voraussetzungen, wobei er sich nicht von dem durch Marx (wie auch Engels) ausdrücklich proklamierten »Abschied von der Philosophie« irritieren lässt, sondern die faktischen philosophischen Theorieelemente aufspürt, insbesondere diejenigen in der Traditionslinie von Hegel, aber auch z. B. von Aristoteles und natürlich von Feuerbach. Vor allem untersucht Bayertz diejenige Materialismusversion, die Marx seiner Konzeption eines »historischen Materialismus« zugrunde legt. Bei aller selbstverständlichen Voraussetzung, dass die Menschen Naturwesen sind und bleiben, interessiere Marx das spezifisch Materialistische in Gesellschaft und Geschichte im Zusammenhang und zugleich im Unterschied zur nichtmenschlichen Natur. Bayertz diskutiert dieses Spezifische des historisch-gesellschaftlichen Materialismus nicht zuletzt in einer kritischen Analyse des berühmten Vorworts zur »Kritik der politischen Ökonomie« von 1859. Durch die Untersuchung etwa der problematischen architektonischen Metapher in der sogenannten Basis-Überbau-Theorie gelangt er zu einem präzisierten Verständnis z. B. solcher Grundbegriffe wie »Produktivkräfte« (mit Akzent auf der Produktivkraft der menschlichen Arbeit statt einer Reduktion auf Technik) und »Produktionsverhältnisse« (deren Kern er in den Eigentumsverhältnissen als faktischer Verfügung über die Produktionsmittel sieht, unabhängig von den juristischen Verhältnissen). So wird etwa dieser für die Analyse der jeweiligen Gesellschaft und ihrer Ökonomie zentrale Begriff unter Rückgriff auf moderne Theoriemittel wie etwa die Systemtheorie und den Emergenzbegriff erläutert. Die politische Ökonomie versteht der Autor nicht als Verabschiedung des Historischen Materialismus, sondern als dessen Konkretisierung. Anders als manche Marx-Interpreten (z. B. Louis Althusser) bestreitet er, dass es einen tiefen Bruch gebe zwischen dem frühen und dem reifen Marx, ohne freilich dessen Entwicklung zu ignorieren. Zentral für das Buch ist der versuchte Nachweis einer spezifischen »Sozialontologie« in Marx’ Gesellschaftstheorie. Er knüpft dabei an der Einsicht von Marx an, dass es sich bei Ware, Wert oder Kapital um – sinnlich nicht direkt wahrnehmbare – soziale Beziehungen oder Verhältnisse handle statt um Dinge. Dies zu erfassen, brauche es Theorien und begriffliche Abstraktionsleistungen, so z. B. die Totalitätskonzeption von Hegel, unbeschadet der ausdrücklichen Ablehnung des Hegelschen Idealismus. Kurz, gerade durch eine erneute theoretisch-philosophische Analyse gelangt Bayertz zu neuen Einsichten bei der Interpretation des Werks von Marx.

    Hier setzte nun sein Vortrag in Hamburg ein. Seine zentrale These provozierte eine sehr lebendige, fruchtbare Debatte, die sich vor allem auf sein Verständnis eines spezifischen Marxschen Materialismus konzentrierte, der sich auf Gesellschaft (Kultur) als unterschieden von der Natur beziehe. Das Materialistische in der Gesellschaftstheorie sieht er darin: Entsprechend der Marxschen Formulierung im Vorwort von 1859 gehen die Menschen bei der für ihr Leben notwendigen Produktion zueinander Beziehungen ein, die als ein unbeabsichtigtes Resultat ihres Handelns Verhältnisse (»Produktionsverhältnisse«) hervorbringen, die, weil notwendig sowie ohne Willen und Bewusstsein hervorgebracht, objektiv-real, also »materiell« sind; die Gesamtheit der eingegangenen Beziehungen und Verhältnisse bildet eine jeweils spezifische ökonomische Struktur, eine Ordnung (die jeweilige Produktionsweise), die freilich erst zusammen mit dem politischen, juristischen etc. Überbau und den entsprechenden Bewusstseinsformen zusammen eine Gesellschaft konstituieren. Der Clou der Argumentation, die dann die heftige, kontroverse Diskussion provozierte: die eingegangenen Beziehungen oder »Relationen« der Individuen zueinander seien von Marx ohne »Relata« gedacht, also Beziehungen ohne Bezogenes, die als solche das für die Marxsche Gesellschaftstheorie spezifisch Materielle seien. Bayertz belegte das u. a. durch ein Zitat aus den »Grundrissen«, wonach die Gesellschaft nicht als Summe von Individuen zu verstehen sei, sondern als »die Gesamtheit der Verhältnisse zwischen ihnen« (MEW 42, 189). Es sei dies ein »entstofflichter«, ein »entnaturalisierter« Materialismus.

    Dem wurde in der Diskussion heftig widersprochen, indem auf die konstitutive, widersprüchliche (dialektische) Einheit von »Stofflichem« und »Formbestimmtem« bei Marx verwiesen wurde und darauf, dass zwar, wie schon erwähnt, das Neue bei Marx gegenüber der herkömmlichen politischen Ökonomie darin bestand, dass er Wert, Geld und Kapital als ein gesellschaftliches Verhältnis entschlüsselt habe, dass aber der Wert oder Tauschwert nicht ohne Gebrauchswert, also eine‚ »stofflich«-gegenständliche oder »naturbezogene« Seite existiere.

  • · Literatur

    Neues aus dem Kapitalozän

    Die Autorin Luise Meier wirft mit Marx einen Blick auf das Leben in Zeiten von Selbstoptimierung und Digitalität
    Erik Zielke
    RTR3901Q.jpg
    »Clickworker« sollen sich als Unternehmer fühlen, die ganz frei verfügen, wem sie ihre Arbeitskraft verkaufen. Diese Art von Unternehmertum verfolge die Betroffenen bis ins Schlafzimmer, schreibt Meier

    Bereits der erste Blick auf »MRX Maschine« macht neugierig. Im Klappentext wird die Autorin vorgestellt: Luise Meier, »geboren 1985 in Ostberlin«, »arbeitet als freie Autorin und Servicekraft«. Nicht allzu häufig kommt es vor, dass in den achtziger Jahren Geborene die Herkunft aus dem untergegangenen Staat DDR hervorheben. Das lässt vielleicht schon auf das historische Bewusstsein schließen, das sie in ihrem Buch dann unter Beweis stellt. Die eigene Tätigkeitsbeschreibung wiederum verdeutlicht, dass Meier nicht nur klarsichtige Beobachterin der Arbeitswelt ist, sondern sich auch über den eigenen Platz im real existierenden Neoliberalismus sehr wohl im klaren ist.

    In ihrem als Manifest bezeichneten Text begibt sich Meier, erfreulich genug, auf die Spur des Proletariats. Will sich kaum jemand noch der Arbeiterklasse zurechnen, gelingt ihr ein interessanter Vorstoß: Ist nicht in Zeiten ständiger Selbstoptimierung, der steten Arbeit an sich selbst, das Proletariat Teil eines jeden von uns, ja in uns? Um zu überleben, steckt in jedem von uns ein Unternehmer; Meier sucht den inneren Proletarier.

    Die Autorin beschreibt treffend unsere Lebenswirklichkeit, die sie mit Donna Haraway Kapitalozän nennt: der Versuch, die entscheidenden politischen Fragen scheinbar in die Verantwortung der Konsumenten zu übergeben, die fast unbemerkte Ersetzung der Stechuhr durch das I-Phone und der Ausschluss der »anderen«, der Opfer von Sexismus, Rassismus und Kolonialismus. Wo die Arbeit sich verändert hat, muss auch der Arbeitskampf anders aussehen. Streik bleibt ein probates Mittel, muss aber nach Meier neue Formen finden: die individuelle Arbeitsverweigerung, Sabotage, Verschwendung von Lebenszeit und das Einstellen der Arbeit an sich selbst. Ist das ein Rückzug? Vielleicht. »Nur ist es nicht unbedingt schlecht, in der Mitte eines tobenden Weltkriegs die Position der Kapitulation einzunehmen.«

    So wie der Marx im Titel des Buches auf das »a« verzichten muss, so beansprucht Meier mit ihrer Marx-­Ex egese in keinem Fall Vollständigkeit. Eine reine Lehre gibt es bei ihr ohnehin nicht. Sie erweitert, sie verknüpft und sie verkürzt, wo es ihr notwendig erscheint. Die Reaktivierung von Marxens Philosophie ist für sie nicht ohne feministische, queere und postkoloniale Theorie zu machen. Dass sie bei alldem aber nie den Ausgangspunkt ihrer Überlegungen aus den Augen verliert, muss man ihr zugute halten. Sie versteht den Einsatz für die Ausgestoßenen als Rehabilitation des »Lumpenproletariats«. Nicht zuletzt diesem gilt Meiers Solidarität.

    Ihre Energie und ihre Lust am Denken sind dem Text anzumerken. Von Adorno springt die Autorin zu Gil Scott-Heron, von Rosa Luxemburg zu Klaus Theweleit, von Walter Benjamin zu Ingeborg Bachmann. Die vielfältigen Referenzpunkte sind dabei kein Zeichen von intellektueller Eitelkeit, sondern Ausdruck von Kenntnisreichtum. Stakkatohaft liefert sie bedenkenswerte Thesen. Im besten Fall gelingen ihr dabei kluge, scharfe Sätze von aphoristischer Klarheit. Etwa wenn sie über den Zwang zur Selbstoptimierung bemerkt: »Wenn das Unternehmertum einen bis ins Schlafzimmer verfolgt, ist es sinnvoll, die Instrumente des Klassenkampfs nicht im Spind oder im Gewerkschaftshaus liegenzulassen«, oder wenn sie über Geschlechtergerechtigkeit ohne Berücksichtigung sozialer Realitäten formuliert: »Inwiefern kann die prekär beschäftigte Putzfrau mit prekärem Aufenthaltsstatus aber dasselbe meinen wie ihre Arbeitgeberin, wenn es heißt: ›Gleicher Lohn für gleiche Arbeit‹?« Mitunter sind es allerdings gerade solche Aussagen, die nur unzureichend kontextualisiert sind. Wo aber Luise Meier keine hinlängliche Herleitung liefert, vielleicht nicht liefern will, da bietet sie zumindest reichlich Diskussionsstoff und eine anregende Lektüre.

  • · Berichte

    Buch gegen die Ohnmacht

    Gemeinsame Interessen erkennen: SDAJ-Sammelband zum 200. Geburtstag von Karl Marx
    Susanne Knütter
    G7_Gipfel_2015_Demon_45498304.jpg
    Klassenkampf statt »Einzelkämpfertum«: Mitglieder der SDAJ bei Demo gegen den G7-Gipfel in München 2015

    Aus Anlass des diesjährigen 200. Geburtstages von Karl Marx hat die Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend (SDAJ), vertreten durch die beiden Herausgeber Lena Kreymann und Paul Rodermund, ein Buch veröffentlicht: »Eine Welt zu gewinnen. Marx, der Kapitalismus von heute und was wir tun können«. Man will so »mehr Menschen helfen, ihre eigenen gesellschaftlichen Interessen zu erkennen und daran ihr Denken und Handeln zu entwickeln«.

    Warum es hierzu erforderlich ist, sich mit dem Werk von Marx auseinanderzusetzen, umreißt Dietmar Dath im Vorwort des Bandes. In seiner Analyse des »Unrechts« aller bisherigen Gesellschaftssysteme habe Marx herausgearbeitet, dass der gesellschaftliche Reichtum im Kapitalismus den bisher höchsten Stand erreicht hat. Damit sei die Voraussetzung für die »Selbstemanzipation« des Menschen geschaffen. Diese Emanzipation könne jedoch nur erreicht werden, wenn die Unterdrückten die Macht über die Produktion erkämpften. Eine politische Bewegung, welche diese beiden Einsichten nicht hat oder bereit ist, aus ihnen Konsequenzen zu ziehen, wird, so Dath, nicht »die geringste Chance (haben), das Unrecht abzuschaffen«.

    Der Sammelband ist in drei Teile untergliedert. Im ersten Kapitel, geschrieben von Heiko Humburg, wird die Schilderung von Lebensstationen von Karl Marx und Friedrich Engels mit deren zentralen theoretischen Erkenntnissen verbunden.

    Im zweiten Kapitel beschäftigen sich verschiedene Autoren – genannt seien Werner Seppmann, Seta Radin und Patrik Köbele – mit dem »Kapitalismus unserer Zeit«. Dieser sei angesichts der Konzentration des Kapitals, der Veränderung der Arbeit und der Klasse der Lohnabhängigen sowie einer neuen Dimension der internationalen Beziehungen ein anderer als zu Marxens Zeiten. Außerdem werden die ökologische Krise, die Fluchtbewegungen der letzten Jahre und die Rolle Deutschlands marxistisch analysiert

    Ein Blick auf die zentralen Konflikte und widerstreitenden Interessen in jeder Geschichtsepoche hilft, die bisherige gesellschaftliche Entwicklung und die Welt, in der wir leben, zu verstehen. Im dritten Kapitel wird deshalb der Blick auf ausgewählte Klassenkämpfe des 20. Jahrhunderts und ihre geschichtlichen Bedingungen gerichtet. Beate Landefeld, Jürgen Lloyd, Arnold Schölzel und andere widmen sich beispielsweise der Oktober- und der Novemberrevolution, dem Ringen der Kommunisten um eine antifaschistische Strategie am Ende der Weimarer Republik und der unterschiedlichen Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg in der DDR und der BRD. Als Zugabe enthält das Buch Comics, gestaltet vom Berliner Illustrator Toni Püschel, welche die Texte klug und auf gut gemachte Weise ergänzen.

    Das Buch ist für alle, aber in besonderem Maße für diejenigen, »die nichts anderes kennen als die vermeintliche Allmacht des Monopolkapitals, als sich immer weiter verschlechternde Lebensbedingungen«. Damit meint die SDAJ die Generation der unter 30jährigen, die weder die breite Friedensbewegung noch den Kampf der IG Metall um die 35-Stunden-Woche in den 80er Jahren miterlebt hat. »Eine Welt zu gewinnen« will zeigen, dass der gemeinsame Kampf gegen Ausbeutung, Konkurrenz und Krieg so nötig ist wie eh und je und dass er auch gewonnen werden kann. Es will ein Buch gegen Ohnmacht und »Einzelkämpfertum« sein.

  • · Berichte

    Versprechen auf Versprechen

    Die neuen Streifzüge verhandeln »Marx«
    RTS1VG8G.jpg
    Systemfrage als Überlebensfrage: »Nicht nur die deindustrialisierten und pauperisierten USA, die Trump wieder ›groß machen‹ will, befinden sich in einer tiefgreifenden Krise«, schreibt Tomasz Konicz

    Auch die Wertkritiker äußern sich zum Marx-Jubiläum. Das neue Heft der Wiener Streifzüge ist schlicht »Marx« betitelt und möchte laut Editorial eine Alternative sein zu den anderen Gratulanten zum 200. des Philosophen, die ihn bloß wie »Fast Food«, als »Marx für Eilige« oder schlicht als »Marke« behandeln würden.

    Bei den Streifzügen denkt man gut marxistisch in längeren Zyklen und druckt einen Artikel von Franz Schandl aus dem Jahr 2000 über »Wertrevolutionen oder: Die Krise bei Marx« nach, der damals bezeichnenderweise in der letzten Ausgabe von Weg und Ziel (was für ein Titel!), dem theoretischen Organ der KPÖ (gibt es die überhaupt noch außerhalb der Steiermark?) erschien. Merke: »Das Geschäft ist immer kerngesund und die Kampagne im gedeihlichen Fortgang, bis auf einmal der Zusammenbruch erfolgt«( MEW 25, S. 502). Aber wann denn?

    Gute Frage. Für Schandl war schon zur Jahrtausendwende klar, dass wir »bereits in einer Desintegrationsphase« leben. Einerseits vegetiere die Mehrheit der Menschen unter katastrophalen Zuständen, während andererseits »das Kapital und seine Apologeten unablässig das Märchen der weltweiten Modernisierung hin zu Freedom and Democracy predigen«.

    2018 formuliert Tomasz Konicz »Die Systemfrage als Überlebensfrage«. Das ist zwar nicht neu, aber dringlicher als früher, da bei näherer Betrachtung sich die imperialistischen Blöcke neu formieren, die USA »pauperisieren« und die systemische Überproduktionskrise »Deindustrialisierung, Verschuldung, Finanzblasen, Erosion der Mittelschicht« zeitigt. Das heißt, die Kriegsgefahr wächst jeden Tag, allerdings völlig »unabhängig vom gesellschaftlichen Stand des Massenbewusstseins«. Das ist das alte Problem seit mindestens 1968. Man könnte es auch so sagen: »Der Kapitalismus organisiert sich heute zunehmend von Versprechen auf Versprechen, die wiederum von neuen Versprechen abgelöst werden«, wie Franz Schandl in einer Buchrezension anmerkt. Da geht es um Michael Betancourts »Kritik des Digitalen Kapitalismus«. Verdammt, den gibt es ja auch noch! An anderer Stelle schreiben Schandl und Petra Ziegler: »Die Frage Was tun? ist so gut, wie die vorschnellen Antworten schlecht sind«.

    Eine These am Rande von den beiden: »Das gute Leben kann nie und nimmer Abfallprodukt eines zerstörerischen Wirtschaftens sein. Der Raubbau an Mensch, Tier und Natur ist zu beenden.« Sie meinen: »Dabeisein ist gefährlicher als Dagegensein.« In den nächsten Streifzügen geht es übrigens um »Haben«. (jW)

  • · Berichte

    Papakind par excellence

    Eva Weissweilers neue Biographie über »Lady Liberty«, Marx’ jüngste Tochter Eleanor
    Klaus Gietinger
    57476828.jpg
    »Man fiebert mit ihr«: Eleanor Marx (1855 – 1898)

    Als seine dritte Tochter Eleanor 1855 im Elend von London-Soho zur Welt kam, schrieb Karl Marx seinem Freund Friedrich Engels bedauernd, das Neugeborene sei leider nur vom »Sex par excellence«. Drei Monate später starb der geliebte achtjährige Edgar, genannt Musch. In der engen Zwei-Zimmer-Wohnung herrschte Weltuntergangsstimmung. Marx verhätschelte seine jüngste Tochter, sie wurde zum Papakind par excellence. Ein Jahr später gelang mit Engels’ Hilfe und einer Erbschaft der Aufstieg in ein besseres Viertel. Eleanor, genannt Tussy (was damals noch kein Schimpfwort war), entwickelte sich prächtig.

    Jenny und Karl Marx ließen ihren Töchtern viel Freiheit, unterrichteten sie. Tussy begeisterte sich mit sechs für Abraham Lincoln und die Sklavenbefreiung, bot in einem Brief ihre Hilfe an. Mit 14 besuchte sie Engels, den General, und dessen Lebensgefährtin, die irische Proletarierin Lizzy Burns, in Manchester, begeisterte sich für Lizzys Freiheitskampf, fuhr mit beiden nach Irland, erlebte gewaltige Demonstrationen und Polizeigewalt. Sie war 16, als sie ihrer Schwester Jenny in Bordeaux zu Hilfe kam; deren Mann Charles Longuet fand den Kampf für die Kommune wichtiger als Weib und krankes Kind. Die drei Schwestern flohen, wurden verhaftet, kamen wieder frei. Auf der Überfahrt schäkerte Tussy rauchend mit Matrosen.

    Alle drei Schwestern verliebten sich in Franzosen, Kommune-Kämpfer im Londoner Exil. Marx sah dies gar nicht gern. Als sich Tussy in einen feschen Chronisten der Kommune, Prosper-Olivier Lissagaray, verkuckte, kam es zum Kampf mit dem Vater.

    All das schildert Eva Weissweiler in ihrem kurzweiligen Buch »Lady Liberty«. Die Schriftstellerin, Historikerin und Musikwissenschaftlerin hat ihre 2002 erschienene Tussy-Marx-Biographie umgeschrieben und aktuellste Forschungen aufgenommen, so dass praktisch ein neues Werk entstanden ist. Vieles ist dramaturgisch gestrafft, die Kapitel sind neu strukturiert. Manches ist schärfer, anderes moderater formuliert. Nebenepisoden, besonders aus der irischen und russischen Untergrundszene, sind weggelassen, weil sie den Fluss bremsten.
    Anderes wurde neu eingefügt, die Beziehungstragik zurückgefahren. Tussy spricht mehr als Autorin, Übersetzerin und Politaktivistin. Dabei halfen Weissweiler alte sozialistische Zeitungen, englische und deutsche, die 2002 kaum zu bekommen waren und jetzt online zugänglich sind. Hintergründe des amerikanischen Bürgerkriegs, der Pariser Kommune und der Entstehung des englischen Frauengewerkschaftswesens sind deutlicher herausgearbeitet. Weitere Ergänzungen lieferten Publikationen wie eine von Angelika Limmroth und Rolf Hecker bestens edierte Briefausgabe (»Jenny Marx, Die Briefe«, erschienen 2014 bei Dietz, Berlin) oder die japanisch-englisch-deutsche Dokumentation von Izumi Omura u. a. zur Herkunft Fredericks, »Karl Marx is my father« (Tokio 2011, mit den Testamenten von Engels und Tussy). Ein rundum spannendes Buch auf dem Stand der Forschung. Man fiebert mit Tussy.

    Der Vater nimmt sie 1873 mit zur Kur nach Karlsbad, um sie abzulenken. Tussy versucht sich selbständig zu machen, wird Lehrerin an einem Internat (Boarding-school) für viktorianische Mädchen. Mit 19 fängt sie als Übersetzerin an. Sie wird – nie richtig anerkannt – viele bedeutende Werke, auch das Wichtigste ihres Vaters, übersetzen, als Korrespondentin arbeiten, die Kinder ihrer Schwestern betreuen. Schauspielerin will sie werden, und kämpft gegen die Missachtung der Frauen auch in der sozialistischen Bewegung. Die enge Beziehung zu Old Nick (Papa Marx) ist ihr immer wieder im Wege. Sie lernt George Bernard Shaw kennen, frisst sich, wie ihr Vater, im Reading Room des British Museum fest, leidet unter Ohnmachtsanfällen, Magersucht, Depressionen. Schwester Lauras Kinder sterben, schließlich die Mutter, Schwester Jenny und 1883 der Vater.

    Dann lernt sie Edward Aveling kennen, eine Art Mephistopheles, verheiratet, immer blank, der sie ausnutzt, betrügt und von dem sie nicht loskommt. Sie versucht, das Werk ihres Vaters fortzusetzen, wird zur bejubelten Agitatorin, bewegt die Arbeitermassen, besonders die Arbeiterinnen, bezeichnet sich als Jüdin, reist mit Wilhelm Liebknecht und Aveling in die USA, wo man sie als »Lady Liberty« bewundert, kämpft um das Erbe ihres Vaters, für die Befreiung der Frauen, streitet sich mit Laura und ihrem Ersatzvater Engels, freundet sich mit ihrem verfemten Halbbruder Frederick an und wird doch nicht glücklich.

    Ein faszinierendes, leicht lesbares, nie langweiliges Buch über eine faszinierende Frau, deren Liebe zu ihrem Übervater und zu einem kleinen Teufel neben der Ignoranz auch der sozialistischen Männer die wirkliche Entfaltung ihrer Persönlichkeit verhinderten.

  • · Literatur

    Mit Marx gegen Marx

    Holger Wendt hat Methoden und Ergebnisse der »Neuen Marxlektüre« überprüft
    Klaus Müller
    Karl_Marx_001.jpg
    Manche lesen ihn, andere lesen ihn »neu«: Karl Marx

    Die »Neue Marxlektüre« versteht sich als Abgrenzung zum »dogmatischen Marxismus in den realsozialistischen Ländern«. Sie behauptet, die »orthodoxen Dogmatiker« hätten Marxens Lehre deformiert. Es ginge darum, zurückzukehren zu den Texten von Marx. Die Auffassung hat in linken Kreisen Anhänger. Zur rechten Zeit ist eine kleine, bemerkenswerte und notwendige Schrift erschienen, die sich dieses Problems annimmt und der viele Leser zu wünschen sind, weil sie einiges richtigstellt. Ihr Auto, Holger Wendt, prüft, ob die »Neue Marxlektüre« dem Anspruch gerecht wird, »die authentische Marxsche Lehre gegen Verfälschungen einer ebenso verstockten wie inkompetenten Orthodoxie« zu verteidigen. Der Streit zwischen ihr und der »ebenso eingängig wie unpräzise als Traditions- bzw. Arbeiterbewegungsmarxismus« abgekanzelten marxistisch-leninistischen Deutung des Marxschen Werkes dauert mittlerweile über fünf Jahrzehnte. Eine Annäherung ist nicht in Sicht. Die Gräben sind tiefer denn je.

    Irrtümer und Fehldeutungen der »Neuen Marxlektüre« sind zahlreich. Wendt nennt signifikante Beispiele: Etwa den Streit darüber, welche Forschungs- und Darstellungsmethoden Marx wählt. Die »neuen Marxleser« meinen, es sei ausschließlich die logische Methode, Holger Wendt sagt, Marx wende die dialektische Methode an. Sie schließe logische und historische Elemente ein. Er begründet dies am Beispiel der Wertformana­lyse. Sie ist keineswegs, wie die »Neue Marxlektüre« behauptet, ein logisches Konstrukt ohne historisch-empirische Relevanz. Wendt weist den Autoren der »Neuen Marxlektüre« eine fragwürdige, selektive Zitierweise nach. Er zeigt, wie sie Sätze aus dem Zusammenhang reißen und ihnen Bedeutungen unterschieben, die sie nicht haben. Was für die Wertformanalyse und die Geldwerdung im einzelnen gilt, trifft für die kapitalistische Produktionsweise als Ganzes zu: »Während die ›Neue Marxlektüre‹ das gegenwärtige Sein des Kapitalismus von seinem Werden und Vergehen trennt (…), betont Marx nachdrücklich den Zusammenhang von Entstehung, Existenz und Vergehen.« Das historische Element im Werk von Marx anzuerkennen, heißt nicht, das logische auszuschließen. Auch wenn Marx nicht von der logischen Methode spricht: Ohne Begriffsbestimmungen, Vergleiche, Analysen, Synthesen, Abstraktionen und Verallgemeinerungen ist sein Werk undenkbar. Es aber darauf zu reduzieren und ihm das Historische abzusprechen, ist ein Fehler der »Neuen Marxlektüre«. Dialektik – das ist auch die Einheit von Logischem und Historischem.

    »Zu den verbreitetsten Mythen der Neuen Marxlektüre« zähle, so Wendt, »die Behauptung, Marx habe den Gegenstand seines Hauptwerkes als die kapitalistische Produktionsweise in ihrem ›idealen Durchschnitt bestimmt‹.« Marx erwähnt den Ausdruck einmal im Zusammenhang mit den Beziehungen zwischen Wert und Preis. Das Spiel zwischen Angebot, Nachfrage und den Preisen ist für ihn banal. Spannend ist dagegen die Frage, was den Preis bestimmt, wenn Angebot und Nachfrage gleich groß sind und sich ihr Einfluss auf den Preis aufhebt. Der Preis im Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage entspricht dem Wert der Ware. Er ist das verborgene Wesen des Preises. Marx sucht das Typische, das Notwendige, das Allgemeine in den Erscheinungen. Das Äußere, die den Sinnen zugänglichen Abweichungen, interessieren ihn wenig. Er will das ökonomische Gesetz finden, das Innere, den »idealen Durchschnitt« eben. Auch der »ideale Durchschnitt« hat seine Geschichte. Er ist nicht nur das Gewordene, wie die »Neue Marxlektüre« ihn versteht.

    In klarer Sprache und überzeugend begründet Wendt, dass von der einst mit ungetrübtem Selbstbewusstsein verbreiteten These der »Neuen Marxlektüre«, Engels und der traditionelle Marxismus hätten Marx missverstanden, nicht viel geblieben ist. Wer Marxens Ansichten kennenlernen will, muss seine Texte lesen. Er muss es genau tun und einzelnes in die richtigen Zusammenhänge bringen. So geht Wendt vor, und so ist es gut. Das ist ein Vorzug seiner Schrift. Sie bietet dem Leser die Möglichkeit, den Originaltext und dessen Auslegung durch die »Neue Marxlektüre« zu vergleichen. Die Differenzen fallen auf. Die Autoren der »Neuen Marxlektüre« kennen sie natürlich. Um sich gegen Kritik zu immunisieren, lasten sie die Widersprüche Marx an. Er habe Fehler gemacht, ihm seien Ungenauigkeiten unterlaufen, seine Aussagen seien voller Ambivalenzen. Deshalb könne man die Richtigkeit der Interpretation nicht durch einen einfachen Vergleich mit dem Text herausfinden. Was Marx hätte sagen wollen oder sagen müssen, wissen allein die Autoren der »Neuen Marxlektüre«. Auf die Idee, dass sie selbst falsch liegen könnten, kommen sie nicht. Marx gegen Marx ausspielen – das ist der letzte Versuch, die eigene Fehlinterpretation zu retten. Holger Wendts bravouröse Polemik wird vermutlich die Autoren der »Neu en Marxlektüre« auch diesmal nicht nachdenklich stimmen oder gar zur Selbstkritik anregen. Eher ist damit zu rechnen, dass die katholische Kirche das Dogma von der unbefleckten Empfängnis Marias aufgibt.

  • · Hintergrund

    Krise und Revolution

    Der Wirtschaftskrach gehört notwendig zur kapitalistischen Produktionsweise. Über Karl Marx’ Krisentheorie
    Guenther Sandleben
    RTXBSZZ.jpg
    Die sogenannte wirtschaftliche Depression ist oft eine Folge von Überproduktion. Aktuell ist es vor allem die asiatische Stahlindustrie, deren Produkte allerorten präsent sind – Arbeiter auf einem Umschlagplatz in Taiwan (19.2.2009)

    Bis heute nimmt die Marxsche Krisentheorie eine einzigartige Stellung ein. Wie in keiner anderen Theorie werden die tieferen Wurzeln der Wirtschaftskrise thematisiert, die bis hinunter zur gewöhnlichen Warenproduktion reichen. Es liege an der modernen Art und Weise des Produzierens, dass es notwendig zu Krisen kommen muss. Mit dieser These rückte Marx den kapitalistischen Akkumulationsprozess mit seinen Produktions- und Verteilungsverhältnissen ins Zentrum der Analyse. Wirtschaftskrisen sieht er als Knotenpunkte. In ihnen konzentrieren sich die Widersprüche und spitzen sich zu, vorübergehend gleichen sie sich aber auch gewaltsam aus. Geld-, Kredit-, Banken- und Finanzmarktkrisen werden als besondere Phasen der Wirtschaftskrise aufgefasst. Wenn aber die Ursachen der Krise im kapitalistischen Kernprozess selbst stecken, kann es keine davon getrennte, äußere Krisenerklärung geben.

    Anders als die Marxsche Theorie gehen die übrigen Konjunktur- und Krisenlehren entweder von äußeren Faktoren aus, oder sie reduzieren das Krisenproblem auf Teilaspekte: auf zu niedrige Löhne (Unterkonsumtionstheorie), auf akkumulationsbedingt zu hohe Löhne (Profitklemmen-Theorie), auf Disproportionen und auf Überakkumulation. Hier ist schon angedeutet, dass selbst solche Krisentheorien, die vorgeben, an den Marxschen Überlegungen anzuknüpfen, nicht die Fülle der Krisenaspekte systematisch zusammenbringen, die Marx ausgeführt, zumindest aber angedacht hat.

    Negative Seite

    Die Einzigartige der Marxschen Krisentheorie besteht zudem darin, dass sie sich nicht auf die Klärung ökonomischer Funktionsmechanismen reduziert. Als Teil einer umfassenden Akkumulationstheorie kehrt sie die geschichtlichen Tendenzen der kapitalistischen Produktionsweise hervor. Die Krise wird als die äußerst problematische, negative Seite des Wirtschaftssystems thematisiert. Als ihr wichtigstes Symptom nennt Marx die Überproduktion: Das Zuviel an Lebensmitteln, Industrieprodukten etc. führe zu Hungersnot und Barbarei. Damit ist die paradoxe Situation ausgerückt, dass Elend nicht nur inmitten des Reichtums entsteht, sondern dass dieser Reichtum eine Masse von Menschen periodisch ins Elend stürzt, dass also das kapitalistische System unfähig ist, seinen Lohnabhängigen selbst eine bescheidene Existenz dauerhaft zu sichern. Produkte und Produktivkräfte würden vernichtet. Solche Zuspitzungs- und Zerstörungsprozesse sind nach Marx Ausdruck einer periodisch eintretenden, von Krise zu Krise weiter wachsenden Empörung der modernen Produktivkräfte gegen die modernen Produktionsverhältnisse, d. h. sie stehen für eine Zuspitzung des Klassenkampfes, der in Richtung Revolution dränge. Die Krisentheorie von Marx ist Teil seiner Revolutionstheorie.

    Eine von der allgemeinen Akkumulationstheorie losgelöste Krisenlehre ist von der Sache her gar nicht möglich, so dass Marx kein eigenständiges Werk über die Krise schreiben konnte. Seine Überlegungen dazu finden sich breit gestreut vor allem in seinen ökonomischen Schriften, wobei ich auf folgende aufmerksam machen möchte:

    – Manifest der Kommunistischen Partei, Marx-Engels-Werke, Bd. 4, S. 467 (Verbindung von Krisen- und Revolutionstheorie)

    – Das Kapital, Bd. I, MEW 23, S. 127 f. u. S. 152 (Möglichkeit der Krise) sowie S. 661 f. (Zyklizität der Krise)

    – Das Kapital, Bd. II, MEW 24, S. 185 f. (Periodizität der Krise)

    – Das Kapital, Bd. III, MEW 25, S. 251–270 (Krisenursachen) sowie S. 493 ff. (Kreditzyklus)

    – Theorien über den Mehrwert, MEW 26.2, S. 492–535 (Krisenbegriff, Möglichkeit und Notwendigkeit von Krisen).

    Nach wie vor diskutiert wird, inwieweit Marx angesichts einer fehlenden Gesamtdarstellung des Krisenprozesses überhaupt eine allgemeine Krisentheorie aufgestellt hat. Wenn man die verschiedenen Passagen zur Krise zusammenträgt, findet man entgegen mancher Bedenken allerdings eine genaue Beschreibung des Krisenzyklus und eine Theorie darüber, warum Krisen möglich sind, worin die Notwendigkeit ihrer Entstehung liegt und weshalb sie eine Periodizität von etwa sieben bis elf Jahren besitzen.

    »Geldhungersnot«

    Die tiefsten Wurzeln der Krise reichen bis hinunter zur Ware, die sich nach Marx von einem Produkt dadurch unterscheidet, dass sie einen Preis besitzt, worin sich die eigentümliche gesellschaftliche Form der Arbeit ausdrückt: Dabei ist der gesellschaftliche Charakter nur mittelbar gegeben als solcher der Privatarbeit, mit der Konsequenz, dass der gesellschaftliche Charakter der Arbeit erst nach deren Verausgabung, also in »geronnenem Zustand, in gegenständlicher Form« (Marx) ausgedrückt wird – in verschleierter Form als Gegenständlichkeit, als Geld. Dieser »Fetischcharakter der Ware« beinhaltet einen Kontrollverlust, da der gesamtgesellschaftliche Produktionszusammenhang unorganisiert und unkontrollierbar wird und koordiniert werden muss durch die »unsichtbare Hand der Märkte«, wie Adam Smith meinte, d. h. durch die Bewegung der Preise. Statt zu kontrollieren, stehen die Menschen unter der Kontrolle dieser Bewegung von Sachen, die sie selbst produzierten.

    Marx fand heraus, dass in diesem Fetischcharakter der Ware die Möglichkeit der Krise steckt. Der Warenproduzent muss sein Produkt, das für ihn keinen Gebrauchswert hat, verkaufen (Angebot), um dann die von ihm selbst gewünschten Waren mit dem erhaltenen Geld zu kaufen (Nachfrage). »Aber keiner braucht unmittelbar zu kaufen, weil er selbst verkauft hat«, hob Marx (MEW 23, S. 127) gegen die Harmonielehre der Klassischen Nationalökonomie hervor, denn die Zirkulation sprenge die zeitlichen, örtlichen und individuellen Schranken des Produktaustauschs.

    Marx erkannte noch eine zweite mögliche Ursache der Krise, die aus der Funktion des Geldes als Zahlungsmittel entspringt: Waren werden unter Geschäftsleuten gewöhnlich auf Kredit verkauft, so dass ein Verhältnis von Gläubiger und Schuldner entsteht. In diesem Fall realisiert die Ware des Verkäufers ihren Preis in einem privatrechtlichen Titel auf Geld, der – wie der Wechsel – zirkulieren kann, wodurch die Verkettung der Verhältnisse von Gläubiger und Schuldner besonders sichtbar wird. Reißt diese Kette von Zahlungen, weil einer der Schuldner pleite ist, fällt die ansonsten unauffällige Saldierung der Schuldenbilanzen fort. Marx nannte diese Störung »Geldkrise«, wie sie »als besondere Phase jeder allgemeinen Produktions- und Handelskrise« (MEW 23, S. 152) vorkommt. Plötzlich benötige jeder Geld als Zahlungsmittel, um seine eigene Schuld zu bezahlen. Das Kreditsystem schlage ins Monetarsystem um. Diese »Geldhungersnot« (Marx), die auch in der großen Krise von 2007/08 ein wichtiges Thema war, ist das auffälligste und dramatischste Phänomen der Krise: »Die Zirkulationsagenten schaudern vor dem undurchdringlichen Geheimnis ihrer eigenen Verhältnisse.« (MEW 13, S. 123)

    Schranken des Marktes

    Die kapitalistische Warenproduktion schafft nicht nur die Möglichkeit der Krise, sie bringt periodisch solche Krisen mit Notwendigkeit hervor. Finanzmärkte haben erst einmal wenig damit zu tun.

    Jede Krise ist zunächst nichts anderes als eine Überproduktionskrise; der Markt ist zu eng für die Produktion, er ist überfüllt. »Hätte«, wie Marx kritisch gegen die Gleichgewichtstheorie der Klassik formulierte, »die Erweiterung des Markts Schritt gehalten mit der Erweiterung der Produktion, there would be no glut of markets, no overproduction (so gäbe es keine Überfüllung des Marktes, keine Überproduktion, G. S.).« (MEW 26.2., S. 525)

    Marx hat den Zusammenhang von Produktions- und Markterweiterung an verschiedenen Stellen seiner Akkumulationstheorie aufgegriffen. Die konzentrierteste Darstellung findet sich im dritten Band des Kapitals (MEW 25, S. 254 f.), wo er im Anschluss an das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate dessen innere Widersprüche thematisiert und dabei auf den Widerspruch zwischen Produktion und Markt eingeht. Hier findet sich eine Skizze zur Notwendigkeit von Wirtschaftskrisen. Im Mittelpunkt steht das Verhältnis von »Konsumtionskraft« (Markt) und »Produktionskraft« (Produktion). Da Markt und Produktion zwei gegeneinander gleichgültige Momente sind, muss die Erweiterung des einen der Erweiterung des anderen keineswegs entsprechen, und Marx führt Gründe an, warum eine Ausdehnung des Marktes rasch von der Produktion überholt wird. Worin bestehen diese?

    Marx wusste natürlich sehr genau, dass kapitalistische Warenproduktion nur stattfindet, wenn Profit erzielt wird. Das Bedürfnis der Gesellschaft spiele in der Produktion nur insofern eine Rolle, als es als zahlungsfähige Kaufkraft zur Realisierung des Warenpreises und damit des Profits auftrete. Wäre hingegen die Befriedigung der Bedürfnisse der Zweck, fielen Produktion und Bedarf keineswegs notwendig auseinander. Denn die von Marx angesprochene »absolute Konsumtionskraft«, d. h. das Bedürfnis der Gesellschaft, würde keine Barriere für die Produktion darstellen.

    Ähnliches würde gelten, wenn die »Konsumtionskraft der Gesellschaft« durch deren »Produktionskraft« bestimmt wäre. Solange die Produktion genügend Bedürfnisse hervorbringen und fortentwickeln würde, hätte sie – von partiellen Störungen abgesehen – immer ihre Abnehmer.

    Wie die Ausführungen von Marx weiter zeigen, kommt die Krise dadurch zustande, dass Produktionskraft und Konsumtionskraft trotz der inneren Einheit gegensätzlich bestimmt werden: Die Produktionskraft sei – hinreichende Nachfrage unterstellt – nur durch die Masse und die Qualität der Produktivkräfte begrenzt. Demgegenüber sei der Umfang der Konsumtionskraft durch die Schranken des Marktes fixiert. Hier nun bringt Marx Restriktionen ins Spiel, die aus der kapitalistischen Art und Weise des Produzierens hervorgehen.

    Die erste Schranke, die Marx anspricht, ist »durch die Proportionalität der verschiedenen Produktionszweige« gesetzt. Diese Schranke ist notwendige Folge eines Akkumulationsprozesses, der, ohne gesellschaftlich organisiert zu sein, nur durch Preisbewegungen gesteuert wird. Ein übermäßig expandierter Produktionszweig wird nach gewisser Zeit die Produktion und mit ihr die Nachfrage nach den eigenen Produktionsvoraussetzungen einschränken. Bis zu unseren Tagen zeigt sich, dass die Produktionsmittelerzeugung im konjunkturellen Aufschwung übermäßig expandiert, um dann besonders stark zu schrumpfen.

    Die zweite von Marx erwähnte Schranke wird durch die »antagonistischen Distributionsverhältnisse« gesetzt. Er versteht darunter, dass Profite nur möglich sind, wenn die Lohnabhängigen mehr Werte schaffen, als sie an Lohn beziehen. Die Profite sind umso höher, je niedriger der Lohn im Verhältnis zum Mehrwert steht.

    In der Marxschen Krisenerklärung sind diese antagonistischen Verteilungsverhältnisse der Dreh- und Angelpunkt. Denn einerseits verengen sie den Spielraum des Marktes, da die Massenkaufkraft durch die Höhe des Lohns begrenzt wird. Dieses Verhältnis besitzt andererseits eine bedeutende Kehrseite, die uns zur dritten Schranke bringt: Ein im Vergleich zum Mehrwert vergleichsweise niedriger Lohn verschafft dem Kapital einen großen Akkumulationsspielraum, der mit der Entwicklung der kapitalistischen Produktion noch zunimmt. Je nachdem, in welchem Umfang er genutzt wird, wächst oder schrumpft die »Konsumtionskraft der Gesellschaft«. Als Schranke für seine vollständige Ausschöpfung nennt Marx in der zentralen Textpassage den »Akkumulationstrieb, den Trieb nach Vergrößerung des Kapitals und nach Produktion von Mehrwert auf erweiterter Stufenleiter« (MEW 25, S. 254). Je nach Existenz profitabler Anlagesphären nimmt der »Akkumulationstrieb« zeitweise zu, dann wieder ab. Die Periodizität spielt hier eine bestimmende Rolle.

    Zwischen Expansion und Kontraktion

    Marx hatte erkannt, dass der Akkumulationsprozess in Zyklen verläuft, die jeweils aus einer Reihenfolge verschiedener Phasen bestehen: Stagnation, Belebung, Prosperität, Überproduktion, Krise, Depression. Nach einem scharfen Rückgang (Depression) stabilisiere sich die Wirtschaft. Eine Belebung würde bald einsetzen, die in eine Phase lebhafter Nachfrage und Produktionstätigkeit (Prosperität) übergehe. Bald aber zeige sich, dass sich der Markt nicht rasch genug für die Produktion ausdehne. Die Phase der Überproduktion gehe in die Krise über, gefolgt von der Phase der Depression, worin Kapital in all seinen Formen massenhaft entwertet und Produktivkräfte stillgelegt oder vernichtet würden.

    Marx fand heraus, dass für die entscheidenden Zweige der großen Industrie ein Zyklus von zusammenhängenden Umschlägen mit einer Länge von etwa zehn Jahren existiere. Darin sah er »eine materielle Grundlage der periodischen Krisen, worin das Geschäft aufeinanderfolgende Perioden der Abspannung, mittleren Lebendigkeit, Überstürzung, Krise durchmacht«. (MEW 24, S. 185 f.)

    Jede Krise, so Marx, sei »Ausgangspunkt einer großen Neuanlage«. Für das Kapital entstehen hierdurch profitable Anlagemöglichkeiten, die den »Akkumulationstrieb« steigern, so dass der Akkumulationsspielraum mehr und mehr ausgeschöpft wird. Erweiterungsinvestitionen, verbunden mit neuen Technologien, eröffnen zusätzliche profitable Märkte. Sobald der Kapitalbedarf in den wichtigsten Produktionszweigen zum Erliegen kommt, schrumpft die entsprechende Nachfrage bei gleichzeitig gestiegener Produktionskraft. Einst profitable Anlagesphären verlieren an Attraktivität und lähmen den »Akkumulationstrieb«. Der Akkumulationsspielraum wird nicht länger genutzt. Absatzstockungen, Krise, Depression sind notwendige Folgen. Vernichtungs- und Entwertungsprozesse stellen das Gleichgewicht vorübergehend wieder her.

    Sobald der Ersatzbedarfzyklus des fixen Kapitals einsetzt, erweitern sich die Grenzen des Marktes, so dass allmählich ein weiterer Akkumulationszyklus in Gang kommt. »Ganz wie Himmelskörper, einmal in eine bestimmte Bewegung geschleudert, dieselbe stets wiederholen, so die gesellschaftliche Produktion, sobald sie einmal in jene Bewegung wechselnder Expansion und Kontraktion geworfen ist«, schrieb Marx mit Blick auf den sich stets wiedererzeugenden Zyklus. »Wirkungen werden ihrerseits zu Ursachen, und die Wechselfälle des ganzen Prozesses, der seine eigenen Bedingungen stets reproduziert, nehmen die Form der Periodizität an.« (MEW 23, S. 662)

    Kredite und Zinsen

    Marx wusste sehr genau, dass »die reale Krisis nur aus der realen Bewegung der kapitalistischen Produktion, Konkurrenz und Kredit, dargestellt werden (kann)« (MEW 26.2., S. 513) und dass der Kredit für die Dynamik des Akkumulationsprozesses eine herausragende Bedeutung besitzt. Denn sobald der »Akkumulationstrieb« durch profitable Geschäftsfelder angestachelt wird, werfen sich große Teile des gesellschaftlichen Kapitals auf diese Geschäftsfelder, ohne abwarten zu müssen, bis quasi in einer Hand genügend Geldkapital vorhanden ist. Da Geld rasch in Leihkapital und dieses für verschiedene Geschäftszwecke in Geldkapital verwandelt werden kann, entsteht eine zusätzliche, vom laufenden Reproduktionsprozess weitgehend unabhängige Nachfrage nach Waren. Marx bezeichnete das Kreditwesen als »die Triebfeder der kapitalistischen Produktion« oder als »Haupthebel der Überproduktion und Überspekulation im Handel«. Indem das Kreditwesen die materielle Entwicklung der Produktivkräfte beschleunigt und den Weltmarkt entfaltet, hilft es, wie Marx hervorhob, die »materielle Grundlagen der neuen Produktionsform bis auf einen gewissen Höhegrad herzustellen« und »die Übergangsform zu einer neuen Produktionsweise zu bilden«. (MEW 25, S. 457)

    Außerdem wäre die ganze Dramatik der Krise ohne Kredit gar nicht denkbar. Bricht der Kredit zusammen, bricht mit ihm auch die Nachfrage nach Waren ein, so dass die Grenzen des Marktes gerade dann besonders eng werden, wenn die Produktionskraft am weitesten entwickelt worden ist. Der Kredit steigert die gewaltsamen Eruptionen der Krise und beschleunigt, so Marx weiter, »die Auflösung der alten Gesellschaft«. (MEW 25, S. 457) Revolutions- und Krisentheorie gehen Hand in Hand.

    Zu Marxens Zeiten waren die Grundformen des Kreditsystems entwickelt, so dass praktisch alles, was er dazu ausführte, auch heute noch von großem Interesse ist. Um die kapitalistische Produktionsweise zu charakterisieren, stellte Marx den »kommerziellen Kredit«, den er als die »naturwüchsige Grundlage des Kreditsystems« bezeichnete, und den in Geldform ausgegebenen Bankkredit heraus. Daneben verwies er auf den »öffentlichen Kredit« und auf den privaten. Die Finanzierung von Unternehmen und Staaten über den Kapitalmarkt erwähnte Marx im Zusammenhang mit dem fiktiven Kapital, das in der Gestalt von Kredit- und Eigentumstiteln bis heute zentrale Bedeutung besitzt. Unter fiktivem Kapital verstand er, wie der Name schon sagt, nicht das in Produktion und Handel steckende wirkliche Kapital (»fungierendes Kapital«), sondern eine »regelmäßige Geldrevenue«, die als Zins erscheine, als läge dem ein wirkliches Kapital zugrunde. Bei der Staatsschuld sei dies offensichtlich, weil eine Schuld positiv als Kapital erscheine. Die Aktie stelle zwar »wirkliches Kapital vor«, das z. B. in Eisenbahngesellschaften angelegt sei, jedoch existiere dies wirkliche Kapital nicht doppelt, es erwecke nur den Schein der Verdoppelung. Und dieser Schein habe seine Grundlage im selbständigen Handel mit zinstragenden Wertpapieren.

    Schwindende Grundlage

    Während der Konjunkturphasen besteht wegen der sich allmählich beschleunigenden Akkumulation größerer Kreditbedarf, der meist reibungslos gedeckt wird, da die Krise inzwischen verdrängt ist und größeres Vertrauen in die Zahlungsfähigkeit besteht. Der Kredit expandiert, anfangs vor allem der kommerzielle, später auch der Bankkredit.

    Bald treten Absatzschwierigkeiten auf. Die Realisierung des Tauschwerts in Geld verzögert sich oder erweist sich gar als unmöglich. Die Geldkrise als Moment der Wirtschaftskrise setzt ein: Das Kreditsystem schlägt ins Monetarsystem um. Die »Geldhungersnot« lässt die Nachfrage nach Bankkrediten explodieren. Da die Bereitschaft der Geschäftsleute schwindet, Waren auf Kredit zu verkaufen, geht in der Krise der kommerzielle Kredit stark zurück. Diese Lücke muss der Bankkredit schließen. Die Nachfrage nach kurzfristigen Krediten lässt die Zinsen nach oben schnellen.

    Das von Marx formulierte allgemeine Gesetz der Krise darf nicht so verstanden werden, als würde das Auf und Ab der Konjunktur immer weiter gehen, ohne das System selbst in Gefahr zu bringen. Das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate verweist auf eine allmähliche Verschärfung der Krisen. Soweit die Profitmasse im Verhältnis zum Lohn zunimmt, erweitert sich der Akkumulationsspielraum, und damit steigt die Wucht, mit der die Ausweitung der Produktion erfolgt, wie umgekehrt die Stockung größer wird, sobald der »Akkumulationstrieb« nachlässt. Diese Elastizität wächst zusätzlich mit der Entwicklung der Produktivkräfte, also mit der anschwellenden Masse an Produktionsmitteln. Das sich immer weiter entwickelnde Kreditsystem verschärft die Bewegung in beide Richtungen, steigert die Überproduktion und damit die Katastrophen der Krise, bildet eine immer brüchiger werdende Grundlage für das Zahlungssystem, dessen Zusammenbruch die gesamte Wirtschaft in eine vorübergehende Schockstarre und die große Masse der Menschen ins Elend versetzen würde. Der Krisenzyklus mit der Krise als besonders dramatischem Höhepunkt erzeugt die Notwendigkeit zur Überwindung der alten und der Schaffung einer neuen Produktionsweise.

  • · Hintergrund

    Schätze und Sätze

    Entgegen allen Unkenrufen lässt sich die Gegenwart mit Karl Marx ganz wunderbar begreifen. Eine Rede zum 200. Geburtstag des Ökonomen und Philosophen
    Dietmar Dath
    S 12-13.jpg
    Es ist die Aufgabe der Linken, Marx’ ­Erkenntnisse vor dem Hintergrund der ­eigenen Schwäche durch die schlechten ­Zeiten zu tragen und sie im ­Gebrauch zu halten – Dietmar Dath am 5. Mai 2018 in Berlin

    Wir dokumentieren im folgenden die Rede, die der Schriftsteller Dietmar Dath am 5. Mai auf der jW-Veranstaltung »Karl Marx. Seiner Nützlichkeit wegen« aus Anlass von dessen 200. Geburtstag gehalten hat. (jW)

    Das schöne Programm von Frauke und Gina Pietsch heute abend heißt »Karl Marx. Seiner Nützlichkeit wegen«. Für alle, die keine großen Aktienpakete von Weltkonzernen, keinen umfangreichen Immobilienbesitz und überhaupt keine Gewalt über die Arbeit anderer ihr eigen nennen, könnte es auch heißen: »Seiner Notwendigkeit wegen.«

    Die Frage ist nämlich längst nicht mehr, ob die Sätze wohl Schätze sind, die wir von Karl Marx geerbt haben, ob sich darin Weisheiten und gar Wahrheiten entdecken lassen. Dass das so ist, wissen nämlich sowieso alle, auch die ihm feindlichst gesonnenen Wirtschaftswissenschaftler oder politischen Propagandakünstler, und die Besitzenden sowieso – die wissen es instinktiv, die brauchen ihn nicht zu studieren. Diejenigen zum Beispiel, die in diesem Land wie Drohnen über Städten kreisen, um aus der Abstraktionshöhe demographischer und ökonomischer Kenndatensätze, wie sie etwa die Bertelsmann-Stiftung im Projekt »Wegweiser Kommune« ermittelt hat, abzuschätzen, ob es sich lohnt, im sogenannten Speckgürtel der Metropolen Spekulationsgeschäfte mit Wohn- oder Wirtschaftsraum anzuzetteln, verhalten sich ganz selbstverständlich marxistisch, nämlich schlauer als die Sozialdemokratie, die immer noch so tut, als wären die politische Ökonomie und ihre Kritik ohne Verständnis- und Kampfkraftverlust auf den Stummelbegriff »Arbeitsplätze« zusammenzustreichen, während doch in Wirklichkeit das Privateigentum an den Lebensgrundlagen und die Gewalt über die Arbeit anderer das Thema ist.

    Kein Unbekannter

    Marx hat den Sozialdemokraten (und allen anderen, nicht nur Linken) gerade dies immer wieder erklärt, auch in direkter Konfrontation mit ihren programmatischen Verlautbarungen, in der 1875 geschriebenen »Kritik des Gothaer Programms« etwa. Dort setzt er das Grundeigentum und das Kapitaleigentum auf dem seinerzeitigen Stand so glasklar zueinander in Beziehung, dass sogar die heutige SPD oder die häuslebauenden baden-württembergischen Dunkelgrünen es sollten verstehen und die Verlängerung ins Heute denken können. Aber sie bleiben (oder sie stellen sich) dumm. Statt dessen, wie gesagt, sind es die Kapitalisten und Grundeigentümer, die sich verhalten, wie’s bei Marx steht, weil sie einfach wissen, dass das stimmt, was da steht – genau wie das, was der historische Materialismus über Ursachen und Chancen von Kriegen herausgekriegt hat, weshalb es ohne viel Aufhebens Eingang gefunden hat ins Denken und Handeln der Leute, die Kriege planen (oder, wie sie uns immer wieder glauben machen wollen, entgegen ihrem allerbesten Willen in Kriege schliddern).

    Wer immer heute Besitz und Privileg verteidigt oder räuberisch vermehrt, führt sich in zunehmendem Maße geradezu vulgärmarxistisch auf, hält sich also, weniger wertend formuliert, mit bemerkenswerter Treue an Einsichten und Aussichten, die Marx zuerst formuliert hat. Wenn man die Literatur auch nur überfliegt, die Besitzende und Bevorrechtigte für sich sprechen lassen, ihre populären Medien und gelehrten Abhandlungen, findet man immer wieder, dass sie oder zumindest ihre besser bezahlten Vor- und Nachdenkfabrikbeschäftigten Marx kennen, ja: dass sie ihm, so zwischen Krieg und Krise, nicht selten zwischen ihren Schlag- und Zischzeilen gerade das glauben, was ihren offiziellen Erklärungen für ihr abscheuliches Treiben am deutlichsten widerspricht.

    Wir verdanken diesem Mann zunächst die moderne Ideologiekritik, also die Erkenntnis, dass die durchschnittliche Geräuschkulisse einer Gesellschaft sehr genau weiß, wer in ihr die Musik bestellt und bezahlt. Wir verdanken ihm und seinem Freund und Förderer Friedrich Engels ferner überhaupt den schon erwähnten historischen Materialismus, das heißt die Wahrheit, dass sich die Menschheitsgeschichte nicht nach Ideen richtet, weder nach falschen noch nach richtigen, und dass man das wissen muss, wenn man sie neu organisieren und nach den richtigen Ideen fortsetzen will. Als Übersetzung von Annahmen über die Ideengeleitetheit der Weltereignisse in Taten kamen ja, bevor Marx für diese Übersetzung ein revolutionäres Wörterbuch anlegte, schon die wichtigsten bürgerlichen Errungenschaften in die Welt, zum Beispiel die heutzutage so gern als Propagandawerkzeug missbrauchten Menschenrechte: Erst glaubte man, theologisch, diese Rechtsform hafte den empirischen Menschen per himmlischem Dekret als evidente Gottesebenbildlichkeit an; dann sah man ein, dass das weder im Dschungel noch auf der Straße, auf Plätzen und in Gebäuden gilt, dann beschloss man, es wenigstens in der menschengemachten Welt durchzusetzen und veranstaltete zu diesem Zweck schließlich die Revolution, zunächst die Französische – Marx hat das, was da geschah, verallgemeinert, sein Materialismus ist ein über sich selbst aufgeklärter Idealismus, einer mit Zähnen, einer, der beißt, wenn man ihn reizt. Die Geschichte der Lehre von Marx ist die Geschichte der Überwindung des Missverständnisses von Geschichte überhaupt als Ideengeschichte.

    Ich will die Reihe der Grundverdienste des Jubilars nicht so lange fortsetzen, bis sie euch und mich erschöpft, verwiesen sei nur noch darauf, dass er den Irrtum des bürgerlichen Individualismus kritisch auflöste, »das Individuum« (was immer das sei) stehe im primordialen Gegensatz zur Gesellschaft. Marx wies statt dessen nach, dass jedes Individuum, sofern überhaupt eins existiert, von ganz bestimmten Gesellschaften erreicht, erzeugt, geformt und mit Raum zur Selbsterziehung oder Selbstverhunzung beschenkt wird, darunter der kapitalistischen, die man deshalb studieren muss, wenn man das vorhandene durchschnittliche Individuum eher mangelhaft findet und in den allermeisten Fällen einen armen Hund, dem es besser gehen und der besser (freier, reicher, klüger, offener) sein könnte.

    Marx hat seinen eigenen Rat beherzigt und diese Gesellschaft studiert. So gelang es ihm offenzulegen, wie sie ausbeutet, unterdrückt, ausgrenzt, einschließt, wie sie Menschen vereinzelt, vereinsamt, sie verkommen lässt. Weil man so nicht leben kann, hat Marx sich außerdem Gedanken darüber gemacht, wie eine andere, eine im Sinn des verwirklichten und entfalteten menschlichen Potentials eingerichtete Gesellschaft aussehen könnte, und dabei einen Kommunismus skizziert, der nicht fertig aus dem Backofen springt und den man auch nicht downloaden kann.

    Dieser Kommunismus hat unter anderem eine niedere Stufe, deren Aufgabe es ist, nach bestimmten, vernünftigen Regeln die Produktivkräfte und die Produktionsverhältnisse so zu entwickeln, dass eine höhere Stufe dieses Kommunismus möglich wird, worin dann »die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist«. Auf ihr wird dann auch praktisch der Widerspruch zwischen Einzelperson und Gemeinwesen aufgelöst, den Marx zuvor schon kritisch aufgelöst hat.

    Es stecken folglich, wie man sieht, anwendbare und tiefgreifende Wahrheiten in den Sätzen des Jubilars, und es stecken Weisheiten drin. Das kann man wissen, das fragt sich nicht. Was sich aber fragt, ist, wie viele und welche von diesen Wahrheiten und Weisheiten wir mit den derzeit schwachen Kräften aller, die überhaupt noch eine Welt ohne Ausbeutung, Unterdrückung, Ausgrenzung, Einkerkerung, Entfremdung und Asozialität wollen, durch diese blöden und bösen Zeiten tragen können, wie viele und welche wir weitergeben und was damit sonst geschehen soll.

    Eine einfache und, wie ich aus eigener Praxis bezeugen kann, sehr effektive Methode, die Wahrheiten und Weisheiten im Gebrauch zu halten, die wir Marx verdanken, ist die, sich ohne falsche Scheu an Leute zu wenden, die gerade an einem konkreten Fall (und am besten nicht passiv erleidend, sondern im Kampf) etwas für sie Neues über Ausbeutung, Unterdrückung, Ausgrenzung, Einkerkerung, Entfremdung und Asozialität gelernt haben, und ihnen dann zu zeigen, dass diese jeweilige Neuigkeit schon seit mehr als hundert Jahren bei Marx steht und auf sie wartet.

    »Schön, dass ihr doch noch gekommen seid«, ist ja der Standardgruß, der aufrichtigen Linken immer wieder aus diesen Texten winkt.

    Schrankenlose Verfügung

    In Hollywood zum Beispiel, wo der Bewusstseinsstand traditionell tief unterm technisch illusionistischen State of the Art dahinsiecht, hat man neuerdings mit Staunen und Augenreiben strukturelles Unrecht entdeckt, das heißt seltsame Phänomene zwischen Vergütungsgefälle und menschlicher Ekelhaftigkeit, zwischen Rassismus, Sexismus und anderen Arten der Verletzung bürgerlicher Gleichheitsgrundsätze.

    Da wundern sich dann ehrliche Gleichheitsbegeisterte, etwa Schauspielerinnen und Schauspieler, öffentlich darüber, dass etwas offenbar gar nicht stimmt, was diese Gesellschaft von sich verbreiten lässt, nämlich die Behauptung, Arbeits- und sonstige Sozialverhältnisse seien in ihr nicht mehr solche der persönlichen Machtausübung wie in der Sklaverei oder der Leibeigenenwirtschaft, sondern unterm Vorzeichen des Verkaufs von Arbeitskraft schön vertraglich geregelt, nicht mehr mit Peitsche und Halseisen, sondern mit dem Handy und dem Beeper, ganz versachlicht, in gerechtem Tausch, zum Beispiel: Schönheit und Talent gegen Reichtum, Drogenabhängigkeit und Ruhm.

    In Wirklichkeit ist die ganze schöne Pantomime von der Objektivität der Transaktion und dem Tod der subjektiven Willkür ein Ablenkungsmanöver, weil in dieser Gesellschaft schon die Definition dessen, was überhaupt sinnvolle, produktive Tätigkeit sei, ohne die Menschen ja gar nicht leben könnten, einer grauenhaften Wahnvorstellung gehorchen muss, nämlich dem Gebot, dass (bei allem Gelaber von flachen Hierarchien, Teams und gemeinsam erfüllten Aufgaben) immer nur diejenigen Arbeitsresultate als produktiv gelten, die irgendeinem Idioten mit Besitztitel (oder wenigstens einem Unteridioten mit verbrieftem Mandat von so einem Oberiditioten) Profit einbringen. Dass diese Gesellschaft zwischen beruflichem Verhältnis und sexueller Belästigung (bis hin zur Vergewaltigung) ein Kontinuum der schrankenlosen Verfügung gewisser Menschen über andere Menschen eingerichtet hat, steht wortwörtlich bei Marx in den »Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie«, die er 1857 und 1858 schrieb, und zwar in der stellenweise obszönen Sprache, die dem obszönen Sachverhalt entspricht, nämlich da, wo er von den modernen Wirtschaftsgelehrten sagt, sie hätten sich zu solchen Liebedienern des abstrakten besitzenden Schweinerkerls (ob das nun ein Fabrikant oder ein Filmproduzent ist, bleibt sich gleich) gemacht, dass sie, und nun wörtlich Marx: »demselben weismachen wollen, es sei produktive Arbeit, wenn einer ihm die Läuse auf dem Kopf suche, oder ihm den Schwanz reibe, weil etwa die letztre Bewegung ihm den dicken Kopf – blockhead – den nächsten Tag aufgeräumter für das Comptoir machen werde. Es ist daher ganz richtig – zugleich aber auch charakteristisch – dass den konsequenten Ökonomen die Arbeiter z. B. von Luxusshops produktive Arbeiter sind, obgleich die Kerls, die solche Gegenstände verzehren, ausdrücklich als unproduktive Verschwender kastigiert werden. Das fact ist, dass diese Arbeiter, indeed, produktiv sind, as far as they increase the capital of their master; unproductive as to the material result of their labour. In fact ist ja dieser ›produktive‹ Arbeiter gerade ebenso interessiert an dem Scheißdreck, den er machen muss, wie der Kapitalist selber, der auch den Teufel nach dem Plunder fragt.«

    Wer jemals die Luxusunternehmer, die Figuren, von denen er da redet, in Venedig auf dem Filmfest getroffen hat, weiß, dass das alles stimmt, inklusive Desinteresse an den Uhren und Klamotten, denen sie vordergründig ihr Vermögen verdanken.

    Geplantes Schliddern

    Wir hier dagegen, heute abend und hoffentlich darüber hinaus, sind sehr interessiert – nicht an Scheißdreck, aber doch an Schätzen, an Sätzen von Marx, die wir reproduzieren müssen, wo sie passen.

    Welche werden wir wie weitertragen, weitergeben können?

    Das hängt unter anderem davon ab, ob wir das überleben, was auf uns zukommt, nicht zuletzt die Kriege, mit denen jetzt gerechnet wird – einerseits von Investigativdenkern, die glauben, derartige Kriege würden kühl geplant, andererseits von immer wieder neu aus heiterem Himmel entsetzten Medienmenschen, die ganz ungekünstelt für wahr halten, was die Monopolbourgeoisien der vorhandenen paar souveränen Staaten und überstaatlichen Bündnisse erzählen lassen, nämlich, ich sagte es schon, dass sie in Kriege immer nur hineinschliddern. Die Wahrheit liegt, auch das wissen wir von Marx, zwischen Plan und Schliddern, aber nicht platt irgendwie in der Mitte, sondern dialektisch vermittelt: Diese Verbrecher planen kühl, bei Gelegenheit zu schliddern, mehr Plan brauchen sie nicht.

    Axel Springers Welt hat das vor rund einem Jahr, am 25. Mai 2017, aus gegebenem Anlass wieder einmal fein bestätigt: »Die Staats- und Regierungschefs der NATO haben 2014 gemeinsam Ziele für ihre Verteidigungsausgaben festgelegt. Das wichtigste von ihnen lautet, dass alle Länder darauf abzielen sollen, spätestens von 2024 an zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für Rüstung und Militär auszugeben. Das sogenannte Zwei-Prozent-Ziel wurde unter dem Eindruck der Ukraine-Krise beschlossen.«

    Der reine Feinsinn: »unter dem Eindruck«, wie ein Poet was dichtet, wenn er zum ersten Mal die Alpen gesehen hat.

    In der Woche, die jetzt direkt hinter uns liegt, erfreute uns die »Tagesschau« der ARD mit einer Zwischenmeldung auf dem Schlidderplanweg: »Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen fordert in der derzeitigen Legislaturperiode zwölf Milliarden Euro mehr für die Bundeswehr. Damit ist der finanzielle Mehrbedarf, den die CDU-Politikerin in den laufenden Haushaltsverhandlungen angemeldet habe, mehr als doppelt so hoch wie im Entwurf von Finanzminister Olaf Scholz vorgesehen.«

    Was machen wir mit diesen ekelhaften Auskünften, wenn wir Marx gelesen haben? Über seine Haltung zu Kriegen ist viel verwirrtes Geschwätz im Umlauf. Waren er und Engels nicht gegen Russland und für einen preußisch-deutschen Angriff aufs Zarenreich? War er nicht auch irgendwann einmal gegen oder für Frankreich? War er nicht für die Union und gegen die Sezession im amerikanischen Bürgerkrieg, der Sklaverei wegen? Und heißt das alles nicht, dass man, wenn man Marx folgen will, der gewiss kein Gesinnungspazifist war, ab und zu auch Kriegsanstrengungen befürworten könne, ja müsse? Nun ja, die Rote Armee gegen die Wehrmacht, selbstverständlich, das ist nicht schwierig, da braucht man aber keinen Marx, das geht mit dem kleinsten Messerspitzchen Verstand und Gewissen. Diejenigen allerdings, die für imperialistische Kriege das Wort ergreifen und es wagen, dabei auf marxistischen Gründen herumzukauen, sollen sich hüten, so zu tun, als wären Stellungnahmen zu Kriegen Fußballwetten und als dürfe man sich die sympathischere Mannschaft aussuchen, um mit gutem Gewissen vom Ergebnis zu profitieren.

    Engels hat Marx nämlich ganz richtig verstanden, als er nach dem Tod des Freundes die Arbeiterbewegung als größte Feindin imperialistischer Kriege ansprach und auch sonst unmissdeutbar beschrieb und erläuterte, wie sozialistisches Denken und Handeln im Zusammenhang mit den Kriegen der Besitzenden aussehen – doch, Engels, genau, denn ich werde doch hier keinen Marx-Vortrag halten und diesen Mann nicht oft genug erwähnen, obwohl, nein: gerade weil es eine der übelsten Sitten der bürgerlichen Marx-Entstellerei ist, Engels von Marx zu trennen, etwa, um Marx ins 19. Jahrhundert abzuschieben, über das hinaus Engels so unübersehbar in die Arbeiterbewegung gewirkt hat, oder um Marx in die Philosophie abzuschieben, die für Engels eher von nachrangigem Interesse war, und jedenfalls: um Marx zu isolieren, damit er nicht am Ende noch mit Lenin in Kontakt kommt, dazu gleich mehr.

    Engels also, um zu ihm zurückzukehren, hat spät im Leben, lange nach dem Tod des Freundes, ein neues Vorwort zu einer von Marxens wichtigsten kürzeren, eingreifenden Schriften verfasst, den »Klassenkämpfen in Frankreich 1848 bis 1850«.

    Politisch vermittelte Ökonomie

    Der Nachlasstreuhänder stellte gleich zu Beginn seines späten Vorworts klar, was diese Arbeit so wichtig macht: »Die hiermit neu herausgegebene Arbeit war Marx’ erster Versuch, ein Stück Zeitgeschichte vermittelst seiner materialistischen Auffassungsweise aus der gegebenen ökonomischen Lage zu erklären. Im ›Kommunistischen Manifest‹ war die Theorie in großen Umrissen auf die ganze neuere Geschichte angewandt, in Marx’ und meinen Artikeln der Neuen Rheinischen Zeitung war sie fortwährend benutzt worden zur Deutung gleichzeitiger politischer Ereignisse. Hier dagegen handelte es sich darum, im Verlauf einer mehrjährigen, für ganz Europa sowohl kritischen wie typischen Entwicklung den inneren Kausalzusammenhang nachzuweisen, also, im Sinn des Verfassers, die politischen Begebenheiten zurückzuführen auf Wirkungen von in letzter Instanz ökonomischen Ursachen.«

    Beim Ersterscheinen waren der Schrift die Sätze vorangestellt: »Mit Ausnahme einiger weniger Kapitel trägt jeder bedeutendere Abschnitt der Revolutionsannalen von 1848 bis 1849 die Überschrift: Niederlage der Revolution! Was in diesen Niederlagen erlag, war nicht die Revolution. Es waren die vorrevolutionären traditionellen Anhängsel, Resultate gesellschaftlicher Verhältnisse, die sich noch nicht zu scharfen Klassengegensätzen zugespitzt hatten – Personen, Illusionen, Vorstellungen, Projekte, wovon die revolutionäre Partei vor der Februarrevolution nicht frei war, wovon nicht der Februarsieg, sondern nur eine Reihe von Niederlagen sie befreien konnte. Mit einem Worte: Nicht in seinen unmittelbaren tragikomischen Errungenschaften brach sich der revolutionäre Fortschritt Bahn, sondern umgekehrt, in der Erzeugung einer geschlossenen, mächtigen Konterrevolution, in der Erzeugung eines Gegners, durch dessen Bekämpfung erst die Umsturzpartei zu einer wirklich revolutionären Partei heranreifte. Dies nachzuweisen ist die Aufgabe der folgenden Blätter.«

    Für uns, die wir die Zerstörung der sozialistischen Staatenwelt erlebt haben, ist hier eine unschätzbar wichtige Wahrheit aufbewahrt: Die Niederlage und ihre Analyse sind der Lehre von Marx nicht nur nicht fremd, sie gehören im Innersten zu ihr, soll sagen: Sie haben ihr dazu verholfen, überhaupt so gründlich und so wahr zu werden, wie sie ist, eben weil die Niederlagenanalyse eines der wichtigsten Momente jeder Theorie sein muss, die es unternimmt, »die politischen Begebenheiten zurückzuführen auf Wirkungen von in letzter Instanz ökonomischen Ursachen«.

    Die Kräfteverhältnisse zwischen Frankreich und anderen Staaten waren für die Analyse, die Marx 1850 schrieb, solche ökonomischen Ursachen, aber in politischer Vermittlung, als relativer Stand des Klassenkampfes nämlich, als Zustand der beiden nationalen Bourgeoisien und als Metrik des Spielraums für ihre Gegner. Das Modell, das Marx davon gebaut hatte, bestätigte sich in den Jahrzehnten danach, wie Engels in seinem späten Vorwort ausführt, schlagend und glänzend: »Nach dem Kriege von 1870/71 verschwindet Bonaparte vom Schauplatz, und Bismarcks Mission ist vollendet, so dass er nun wieder zum ordinären Junker herabsinken kann. Den Abschluss der Periode aber bildet die Kommune von Paris. Ein heimtückischer Versuch von Thiers, der Pariser Nationalgarde ihre Geschütze zu stehlen, rief einen siegreichen Aufstand hervor. Es zeigte sich wieder, dass in Paris keine andere Revolution mehr möglich ist als eine proletarische. Die Herrschaft fiel der Arbeiterklasse nach dem Sieg ganz von selbst, ganz unbestritten in den Schoß. Und wiederum zeigte sich, wie unmöglich auch damals noch, zwanzig Jahre nach der in unserer Schrift geschilderten Zeit, diese Herrschaft der Arbeiterklasse war. Einerseits ließ Frankreich Paris im Stich, sah zu, wie es unter den Kugeln Mac-Mahons verblutete; andererseits verzehrte sich die Kommune im unfruchtbaren Streit der beiden sie spaltenden Parteien, der Blanquisten (Majorität) und der Proudhonisten (Minorität), die beide nicht wussten, was zu tun war. Ebenso unfruchtbar wie 1848 die Überrumpelung, blieb 1871 der geschenkte Sieg.

    Mit der Pariser Kommune glaubte man das streitbare Proletariat endgültig begraben. Aber ganz im Gegenteil, von der Kommune und vom Deutsch-Französischen Krieg datiert sein gewaltigster Aufschwung. Die totale Umwälzung des gesamten Kriegswesens durch die Einrangierung der ganzen waffenfähigen Bevölkerung in die nur noch nach Millionen zu berechnenden Armeen, durch Feuerwaffen, Geschosse und Explosivstoffe von bisher unerhörter Wirkungskraft machte einerseits der bonapartistischen Kriegsperiode ein jähes Ende und sicherte die friedliche industrielle Entwicklung, indem sie jeden anderen Krieg unmöglich machte als einen Weltkrieg von unerhörter Greuelhaftigkeit und von absolut unberechenbarem Ausgang. Andrerseits trieb sie durch die in geometrischer Progression steigenden Heereskosten die Steuern zu unerschwinglicher Höhe und damit die ärmeren Volksklassen in die Arme des Sozialismus. Die Annexion von Elsass-Lothringen, die nächste Ursache der tollen Konkurrenz in Kriegsrüstungen, mochte die französische und deutsche Bourgeoisie gegeneinander chauvinistisch verhetzen; für die Arbeiter beider Länder wurde sie ein neues Band der Einigung. Und der Jahrestag der Kommune von Paris wurde der erste allgemeine Festtag des gesamten Proletariats.«

    Richtmaß: Umsturz

    Was hier klargestellt ist, kann man gar nicht oft genug sagen: Die Partei, zu der Marx hielt, war schlicht in jedem Land diejenige, die antrat, die Klassenherrschaft der Besitzenden zu stürzen. An ihr und sonst an nichts richtet er seine Einschätzung auch jeder militärischen Lage aus, vor dem Krieg, nach dem Krieg, im Krieg. Wer ihm das nicht nachtun will, soll sich auf was und wen immer berufen – nicht auf Marx.

    Diese Umsturzpartei ist heute vergleichsweise schwach. Man stellt ihr nach, wo sie sich zu erkennen gibt, sie wirkt von abseits her, man muss sie manchmal suchen. Aber das gab’s schon früher, sagt Engels mit bösem Witz in seinem Vorwort zu den »Klassenkämpfen in Frankreich«:

    »Es sind nun fast aufs Jahr 1.600 Jahre, da wirtschaftete im Römischen Reich ebenfalls eine gefährliche Umsturzpartei. Sie untergrub die Religion und alle Grundlagen des Staates; sie leugnete geradezu, dass des Kaisers Wille das höchste Gesetz, sie war vaterlandslos, international, sie breitete sich aus über alle Reichslande von Gallien bis Asien und über die Reichsgrenzen hinaus. Sie hatte lange unterirdisch, im verborgenen gewühlt; sie hielt sich aber schon seit längerer Zeit stark genug, offen ans Licht zu treten. Diese Umsturzpartei, die unter dem Namen der Christen bekannt war, hatte auch ihre starke Vertretung im Heer; ganze Legionen waren christlich. Wenn sie zu den Opferzeremonien der heidnischen Landeskirche kommandiert wurden, um dort die Honneurs zu machen, trieben die Umstürzlersoldaten die Frechheit so weit, dass sie zum Protest besondere Abzeichen – Kreuze – an ihre Helme steckten. Selbst die üblichen Kasernenschurigeleien der Vorgesetzten waren fruchtlos. Der Kaiser Diokletian konnte nicht länger ruhig zusehen, wie Ordnung, Gehorsam und Zucht in seinem Heere untergraben wurden. Er griff energisch ein, weil es noch Zeit war. Er erließ ein Sozialisten-, wollte sagen Christengesetz. Die Versammlungen der Umstürzler wurden verboten, ihre Saallokalitäten geschlossen oder gar niedergerissen, die christlichen Abzeichen, Kreuze etc. wurden verboten wie in Sachsen die roten Schnupftücher. Die Christen wurden für unfähig erklärt, Staatsämter zu bekleiden, nicht einmal Gefreite sollten sie werden dürfen. Da man damals noch nicht über so gut auf das ›Ansehen der Person‹ dressierte Richter verfügte, wie Herrn von Köllers Umsturzvorlage sie voraussetzt, so verbot man den Christen kurzerhand, sich vor Gericht ihr Recht zu holen. Auch dies Ausnahmegesetz blieb wirkungslos. Die Christen rissen es zum Hohn von den Mauern herunter, ja sie sollen dem Kaiser in Nikomedien den Palast über dem Kopf angezündet haben. Da rächte sich dieser durch die große Christenverfolgung des Jahres 303 unserer Zeitrechnung. Sie war die letzte ihrer Art. Und sie war so wirksam, dass siebzehn Jahre später die Armee überwiegend aus Christen bestand, und der nächstfolgende Selbstherrscher des gesamten Römerreichs, Konstantin, von den Pfaffen genannt der Große, das Christentum proklamierte als Staatsreligion.«

    Man muss die letzte Stufe nicht erobern wollen. Es gibt Schöneres als Staatsreligionen, zum Beispiel sozialistische Staatsmacht.

    Unsere Zeichen

    Wir, die wir die Schätze und Sätze, die Wahrheiten und Weisheiten von Marx im Gebrauch und am Leben halten wollen, haben allerdings auch unsere Zeichen, wenn schon nicht das Kreuz, das der Herr Söder jetzt wieder in die Amtsgebäude hängen will. Wir haben zum Beispiel Hammer und Sichel, wir haben Zirkel und Ährenkranz, das sind keine schlechten, keine schwachen oder mehrdeutigen Symbole, man weiß ganz gut, was sie bedeuten, wofür sie stehen. Auch sie sind verboten worden, etwa in Lettland, Ungarn, Polen, also unter anderem da, wo der Imperialist Donald Rumsfeld im Jahr 2003 das von ihm so genannte Neue Europa heraufziehen sah, als der reiche Westen Europas einmal nicht gar so viel Lust hatte, für ihn im Nahen Osten die Weltordnerei zu versuchen.

    Auch in Deutschland hat man gefordert, unsere Zeichen zu verbieten – es stand am 15. Mai 2014 in der Taz, in dem Jahr also, als die NATO beschloss, deutlich mehr Geld für Rüstung vom Mehrwert abzuzweigen: »Sollte die Verwendung des Symbols der Freien Deutschen Jugend genauso bestraft werden wie die des SS-Totenkopfs? Ist ein roter Stern ebenso schwer erträglich wie ein Hakenkreuz? Sind die Uniformen der Ernst-Thälmann-Pioniere so abstoßend wie jene der Wehrmacht? Und muss Energie Cottbus sein Stadion der (deutsch-sowjetischen) Freundschaft umbenennen? Ginge es nach Hubertus Knabe, Leiter der Gedenkstätte Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen, und seiner ideologischen Mitstreiter, wäre die Antwort ein eindeutiges Ja.«

    Es wird nicht der letzte Versuch gewesen sein, etwas wenigstens symbolisch ungeschehen zu machen, was die Besitzenden und Befehlenden der heutigen Weltordnung selbst im Rückblick kaum ertragen können.

    Es gibt indes einen Unterschied zwischen dem Kruzifix auf der einen, den sozialistischen Symbolen auf der anderen Seite: Wir kennen niemanden mehr, der bei Golgatha dabei war. Aber es wissen noch Leute, von wem Hitler aufgehalten wurde, oder wo die Hauptstadt der DDR sich befand. Das ist ein Wissen, das nicht weniger wichtig ist als die Kenntnis der Schätze und Sätze, der Wahrheiten und Weisheiten von Karl Marx, ohne den es die Macht, die Hitler aufhielt, und die Hauptstadt der DDR, in der Hitlers – von ihm verfolgten, aber nicht besiegten – Feinde regierten, nie gegeben hätte.

    Es hat sie gegeben, und das wird nicht umsonst gewesen sein.

  • · Interviews

    »Welch’ Reichtum an neuen Erkenntnissen liegt nun vor!«

    Ein Gespräch mit Rolf Hecker. Über die weltweiten Ehrungen für Karl Marx zu dessen 200. Geburtstag, die Bedeutung seines Werkes heute und den Editionsstand bei der zweiten Marx-Engels-Gesamtausgabe
    Volker Külow
    01.jpg
    Marx: »Das Recht auf Arbeit ist im bürgerlichen Sinn ein Widersinn, ein elender, frommer Wunsch.« – Brauereiarbeiter im Oktober 2013 in Shenjang, VR China

    Wird Karl Marx anlässlich seines 200. Geburtstages weltweit geehrt?

    Es ist eher ein westeuropäisches Phänomen, da Marx in erster Linie Europäer war und seine Theorie der europäischen Aufklärung entsprang. Es gibt aber überall in der Welt Verehrerinnen und Verehrer, und seine Werke werden studiert und ediert – von Brasilien über Indien bis China.

    Wie viele Publikationen erscheinen nach Ihrer Schätzung weltweit? In welchen Ländern und welchen Sprachen gibt es die meisten?

    Wenn jetzt Publikationen über Marx und seine Theorien gemeint sind, so sind es wirklich sehr viele, vor allem in den europäischen Sprachen, aber auch in Chinesisch oder Japanisch. Wichtiger jedoch scheint mir die Verbreitung von Marx’ Schriften zu sein. So wurde gerade 2017 – der erste Band des »Kapital« war vor 150 Jahren 1867 veröffentlicht worden – festgestellt, dass in einigen Sprachen neue Übersetzungen erschienen, die zu ihrer Grundlage die Texte aus der neuen MEGA, der Marx-Engels-Gesamtausgabe, nehmen, so z. B. in Italienisch und Griechisch, aber auch in Chinesisch. Natürlich ist auch die neue deutsche Textausgabe von Thomas Kuczynski erwähnenswert.

    Da verlieren vermutlich sogar Fachleute den Überblick. Gibt es ein Werk, das Sie für besonders innovativ und anregend für unseren Umgang mit Marx im 21. Jahrhundert halten?

    Jüngst hat der junge japanische Kollege Kohei Saito, der seine Dissertation 2014 an der Berliner Humboldt-Universität verteidigte, sein Buch unter dem Titel »Natur gegen Kapital. Marx’ Ökologie in seiner unvollendeten Kritik des Kapitalismus«, im Campus-Verlag Frankfurt am Main und New York 2016, veröffentlicht. Er zeigt unter Einbeziehung von bisher unveröffentlichten Studienmaterialien aus den 1860/70er Jahren, wie Marx auf ganz moderne Weise den Stoffwechselprozess zwischen Natur und Gesellschaft analysiert hat. Ich glaube, dass die Gestaltung des Verhältnisses von Ökonomie, Ökologie und Gesellschaft entscheidend für die Entwicklung der Menschheit im 21. Jahrhundert werden wird.

    Publikationen sind das eine. Es finden aber sicher auch diverse Konferenzen und wissenschaftliche Begegnungen unterschiedlichster Art sowie Ausstellungen statt?

    Es ist erfreulich, dass der Hinweis auf Konferenzen nicht nur in Hinblick auf das Ausland gegeben werden kann, sondern auch auf die Bundesrepublik. An einigen Universitäten, von Osnabrück über Oldenburg bis Frankfurt am Main und Trier fanden oder finden selbige statt, deren Ergebnisse sich in Sammelpublikationen niederschlagen werden. Hervorzuheben sind die Ausstellungen in Hamburg zum »Kapital« im Museum der Arbeit, die seit September 2017 wöchentlich rund eintausend Besucher anzog. Und die zu Marx’ Geburtstag in Trier sich öffnende Landesausstellung über die kulturelle und gesellschaftliche Situation im 19. Jahrhundert und die Stationen seines Lebens im Rheinischen Landesmuseum und im Simeonstift.

    An welchen Veranstaltungen nehmen Sie persönlich teil?

    Neben einigen inländischen Tagungen war ich im vergangenen September zu einer Konferenz an der Londoner Universität und jetzt im April an der Moskauer Hochschule für Ökonomie und an der Pekinger Renmin-Universität Chinas. Gemeinsam war diesen Veranstaltungen eine seriöse Diskussion über das Marxsche Erbe. Einerseits ging es um die Einordnung von Marx in den historischen Kontext, andererseits um die Erklärung unserer globalisierten Welt.

    Was ist neu an der überarbeiteten Ausstellung in Marx’ Geburtshaus in Trier?

    Da kann man sicherlich gespannt sein – ich werde sie mir nach ihrer Eröffnung anschauen –, da deren Schwerpunkt nach Auskunft der Ausstellungsmacher von der Friedrich-Ebert-Stiftung auf der Wirkungsgeschichte von Marx’ Ideen bis in die Gegenwart liegt.

    Gefällt Ihnen die von der Volksrepublik China der Stadt Trier geschenkte Statue?

    Ich habe sie noch nicht gesehen, jedoch ist »Gefallen« eine Ansichtssache. Zunächst gab es ja eine interessante politische Auseinandersetzung im Stadtrat von Trier, ob die Statue als Geschenk der Volksrepublik China angenommen wird oder nicht. Das Gremium entschied sich mit übergroßer Mehrheit dafür, und der CDU-Baustadtrat muss die ordnungsgemäße Aufstellung organisieren. Sie wird auch nach ihrer Enthüllung auf dem Platz vor dem Simeonstift immer ein Stein des Anstoßes sein, ein Anlass zur Debatte.

    Apropos China: Wie lebendig ist das theoretische Erbe von Karl Marx und Friedrich Engels im »Reich der Mitte«? Bewegt es auch noch die Menschen auf der Straße?

    1986 wurde die Veröffentlichung einer neuen chinesischen Werkausgabe in 70 Bänden auf der Grundlage der neuen MEGA beschlossen, bisher sind 29 Bände erschienen. Außerdem liegen die Schriften von Marx und Engels in verschiedenen ausgewählten Ausgaben vor. Das eröffnet die Möglichkeit, den Marxismus von den Fesseln des traditionellen Marxismus-Leninismus zu befreien. 1999 erschien das Buch »Zurück zu Marx« des Nankinger Professors Zhang Yibing. Er forderte, auf den originären Marx zurückzugehen. Er erhielt vielfältige Unterstützung, die in der Forderung mündete, sich von dem stalinistischen, sowjetischen Marxismus zu lösen und zu einem sinisierten Marxismus zu kommen. Dieser neue Marxismus soll natürlich zum »Sozialismus chinesischer Prägung« beitragen. Chinas Präsident und Generalsekretär der KP, Xi Jinping, hat die Gesellschaftswissenschaftler aufgefordert, das »Kapital« verstärkt zu lesen. Junge Menschen an den Unis wenden sich diesem Studium zu, erste Dissertationen in diesem neuen Geist wurden verteidigt. Sicher bewegt das Marxsche Erbe nicht jeden Menschen auf der Straße, aber diejenigen Chinesen, die Trier besuchen, werden die Stadt nicht ohne ein Foto vor Marx’ Geburtshaus verlassen.

    Sie sind ein renommierter Marx-Engels-Forscher und arbeiten seit vielen Jahren an der Mitte der 1970er Jahre von DDR und Sowjetunion begonnenen zweiten Marx-Engels-Gesamtausgabe, der MEGA, mit. Sie war nach dem Epochenumbruch 1989/90 stark gefährdet. Wie hat sich dieses ehrgeizige Editionsvorhaben seither entwickelt, und wie zufrieden sind Sie mit dem derzeitigen Stand der Dinge?

    Es ist wissenschaftlichen Gremien der Bundesrepublik zu danken, dass die MEGA aufgrund ihres hohen wissenschaftlichen und philologischen Niveaus weitergeführt werden konnte. Beigetragen hat dazu auch eine weltweite Unterstützungskampagne. Die Akademisierung und Internationalisierung hat die Herausgabe der Werke von Marx und Engels erstmals in der Geschichte aus dem Parteirahmen herausgelöst, sie wurde an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften angesiedelt und unter die Leitung der Internationalen Marx-Engels-Stiftung (IMES) gestellt. Mit der Überarbeitung der Editionsrichtlinien wurde auch eine Begrenzung auf 114 Bände erreicht, von denen bisher 66 erschienen sind. Bemerkenswert sind der Abschluss der zweiten Abteilung 2012 und die Herausgabe von Bänden mit Exzerpten von Marx und Engels in der vierten Abteilung, die erstmals veröffentlicht wurden. Hervorzuheben ist die internationale Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen in Amsterdam, Moskau, Sendai und Tokio und mit weiteren Wissenschaftlern weltweit.

    Welche Bände werden in nächster Zeit erscheinen? Wo erwarten Sie »Entdeckungen« oder wesentliche Erkenntnisfortschritte?

    Ich glaube, dass jeder Band der MEGA spezielle kleine oder große Entdeckungen bereithält, die zu neuen Erkenntnissen über die Entstehungsgeschichte des Marxschen Werks und seiner Rezeption führen. Das betrifft die zweite Abteilung der MEGA mit dem »Kapital« und den vorbereitenden Manuskripten von Marx und Engels. Welch’ Reichtum an neuen Erkenntnissen über das unvollendete Hauptwerk, das »Kapital« liegt nun vor! Dieses Wissen lässt durchaus manch lang diskutierte theoretische Frage in neuem Licht erscheinen. Vor Jahresende 2017 erschien die Neuedition der »Deutschen Ideologie«, bestehend aus 17 Manuskripten und einem Druck von Marx und Engels, die in der Zeit von Oktober 1845 bis Mai 1847 entstanden. Sie hatten unterschiedliche Anlässe der Auseinandersetzung mit Zeitgenossen und sollten in ein Buch- oder Zeitschriftenprojekt münden. In Band drei der Marx-Engels-Werkausgabe (MEW) waren sie als ein Werk ediert.

    In den überlieferten Fragmenten entfaltet sich der Gedankenreichtum von Marx und Engels auf der Suche nach einer »wirklichen positiven Wissenschaft«, es ging ihnen um die Darstellung »des praktischen Entwicklungsprozesses der Menschen« (MEW 3, Seite 27). Der Philosoph Michael Quante nennt diese Suche eine »Abkehrbewegung des Marxschen Denkens von den Linkshegelianern«, die zur Ausformulierung einer materialistischen Geschichtsphilosophie führt (»Der unversöhnte Marx. Die Welt in Aufruhr«, Münster 2017, Seiten 26 und 47). In nächster Zeit sind weitere Bände aus der ersten Abteilung zu erwarten, vor allem mit Artikeln aus der Neuen Rheinischen Zeitung und der New York Tribune.

    Ist die künftige digitale Publikation von Bänden nicht etwas nutzerunfreundlich?

    Nun ja, jede Zeit hat ihre Lesegewohnheiten. Bisher erschien jeder Band der ­MEGA in zwei Teilbänden, mit Ausnahme von zwei Bänden in der vierten Abteilung, die das Studieren des Textes durch die parallele Benutzung des Apparats erleichtern. Künftig werden z. B. die Briefbände ausschließlich digital publiziert, aber nicht als PDF-Dateien, wie man denken könnte, sondern als eine miteinander verknüpfte Datenbank, so dass sich beim Lesen gleichzeitig die Kommentierung verfolgen lässt, wovon sich jeder auf »MEGA digital«, http://megadigital.bbaw.de/index.xql, überzeugen kann. Dort ist bereits der Briefjahrgang 1866 eingestellt worden.

    Wenn man das Tempo von ein bis zwei Bänden pro Jahr beibehält, dürfte die Arbeit an der MEGA also voraussichtlich erst in zwei bis drei Jahrzehnten beendet sein. Die kommende Generation wäre dann paradoxerweise so nah wie noch keine vor ihr an Marx dran. Kann man heute schon abschätzen, was das für die Rezeption seines Werkes in der Zukunft bedeutet?

    Nach der letzten Evaluierung der MEGA im Jahre 2015 wurde durch die gemeinsame Wissenschaftskonferenz der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften über eine Laufzeit des Projekts bis 2030 entschieden. Das ist eine gesicherte Perspektive für dieses Editionsprojekt. Für die Rezeption des Werkes bedeutet es, dass, wie bereits am Beispiel des Buches von Kohei Saito erwähnt, viel deutlicher die Arbeitsweise von Marx studiert werden kann und so die Komplexität seiner Forschungen sichtbar wird.

    War Marx nicht nur ein Globalisierungstheoretiker – wie er oft gerade von bürgerlichen Autoren wahrgenommen und sogar gelobt wird –, sondern auch ein Globalisierungskritiker?

    Im Buch »Re: Das Kapital. Politische Ökonomie im 21. Jahrhundert«, herausgegeben von Mathias Greffrath (München 2017), finden sich unterschiedliche Sichtweisen auf Marx’ politische Ökonomie versammelt, sehr nachdenkenswert. Wahrscheinlich kennen viele den Satz: »Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.« (MEW 23, Seite 529 f.) Es gilt also, unsere Erde, die Arbeiterinnen und Arbeiter weltweit zu schützen und für gute Reproduktionsbedingungen zu sorgen. Das schließt ein, die Gier des Kapitals zu begrenzen. Es geht nicht um die Globalisierung schlechthin, es geht dabei um die gesellschaftlichen Verhältnisse.

    Zum Schluss eine Frage, die Sie wahrscheinlich nicht überraschen wird. Wie wichtig ist aus Ihrer Sicht Karl Marx heute noch für die Linke weltweit? Welche seiner Grundaussagen und Begriffe erachten Sie für weitgehend gültig und aktuell?

    Ich habe einiges zu dieser Frage in meinen Text für den sehr schön gestalteten Katalog der erwähnten Ausstellung im Hamburger Museum der Arbeit gepackt. Warum sollen wir nicht – wie Marx – erklären, dass in der abstrakten Arbeit, die den Wert einer Ware produziert, ein gesellschaftliches Verhältnis »versteckt« ist? Warum sollen wir nicht zeigen, dass der Mehrwert nicht im Handel, sondern in der Produktion selbst erzeugt wird? Es geht, wiederum nach Marx, um den entscheidenden Punkt, um den sich das »Geheimnis« der kapitalistischen Produktion dreht – es geht um den Mehrwert, letztlich um Profitmaximierung.

    Warum sollen wir nicht von der Krise reden, die eine Unterbrechung des Kapitalkreislaufs darstellt? Marx hat die erste Weltwirtschaftskrise 1857 sehr genau studiert und einige seiner Prognosen revidiert, wie die der folgenden Revolution oder diejenige über die Dauer des ökonomischen Zyklus. Und Marx hat in seinen Studien in den 1870er Jahren sogar versucht, Profitrate und Produktionszyklen mathematisch zu berechnen. Er formulierte keine Bedingungen oder Gesetze für eine neue, sozialistische Gesellschaft; er beschränkte sich auf wenige Kriterien, wie das bekannte: »In einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft, nachdem die knech­tende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden ist; nachdem die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden; nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihre Produktivkräfte gewachsen und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen – erst dann kann der enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahne schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!« (MEW 19, Seite 21)

    Heute geht es – wie im langen Kampf der Arbeiterbewegung – um soziale Gerechtigkeit. Um eine Gesellschaft, die eine Verteilung des Reichtums so organisiert, dass möglichst alle ihrer Mitglieder daran gleichberechtigt partizipieren können.

  • · Blog

    Veranstaltungen zu Marx' 200. Geburtstag

    Karl Marx. Seiner Nützlichkeit wegen

    An dieser Stelle listen wir eine Auswahl von Veranstaltungen auf, die sich auf Karl Marx, sein Werk oder seinen Geburtstag beziehen.

    Sonntag, 22. April
    Matinee zum 200. Karl-Marx-Geburtstag
    »Das Kommunistische Manifest« gelesen von Rolf Becker
    Ort: Alte Aula, Zossener Damm 2, 15827 Blankenfelde-Mahlow
    Uhrzeit: 11 Uhr

    Dienstag, 24. April
    Dialektisches im Kapital: Die kapitalistische Realität, ihre Widerspiegelung in den Köpfen
    Ein Vortrag von Arnold Schölzel zu den Kapiteln 11 & 17 des »Kapital. Band I«
    Eine Veranstaltung der junge Welt-Leserinitiative Hamburg, Rotfuchs Förderverein und Hamburger Gesprächskreis Dialektik & Materialismus
    Ort: Hochschule Angewandte Wissenschaften, Alexander Str. 1, 20099 Hamburg
    Uhrzeit: 18.30 Uhr

    jW-Veranstaltung
    Freitag, 4. Mai
    Vorpremiere »Karl Marx. Seiner Nützlichkeit wegen«
    Mit Sängerin und Schauspielerin Gina Pietsch und Frauke Pietsch am Klavier
    Ort: welt-echo, Annaberger Str. 24, 09111 Chemnitz
    Uhrzeit: 19 Uhr
    Preis: 10 €/6 €
    Mehr unter www.melodieundrhythmus.com/marx

    Sonnabend, 5. Mai
    Besuchen Sie den Stand der jW-Leserinitiative in Chemnitz. Sprechen Sie mit jW-Redakteur Sebastian Carlens von 14 – 18 Uhr.
    Ort: am Nüschel
    Uhrzeit: ab 9 Uhr

    Sonnabend, 5. Mai
    Im Rahmen der Konferenz »Marx hat Zukunft«
    Vortrag »Der Marxismus, Wissenschaft des Klassenkampfes« von Daniel Bratanovic
    Ort: Bürgerhaus Trier-Nord, Franz-Georg-Straße 36, 54292 Trier-Nord
    Uhrzeit: 14.30 Uhr

    Sonnabend, 5. Mai
    »Das Kommunistische Manifest« gelesen von Rolf Becker
    Ort: Alte Färberei, Im Speyer 11, 54294 Trier
    Uhrzeit: 17 Uhr

    Sonnabend, 5. Mai
    Marx im 21. Jahrhundert. Geopolitische Schlaglichter
    mit Sebastian Carlens (jW-Redakteur)
    Ort: All In, Rosenhof 14, 09111 Chemnitz
    Uhrzeit: 18 Uhr

    jW-Veranstaltung
    Sonnabend, 5. Mai
    Festrede von Schriftsteller, Journalist und Autor Dietmar Dath
    Festveranstaltung »Karl Marx. Seiner Nützlichkeit wegen«
    Mit Sängerin und Schauspielerin Gina Pietsch und Frauke Pietsch am Klavier
    Ort: Wabe, Danziger Str. 101, 10405 Berlin
    Uhrzeit: 19 Uhr
    Preis: 12 €/8 €
    Mehr unter www.melodieundrhythmus.com/marx

    Sonntag, 6. Mai
    »Rote Lieder gegen braunen Mob« zum Gedenken an den zweihundertsten Geburtstag von Karl Marx und den 73sten Jahrestag der Befreiung Europas vom Faschismus
    Es singen und spielen Rotfuchs Singeclub und Agitprop (Hannover)
    Ort: Münzenbergsaal, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin
    Uhrzeit: 15 Uhr

    Sonntag, 6. Mai
    Rolf Becker liest »Karl Marx: Das Kommunistische Manifest«
    Ort: Theater am Leibnizplatz, Schulstr. 26, 28199 Bremen
    Uhrzeit: 19.30 Uhr
    Eintritt frei. Um Anmeldung wird gebeten

    Sonnabend, 12. Mai
    » Die tiefe Heuchelei der bürgerlichen Zivilisation...« Karl Marx über Kapital und Krieg
    mit Arnold Schölzel ( stellv. Chefredakteur)
    Ort: Rothaus, Lohstraße 2, 09111 Chemnitz
    Uhrzeit: 10 Uhr

    Dienstag, 15. Mai
    »Das Kommunistische Manifest« gelesen von Rolf Becker
    Ort: Württembergischen Kunstverein, Schloßplatz 2, 70173 Stuttgart
    Uhrzeit: 19.30 Uhr

  • · Berichte

    Marx feiern

    Den 200. Geburtstag des Weltveränderers begeht die junge Welt mit Artikeln, Vorträgen und Musik
    S 16.jpg
    Abschiedskonzert für Daniel Viglietti: Gina und Frauke Pietsch am 21. Februar 2018 in der Berliner Wabe

    Mit dem Nahen des 5. Mai nimmt die Präsenz des sonst totgeschwiegenen Karl Marx auch in den »Qualitätsmedien« regelmäßig sprunghaft zu. Bei seinem 200. Geburtstag geht das nicht. Neue Vereinnahmungstrategien feiern fröhlich Urständ. Als marxistische Tageszeitung sieht sich die junge Welt in der Pflicht, dem Substantielles entgegenzusetzen und Marx auf eine ihm angemessene Weise zu ehren. Journalistisch erfolgt das mittels einer in internationaler Medienkooperation entstandenen Beilage, einer Serie zu marxistischen Grundbegriffen sowie von Themaseiten. Alles im Zeitraum vom 28. April bis 5. Mai.

    Die junge Welt ist mehr als eine Tageszeitung: Das Medienprodukt wird mittlerweile von zahlreichen anderen Aktivitäten ergänzt. Zu diesem gehören die Rosa-Luxemburg-Konferenz, die jW-Ladengalerie und das Magazin für Gegenkultur Melodie&Rhythmus, um dessen Erhalt wir gerade kämpfen. Entsprechend ehren wir Marx auch mit eigenen künstlerischen Angeboten. Dazu gehört insbesondere das am 4. Mai im Chemnitzer »Weltecho« und am 5. Mai in der Berliner »Wabe« stattfindende Festprogramm »Karl Marx. Seiner Nützlichkeit wegen«. Die Künstlerinnen Gina und Frauke Pietsch werden mit ihrem literarisch-musikalischen Programm unterschiedlichste Facetten der Bedingungen, Triebkräfte und Wirkungen des Marxschen Lebenswerks nahebringen. In Berlin wird der Abend mit einer Rede des bekannten Journalisten und Schriftstellers Dietmar Dath eröffnet. Dort werden mittlerweile schon die Karten knapp. In Chemnitz ist die Situation noch nicht ganz so angespannt. Doch lohnt es sich für beide Veranstaltungen, jetzt rasch zu ordern. Darüberhinaus empfehlen wir die zahlreichen Marx-Veranstaltungen befreundeter Organisationen, bei denen jW-Mitarbeiter präsent sind, etwa in Trier. Dort wird am 4. Mai im Bürgerhaus Trier Nord jW-Thema-Chef Daniel Bratanovic im Rahmen der Konferenz »Marx hat Zukunft« seinen Vortrag »Der Marxismus, Wissenschaft des Klassenkampfes« halten.

    Einen Überblick über wichtige Veranstaltungen können Sie sich online über www.jungewelt.de/Marx200 verschaffen.

    Redaktion, Verlag und Genossenschaft

  • · Hintergrund

    Grobe Allerweltsformel

    Der »Bonapartismus« in der Theorie von Karl Marx taugt wenig, um die aktuellen Phänomene autoritärer Herrschaft zu beschreiben. Eine Kritik
    Dieter Boris
    trump bonaparte III.jpg
    Die Typisierung einer Herrschaftsform des 19. Jahrhunderts, wie sie Napoleon III. (Aufnahme von etwa 1860) etablierte, ist nicht anwendbar auf bestimmte Verhältnisse der Gegenwart, etwa auf die Präsidentschaft Donald Tumps in den USA

    »Denn eben, wo Begriffe fehlen,

    Da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein.

    Mit Worten lässt sich trefflich streiten,

    Mit Worten ein System bereiten,

    An Worte lässt sich trefflich glauben,

    Von einem Wort lässt sich kein Iota rauben.«

    (Johann Wolfgang Goethe: Faust, Erster Teil)

    Das Verhältnis von sozialer Wirklichkeit zu den Begriffen, die sie verständlich und erklärbar machen sollen, wird und kann nie ein anderes sein als ein auch von Spannungen, Inkongruenzen und Lücken gekennzeichnetes. Denn immer ist die empirische Mannigfaltigkeit größer als die Eindeutigkeit und Trennschärfe vorgebenden Begriffe, und immer sind – durch die sich stets verändernden Konstellationen von Zeit und Raum – die gesellschaftlichen Objektbereiche in mehr oder minder starkem Maße von den sie bezeichnenden Begriffen verschieden. Geschichtliche Entwicklung, Kumulierung von Ereignissen, qualitative Veränderungen nötigen einer Erfassung dieser Prozesse auch immer Modifikationen, vielleicht sogar Neuschöpfungen, d. h. neue Begrifflichkeiten auf. Vor diesem Dilemma steht jede Analyse zeitgenössischer Verhältnisse, die nach Erklärung neuer Phänomene verlangen, die auf einen Wendepunkt in der bisherigen Entwicklung hindeuten: z. B. die Stärkung rechtspopulistischer Kräfte in Europa und in den USA, die Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA, die sich verstärkenden Barrieren für eine Fortsetzung der neoliberalen Globalisierung, die wachsende Zahl der Flüchtlinge und keineswegs zuletzt: der islamistische Terrorismus. All dies sind Phänomene, die es einzeln oder in möglichen Zusammenhängen zu erklären gilt.

    Theoriebedarf

    Es ist verständlich, wenn seitens der Linken angesichts dieser Weltsituation, von der man annehmen kann, dass mit ihr eine Zäsur erreicht ist, das Begriffs- und Theoriearsenal durchmustert wird, um zu überprüfen, ob von dort nicht neue Impulse für ein besseres Verstehen der gegenwärtigen Konstellationen ausgehen können. In diesem Zusammenhang sind einige auf das Konzept des »Bonapartismus« gestoßen, das von Karl Marx 1851/52 entwickelt wurde, um die quasi-putschistische Machteroberung und den plebiszitär gestützten Machterhalt von Charles Louis Napoleon Bonaparte III. (einem Neffen des ursprünglichen Kaisers Napoleon) zu verstehen und zu interpretieren.

    Das Konzept des Bonapartismus könnte in gewissem Maße für ein besseres Verständnis der Gegenwart hilfreich sein, wenn einige Vorsichtsmaßregeln beachtet werden. Eine Hauptfrage dabei ist, ob Begriffe, die auf bestimmte politische Mechanismen abzielen und im Kontext konkreter ökonomischer, sozialstruktureller, politischer und kultureller Zusammenhänge entstanden sind, auf Gesellschaften übertragen werden können, die 170 Jahre älter sind und eine gänzlich andere Klassenkonstellation aufweisen, ganz zu schweigen vom ökonomischen Entwicklungsstand und den völlig gewandelten internationalen Verhältnissen.

    Prüfen wir zunächst, welche Elemente der historische Bonapartismus – laut den Ausführungen von Marx – umfasst. Es sind dies, sehr schematisiert und verkürzt, in systematischer Reihenfolge mindestens fünf:

    1. Gescheiterter Ansturm bzw. Revolutionsversuch des (Pariser) Proletariats, der – nach blutiger Niederschlagung – Schrecken bei der Bourgeoisie und dem Kleinbürgertum hinterlassen hat.

    2. Die Bourgeoisie des betreffenden Landes (ursprünglich Frankreich) kann nicht (nicht mehr) Hegemonie ausüben bzw. ist zur Vereinheitlichung der Klassenfraktionen (innerhalb und außerhalb der Bourgeoisie) nicht mehr fähig.

    3. Daher wird die republikanisch-demokratische, im Parlament ausgeübte politische Herrschaftsform, eine mehr oder minder direkte politische Herrschaft der Bourgeoisie, nicht mehr möglich. (Sie wäre angesichts der Kräfteverhältnisse zu prekär, denn damit würde die ökonomisch-soziale Macht aufs Spiel gesetzt.) Daher sieht sich die Bourgeoisie genötigt, ihre politische Herrschaft einer verselbständigten Exekutivgewalt (mehr verselbständigt als ohnehin üblich) zu überlassen, mit dem Hauptziel, dadurch ihre ökonomisch-soziale Macht zu bewahren.

    4. Die wesentliche soziale Basis der neuen, verselbständigten Exekutivgewalt (in Gestalt Napoleons III.) ist die Masse der städtischen und vor allem ländlichen Kleinbürger (die »Parzellenbauern«), die sich politisch (aufgrund mangelnden Zusammenhalts, fehlender Kommunikation untereinander und abwesenden Klassenbewusstseins etc.) nicht selbst vertreten können, sondern von anderen (der Exekutivgewalt) vertreten lassen müssen.

    5. Allerdings handelt die verselbständigte Exekutive nicht primär im Interesse der kleinbürgerlichen und bäuerlichen Basis, sondern vor allem in Interesse der Großbourgeoisie und der Ausbreitung und Vertiefung der kapitalistischen Produktionsweise. Mit gewissen Ersatzbefriedigungen, ideologischen Formeln, chauvinistischen Eroberungsversprechen, nationalistischen Symbolen etc. wird die Basis zufriedengestellt bzw. in Zaum gehalten. – Das Personal der Exekutivgewalt setzt sich überwiegend aus politischen Abenteurern und Karrieristen, gescheiterten Existenzen sowie Deklassierten, Kriminellen und Lumpenproletariern zusammen, die sich zuvor in der sogenannten Dezemberbande zusammengefunden hatten.

    Vorbehalte

    Wenn man davon ausgeht, dass es zum politischen Einmaleins linker Theorie gehört, dass die kapitalistische Gesellschaft sich u. a. durch den konstitutiven Widerspruch von ökonomisch-sozialer Ungleichheit (durch bedeutenden Produktionsmittelbesitz einerseits, durch Besitzlosigkeit an solchen Produktionsmitteln andererseits) und politischer sowie rechtlicher Gleichheit andererseits auszeichnet, und wenn man weiterhin davon ausgeht, dass innerhalb der kapitalistischen Entwicklung (je nach Kumulierung gesellschaftlicher Konflikte) die herrschenden Kräfte immer wieder auf tendenzielle Entdemokratisierung und autoritäre Herrschaftsformen drängen, dann kann diese generelle Tendenz nicht mit einer sehr spezifischen Konstellation wie der des Bonapartismus begriffen werden. Oder anders gesagt: Der Bonapartismus war nur eine besondere, konkrete Ausprägung dieser allgemeinen Tendenz in einem bestimmten Land mit einem bestimmten sozialstrukturellen und ökonomischen Entwicklungsstand.

    Das bedeutet für eine über den ursprünglichen Fall hinausgehende Verwendung dieses Begriffs, dass deutlich zwischen einzelnen Elementen und Mechanismen, die beim Bonapartismus eine Rolle spielen, unterschieden werden muss. So hat etwa August Thalheimer bei der Entfaltung seiner faschismustheoretischen Konzeption auf bestimmte Mechanismen der Bonapartismustheorie von Marx zurückgegriffen, zugleich aber deutlich auf die großen Unterschiede zwischen Frankreich 1851 und Italien und Deutschland in den 1920er und 1930er Jahren hingewiesen.¹

    Wolfgang Abendroth, der von Thalheimers theoretischen und politischen Positionen stark beeinflusst war,² hat diese These von der Ähnlichkeit und Verschiedenheit des Bonapartismus mit bzw. gegenüber dem deutschen Faschismus weiter verfeinert, modifiziert und die Unterschiede stärker betont. Im Faschismus erfolge, schreibt Abendroth, »eine unmittelbare Verschmelzung von Staatsapparat und permanent aufrechterhaltener faschistischer Massenorganisation, eine Entwicklung, die deshalb etwas qualitativ völlig anderes darstellt als der Bonapartismus Napoleons III.«³ Er hebt überdies hervor, dass die Eingriffe der öffentlichen Gewalt in den konjunkturellen Prozess gleichfalls nur dem Faschismus des 20. Jahrhunderts zukommen, keinesfalls dem »klassischen Bonapartismus«. Darüber hinaus neu sei das Gewicht einer faschistischen Partei – verbunden mit ihren quasi militärischen Terrororganisationen (vorwiegend aus den Mittelschichten rekrutiert und mobilisiert) –, die »in Zusammenarbeit mit der traditionalen Staatsorganisation die Unterdrückungsfunktion der öffentlichen Gewalt gegenüber den Unterklassen generalisierten und extrem verstärkten und sie in derart erheblichem Maße permanent gestalten konnten, wie sie die bonapartistische Staatsmacht weder in dieser Intensität noch in dieser Dauerhaftigkeit herstellen konnte. Die zweite Folge dieser neuen Situation bestand darin, dass die Rechtsstaatlichkeit zwar nicht gänzlich aufgelöst werden konnte, weil sie als Parallele der Marktgesellschaft in bestimmten Relationen erhalten bleiben musste, aber durch einen nicht rechtsstaatlichen, sondern unverhüllt dezisionistisch-repressiven Teil staatlicher Tätigkeit weithin verdrängt wurde. Drittens führte diese Situation zu einer relativ permanenten Symbiose von Monopolwirtschaft und Staat im Zeichen eines auch nach außen aggressiven Rüstungskapitalismus.«⁴

    Die notwendige Vorsicht im Gebrauch oder Nichtgebrauch des Konzepts des Bonapartismus bzw. seiner mehr oder minder deutlichen Relativierung scheint bei aktuellen Veröffentlichungen offenbar ins Wanken zu geraten. Wenn man z. B. den Titel einer angekündigten Publikation liest, in welcher mit Bonapartismus Trump, Orban, Erdogan etc. »erklärt« werden sollen, kommen doch erhebliche Zweifel auf.⁵

    Trump-Bonaparte?

    Um das politische Phänomen Donald Trump zu »verstehen«, ist man mit der Bonapartismustheorie denkbar schlecht bedient. Kein einziges der fünf aufgezählten Elemente trifft auf die US-Situation vor der Wahl Trumps zu. Weder gab es einen vorherigen gescheiterten Revolutionsversuch des US-amerikanischen Proletariats, noch hat die US-Großbourgeoisie (es traten lediglich »normale« Differenzen zwischen einzelnen Kapitalfraktionen auf) ihre überaus gefestigte Hegemonie eingebüßt, noch gab es meines Wissens nach eine völlige Entmachtung des Kongresses – eine »verselbständigte Macht der Exekutivgewalt«, wie es bei Marx heißt (MEW 8, 204). Außerdem existieren in den USA keine Parzellenbauern oder eine vergleichbare gesellschaftliche Schicht, die sich nicht hätte selbst politisch vertreten können. Dass letztlich eine ziemlich direkte Politik für das Kapital, besonders für das sehr große Kapital, verfolgt wird, darüber kann kein Zweifel bestehen. Das ist gewissermaßen »normal«, gleichgültig, welche politische Herrschaftsform gerade gilt. Dass das Kabinett von Trump quasi die zeitgenössische »Dezemberbande« (aus Deklassierten, Lumpenproletariern, notorischen Kriminellen etc.) sei, lässt sich angesichts der besonderen Häufung von Multimillionären, Milliardären und hohen Militärs in diesem Kabinett auch schwer behaupten. Was also hat Trump mit Napoleon III. zu schaffen?

    Darüber gibt Ingar Solty, Mitautor der erwähnten Neuerscheinung, folgende Auskunft: »Donald Trump hat heute eine Regierung des Kapitals, durch das Kapital und für das Kapital etabliert. Und seine Politik macht die Demokratie (…) dem Erdboden gleich. In der von Marx ausgehenden Bonapartismus- und Faschismustheorie war die Diskussion des Stellenwerts der direkten Herrschaft des Kapitals ein zentraler Angelpunkt. Wie ertragreich diese Unterscheidung von direkter und indirekter Kapitalherrschaft ist, sei einmal dahingestellt. Selbstverständlich sind die USA unter Trump kein faschistischer Staat. Es finden weiterhin allgemeine Wahlen statt. Aber der Neoliberalismus hat bessere Wege gefunden, die Demokratie auszuhebeln, ohne die Wahlen abzuschaffen – nämlich so, dass zwar gewählt wird, aber die Regierungen, die gewählt werden, keine demokratische Politik im Interesse der Mehrheit mehr tätigen können.«⁶

    Hier stellt sich eine Reihe von Fragen. Um beim letzten Satz zu beginnen: Was ist in einer kapitalistischen Gesellschaft so außergewöhnlich daran, dass nicht »Politik im Interesse der Mehrheit« gemacht wird? Was ist – besonders in den USA – daran so brandneu, dass minimale Voraussetzungen von demokratischer Mitwirkung längst außer Kraft gesetzt sind (siehe: Wahlbeteiligung, Abhängigkeit der Kandidaten von Millionenspenden, extremer Lobbyismus etc.). Wenn aber alles Ausdruck einer direkten Regierung bzw. Herrschaft des, durch, für »das Kapital« ist, was bedeuten die immerhin nicht unbeträchtlichen Differenzen zwischen verschiedenen Kapitalfraktionen, die gegenüber der Vorwahlzeit nicht geringer, eher größer geworden sind? Was bedeutet dann noch »Verselbständigung der Macht der Exekutivgewalt« im Sinne von Marx, oder fällt die totale Rücknahme jeglicher Verselbständigung unter die nette Formulierung von einem »Soft-Bonapartismus« (Solty)?

    Frank Deppe geht in seinem Nachwort zu dem Buch »Die neuen Bonapartisten« etwas differenzierter zu Werke. Trotz gewissen Vorbehalten gegenüber dem Unternehmen gelangt er schließlich am Ende zu einer diplomatisch-versöhnlichen Einerseits-andererseits-Formel: »Die Tendenz zum autoritären Kapitalismus im frühen 21. Jahrhundert bringt vielfältige Erscheinungen der Entdemokratisierung hervor, die auch als ›Bonapartismus‹ bezeichnet werden können. Aufgrund der gewaltigen Unterschiede zwischen dem Entwicklungsniveau der kapitalistischen Produktionsweise um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Frankreich und dem globalen Finanzmarktkapitalismus der Gegenwart sollte jedoch mit der quasi metahistorischen Verallgemeinerung Marxscher Erkenntnisse über den Zusammenhang von Demokratie und Kapitalismus sowie über die Hegemoniefähigkeit der Bourgeoisie im politischen Feld einer demokratischen Verfassung sehr vorsichtig umgegangen werden.«⁷ Allerdings hält Deppe selbst sich nicht allzu lange an diese Vorsichtsmaßregel. Nur eine Seite weiter heißt es bei ihm ziemlich verallgemeinernd: »Die bonapartistischen Tendenzen und die damit verbundenen Tendenzen zur Barbarei sind überall in der Welt mit demokratischen Gegenbewegungen – mit unterschiedlicher Reichweite und Macht – konfrontiert«.⁸

    Kein Universalschlüssel

    Werner Mackenbach hatte schon 1995 im »Historisch-Kritischen Wörterbuch des Marxismus« diese Tendenz, den Begriff und das Konzept des Bonapartismus zu einer nichtssagenden »Allerweltsformel« zu degenerieren, kritisiert.⁹ Anscheinend kehrt diese Neigung von Zeit zu Zeit immer wieder, denn es scheint wesentlich leichter zu sein, alte Formeln, zumal von Klassikern, zu bemühen, als den eigenen Kopf wirklich anzustrengen.

    Schon Marx selbst hat diese Neigung in bezug auf den früher sehr verbreiteten Begriff des »Cäsarismus« scharf gegeißelt, just im Vorwort zur zweiten Auflage (1869) seiner zentralen Bonapartismusschrift »Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte«. Wenn man heute im nachfolgenden Zitat »Cäsarismus« durch »Bonapartismus« ersetzen würde, käme man meines Erachtens zu Marxens Ansicht über die inflationäre Benutzung bzw. den Missbrauch dieses Begriffs als Universalschlüssel. Er beendet das Vorwort mit den Worten: »Schließlich hoffe ich, dass meine Schrift zur Beseitigung der jetzt namentlich in Deutschland landläufigen Schulphrase vom sogenannten ›Cäsarismus‹ beitragen wird. Bei dieser oberflächlichen geschichtlichen Analogie vergisst man die Hauptsache, dass nämlich im alten Rom der Klassenkampf nur innerhalb einer privilegierten Minorität spielte, zwischen den freien Reichen und den freien Armen, während die große produktive Masse der Bevölkerung, die Sklaven, das bloß passive Piedestal (Sockel, Untersatz, D. B.) für jene Kämpfer bildete. Man vergisst Sismondis bedeutenden Ausspruch: Das römische Proletariat lebte auf Kosten der Gesellschaft, während die moderne Gesellschaft auf Kosten des Proletariats lebt. Bei so gänzlicher Verschiedenheit zwischen den materiellen, ökonomischen Bedingungen des antiken und des modernen Klassenkampfs können auch seine politischen Ausgeburten nicht mehr miteinander gemein haben als der Erzbischof von Canterbury mit dem Hohepriester Samuel.« (MEW 8, 560)¹⁰

    Anmerkungen:

    1 So auf die teilweise von der Bourgeoisie betriebene Aushöhlung des bürgerlich-parlamentarischen Regimes, damit »sie sozial ›gerettet‹ und politisch vergewaltigt werden kann« (durch Herstellung einer offenen Diktatur). Gleichzeitig hat er betont, dass die gewaltigen Unterschiede zur ursprünglichen Konstellation zu beachten seien (geschichtliche Traditionen, Klassenkonstellation, ökonomischer Entwicklungsstand etc.). August Thalheimer: Über den Faschismus. In: Wolfgang Abendroth (Hg.): Faschismus und Kapitalismus. Theorien über die sozialen Ursprünge und die Funktion des Faschismus, Frankfurt am Main 1967, S. 38 u. 34 ff.

    2 Wolfgang Abendroth: Ein Leben in der Arbeiterbewegung. Gespräche, hg. v. Barbara Dietrich u. Joachim Perels, Frankfurt am Main 1981, S. 118 ff.

    3 Ebd., S. 120

    4 Wolfgang Abendroth: Das Problem der sozialen Funktion und der sozialen Voraussetzungen des Faschismus. In: Das Argument 12 (1970), H. 58, S.251–257; hier: S. 254

    5 Martin Beck/Ingo Stützle (Hg.): Die neuen Bonapartisten: Mit Marx den Aufstieg von Trump und Co. verstehen. Dietz Verlag, Berlin 2018 (im Erscheinen)

    6 Ingar Solty: Eine Regierung des Kapitals, durch das Kapital und für das Kapital. In: Sozialismus (2018), H. 2, S. 28–32; hier: S. 31

    7 Frank Deppe: Nachwort: Bonapartismus reloaded? In: Die neuen Bonapartisten, a. a. O., S. 253

    8 Ebd., S. 254

    9 »Elemente der B-Theorie (Bonapartismus, D. B.) von Marx und Engels sind wiederholt zur Analyse einer Fülle von politischen Regimen und historischen Situationen herangezogen worden, z. B. in bezug auf das Spanien Francos, Argentinien unter Perón, Castros Rolle auf Kuba, de Gaulle und den Pariser Mai, die portugiesische Revolution, um nur einige zu nennen. Dabei droht die B-These zur Allerweltsformel zu werden, durch deren schematische Übertragung sehr unterschiedliche gesellschaftliche Realitäten und politische Herrschaftsformen gleichgesetzt werden. Die B-These darf die konkrete Analyse einer konkreten Situation nicht ersetzen und nur als erste Annäherung an die komplexe gesellschaftliche Realität, als erstes Begreifen des Kräfteverhältnisses der Klassen verstanden werden.« Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 2, Hamburg 1995, S. 290

    10 Wer sich gründlich über die Bonapartismustheorie von Marx und Engels informieren möchte, sei auf folgende, ältere, aber immer noch unübertroffene Studie verwiesen: Wolfgang Wippermann: Die Bonapartismustheorie von Marx und Engels, Stuttgart 1983.

  • · Berichte

    Nicht schon wieder

    Ein italienischer Philosophielehrer hat ein eklektisches Potpourri über Marx geschrieben
    Daniel Bratanovic
    S._31.jpg
    Grünpflanzen ­wollen sorgsam gepflegt ­werden (aus dem Band Manfred Küchler: Wir Kinder vom Prenzlauer Berg. Fotografien 1970–1995. Bild und Heimat, Berlin 2018)

    Verlage, man hat sich längst daran gewöhnt, loben ihre Bücher in allerhöchsten, oft genug schrillen Tönen. Aus betriebswirtschaftlicher Perspektive ist das verständlich, schafft aber notwendig Gräben zwischen Verheißung und Lektüre. Manchmal klaffen Abgründe. Wenn von einem nicht einmal 100-Seiten-dicken, großzügig bedruckten Bändchen gesagt wird, es liefere »einen neuen Schlüssel zum Verständnis des ›Kapital‹«, sind Zweifel geboten. Wenn dann auch noch der Verfasser des Vorworts meint, »wir brauchen einen von Heidegger vermittelten Marx«, »wir müssen Marx auf Heidegger aufpfropfen«, wäre nach Maßgabe der Freiwilligkeit bereits auf Seite elf der Zeitpunkt erreicht, das Büchlein entkräftet aus der Hand fallen zu lassen. Doch versprochen ist versprochen, eine Rezension soll her.

    Diego Fusaro, den die italienische Tageszeitung La Repubblica als »vielversprechenden« europäischen Nachwuchsphilosophen ausgemacht hat, legt ein Bekenntnis zu Marx ab und findet vage, es könne »durchaus sinnvoll sein, von Marx ausgehend, neu zu beginnen«. Allerdings gibt es da ein Hindernis: »Zwischen uns und Marx steht der Marxismus«. Mit beiden verhält es sich nämlich wie folgt: hier »Kritik, Unvollständigkeit, Offenheit, Nicht-Systematik«, dort »Dogmatismus, Systematik, erklärende Ganzheitlichkeit«. Der Erbsünder heißt Engels, denn der war der »eigentliche Librettist der Oper namens Marxismus«, wie Paulus von Tarsus ein Religionsstifter und Kirchenbauer. Solcherlei Behauptung wird auch nach der hundertsten Wiederholung, sekundiert von der ganzen französischen Heideggerei, nicht besser. Aber einmal angenommen, in diesem Diktum schlummerte womöglich wirklich etwas Wahrheit, wäre schön gewesen, man erführe jenseits abstrakter Begriffe, worin denn nun das tatsächliche Problem am inkriminierten Ismus bestehen soll. Doch nichts davon. Statt dessen zielloses Metagerede.

    Der Philosophielehrer an der Mailänder Universität macht gelegentlich treffliche Feststellungen, kritisiert die Proteste der »Indignados« in Spanien 2011/12 als bloße moralische Empörung, blind gegenüber ökonomischen Fragen, und bezeichnet den westlichen »Wohlfahrtsstaat als aufgezwungene Antwort auf die Sozialpolitik des realen Kommunismus«. Durchzogen wird der Essay (es sind im Grunde zwei voneinander losgelöste Texte) dabei von schiefer Metaphorik und scheiternder Poesie. Wo angesichts der Abscheulichkeiten dieser Zeiten auf seiten der Unterdrückten allenthalben nur »fatalistische Trägheit der Köpfe«, »Gleichgültigkeit der Gedemütigten« und »geistlose Anpassung« anzutreffen ist, durchlebt die Menschheit »den nächtlichen Tag der Weltnacht«, »hat sich der Klassenkampf zum ›Klassenmassaker‹« gewandelt, und das »stumme Leiden der aus dem System Verbannten, das Hegelsche ›namenlose Elende‹, verwandelt in das Blut der Geschichte, die auf eine bloße Metzgertheke reduziert ist, bleiben dauerhaft entschärft und passiv«. Schuld daran trägt eine Linke, die »vom Kampf gegen das Kapital zum Kampf für das Kapital übergelaufen« ist, weil sie die »wahre Natur« ihrer Politik wirksam zu verschleiern vermag: »Das heutige ›soziale Gemetzel‹ (…) beruht auf der Tatsache, dass auf einer roten Metzgerschürze die Blutspritzer der Arbeiter und Rentner, der Leiharbeiter und Arbeitslosen weniger sichtbar sind.«

    Für das Hässliche gibt es den Jargon der Fleischerei, für das Schöne, Zukünftige den der Esoterik: Da ist die Rede von einem alternativen Weltbild, das »Funken« entzündet, von einem »Kernstück des Ideals«, das in einer »sich immer weiter ausdehnenden Wüste« eine »Blume« ist, »die niemals welken wird«, da ist »Streben«, das ein »Hafen« ist, den Erich Fromm die »Stadt des Seins« nennt, »ein unerforschter Kontinent der Zukunft«, der in schönster Tautologie »das unbekannte Land« bleibt, und schließlich ein »Tagtraum von der Emanzipation«, der »auch weiterhin Polarstern des Denkens und Handelns« sein soll. Dazwischen flirren und surren »Sinngebung«, »Pathos«, »Erlösung« und »Reich Gottes« durch den Text.

    Aus dem aphoristischen Geraune erklingen bei aller beschwörenden Eschatologie manchmal Halbsätze von unerwarteter Klarheit, wie etwa das Bekenntnis zu »einer gemeinschaftlichen, klassenlosen Gesellschaft, ohne Ausbeutung des Menschen durch den Menschen«, das allerdings rasch wieder eingetrübt wird. Das Ziel heißt bei Fusaro nicht Kommunismus, der als »realer« ruhmlos untergegangen sei, sondern ominös »kosmopolitischer Kommunitarismus als Wahrheit des gesellschaftlichen Lebens«.

    Dieser anzustrebende Zustand gibt eine Ahnung vom politischen Ort bzw. Nicht-Ort des Autors. Fusaro, in Italien Dauergast des Polittalks, ist Gründer der Kulturvereinigung »Interesse Nazionale«. In deren »Manifest« wird die Empfehlung ausgesprochen, den alten »Gegensatz von rechts und links« zu überwinden und die »rechten Werte« wie die »linken Ideen« anzunehmen: rechts Verwurzelung, Vaterland, Ehre, Treue, Familie und Ethik; links Emanzipation, soziale Rechte, gleiche materielle und formale Freiheit, Würde der Arbeit, demokratischer Sozialismus in Produktion und Vertrieb.

    Derzeit stehen die Werte von rechts wieder höher im Kurs. Fusaro hat ein feines Gespür dafür. In verschiedenen Beiträgen konstatiert er mit Heidegger, dem »verhöhnten und verspotteten Riesen«, die Entwurzelung durch Globalisierung, die »nichts anderes als die Universalisierung des amerikanischen Lebensstils« sei, beklagt den »Schuldkult« der Deutschen und findet, die von den »heimatlosen Herren des Kapitals« gewollte »Massenimmigration«, die viel eher »Massendeportation« heißen müsse, ersetze eine »angestammte Bevölkerung« mit »kultureller Identität« und einem »Gedächtnis für Klassenkonflikte und soziale Errungenschaften«, der mit Hilfe der »Genderideologie« erfolgreich eingeredet worden sei, die Ablösung der Sexualität von ihrer Zeugungsfunktion zu begrüßen, durch ein Heer gedemütigter, postidentitärer und grenzenlos ausbeutbarer Sklaven. So »vielversprechend« präsentiert sich derzeit Italiens Nachwuchsphilosophie.

  • · Berichte

    Ideologische Abgründe

    Eine ärgerliche Edition von Vorlesungen Herbert Marcuses zeigt, dass dieser 1974 von Marx schon viel vergessen hatte
    Dirk Braunstein
    93730662.jpg
    Der Niedergang hat begonnen: Herbert Mercuse bereitete der Spätkapitalismus einiges Kopfzerbrechen (Podiumsdiskussion in Düsseldorf 1976)

    Nachdem 1879 eine neue Transkription der Tagebücher von Samuel Pepys erschienen war, sah sich Robert Louis Stevenson veranlasst, deren Herausgeber mitzuteilen, was er von dessen Eingriffen in die Textgestalt hielt: »Es gehört durchaus nicht zu den Pflichten des Herausgebers eines anerkannten Klassikers, darüber zu entscheiden, ob etwas ›die Geduld des Lesers überstrapazieren‹ könnte oder nicht. Entweder das Buch ist ein historisches Dokument,oder es ist es nicht«.

    Und so klingt das im Band »Kapitalismus und Opposition« mit Vorträgen Herbert Marcuses: »Wo notwendig, wurden unkommentiert einige Änderungen und ergänzende Notizen vorgenommen.« Fast abgesehen vom argen Deutsch: Wo erschien es den Herausgebern denn notwendig, welche Änderungen weshalb vorzunehmen? Welche Notizen wurden ergänzt? (Und was heißt das eigentlich?) »Aus Gründen der Präzisierung wurde ›Amerika‹ bzw. ›amerikanisch‹ durch ›USA‹ oder ›US-amerikanisch‹ ersetzt.« Natürlich nicht »oder«, sondern »bzw.«, aber davon abgesehen: weshalb denn? Ist der eingebildete Leser ein Unmündiger, dem der originale Text nicht zugemutet werden darf, weil er sonst die USA mit Paraguay verwechselte? »Die in den Texten verwendeten geschlechtsspezifischen Bezeichnungen schließen prinzipiell alle unterschiedlichen Geschlechtszuschreibungen ein.« Auch dort, wo Marcuse von der »Opposition in der Emanzipationsbewegung der Frauen« spricht? Die Herausgeber hätten gut daran getan, auf derlei Paternalismen zu verzichten. Stattdessen wählten die Verantwortlichen einen Weg der Rezeptionslenkung, auf dem keiner, der selbst denken und urteilen möchte, recht froh werden dürfte.

    Dass die Publikation kaum plausibel als eigenständige für sich einstehen kann, erhellt aus der Tatsache, dass von übersichtlichen 151 Seiten lediglich 64 den Text jener sieben Vorträge bieten, die der Untertitel – ohne dass die Benennung sich irgendwo und -wie legitimierte – als »Vorlesungen zum eindimensionalen Menschen« ausweist. (Der Rest ist, bis auf ein Interview, Material Dritter.) Tatsächlich hatten die Vorträge, die Herbert Marcuse im Frühjahr 1974 an der Pariser Universität Vincennes hielt, sofern wir die übers Buch verteilten editorischen Hinweise (von »Nachweisen« lässt sich leider nicht sprechen) recht verstehen, weder jeweils noch insgesamt Überschriften. Es wäre, um der Redlichkeit den Lesern gegenüber willen, nicht vollends abwegig gewesen, einen deskriptiven Titel zu wählen – wie mit der Vorlage, der englischen Übersetzung der französischsprachigen Manuskripte, »Paris Lectures«, akkurat verfahren wurde.

    »Persönliche Eindrücke aus Amerika« hätte es übrigens auch getan. Denn was Marcuse seiner Hörerschaft zumutet, sind weniger »Argumente aus den 1960er Jahren und 1970er Jahren, die auch für die heutigen Diskussionen über Kapitalismus und Opposition Anknüpfungspunkte bieten«, wie die Herausgeber wähnen, sondern vornehmlich meinungsstarke Einverständniserklärungen mit dem zeitgenössischen Nonkonformismus. An allen Ecken heißt es: »meiner Meinung nach«, »ich denke«, »ich tendiere dazu«, »ich glaube« und: »Die Vereinigten Staaten, wenn auch das Gesamtbild der US-amerikanischen Gesellschaft heute variiert, repräsentieren für mich die höchste Stufe in der Entwicklung des Monopolkapitalismus. Der ungewöhnlich hohe Grad an sozialer Kohäsion, Integration, der hohe Grad an allgemeiner Unterstützung für das etablierte System. Nicht der Regierung, aber des Systems selbst. Und dieser hohe Grad an sozialer und verbreiteter Kohäsion besteht, während die ökonomischen und politischen Schwierigkeiten des US-Kapitalismus zunehmen.« Allerdings waren ökonomische und politische Schwierigkeiten, wie immer sie auch aussahen, noch nie solche des Kapitalismus als sich selbst erhaltende Gesellschaftsform, sondern menschenvernichtende Geschäftsgrundlage des Ganzen. Marcuse stellt hingegen pseudoverblüfft fest, in den USA gebe es »keine radikale Opposition, fürwahr, auf Massenbasis. Es gibt noch nicht einmal ein Äquivalent zu, sagen wir, der britischen Labour-Party und der sozialdemokratischen Partei in Deutschland.«

    Und über soviel Zutrauen in die Selbsteinhegungskräfte der Gesellschaft in Richtung Kapitalismus mit menschlichem Antlitz haben wir recht herzlich lachen müssen. Doch der Glaube an das Gute im Schlechten hat damit noch kein Ende: »Schlussendlich glaube ich, dass die Revolution des 20. Jahrhunderts, wenn sie kommen sollte, dass diese Revolution die radikalste und umfassendste der gesamten Geschichte sein wird, dass es nicht nur eine politische und ökonomische, sondern auch eine kulturelle Revolution in dem Sinne sein wird, dass sie sie« – steht da so! – »einige der grundlegendsten Werte unserer Gesellschaft transformieren, angreifen wird.« Wenn die Revolution kommt, dann kommt sie; wenn nicht, nicht.

    Die Einseitigkeit, mit dem Marcuse sich dem Kapitalverhältnis nähert, führt zuweilen in ideologische Abgründe. So heißt es gleich im ersten Vortrag mit Blick auf die USA: »Wenn es unmöglich ist, ein Kandidat für die Präsidentschaftswahlen zu werden, ohne das Glück zu haben, eine Million Dollar zu besitzen, ist dies in jedem Fall eine seltsame Form von Demokratie.« – Ganz falsch ist die Aussage freilich nicht; es ist schlimmer: Sie ist insofern halb wahr, als der Verweis auf den immanenten Zusammenhang von Kapitalismus, eigentlich Marcuses Thema, und moderner Demokratie fehlt. Deshalb kann ihr heute jeder AfD-Anhänger zustimmen, um im nächsten Zug Merkel, die kein Kapital mitbringen musste, um Bundeskanzlerin zu werden, bloß unbedingten Gehorsam ihm gegenüber, als »Volksverräterin« gehängt sehen zu wünschen.

    Auf Überraschungen müssen sich die Leser der Vorträge nicht gefasst machen; gegessen wird, was auf den Tisch kommt: »In gewisser Weise partizipieren die Menschen tatsächlich an der Gestaltung der Gesellschaft. Die Menschen können tatsächlich ihren Willen ausdrücken, der aber nicht mehr ihr Wille ist, sondern durch die herrschende Klasse und ihre Werkzeuge zu ihrem Willen gemacht wurde.« Es ließe sich zwar füglich fragen, wessen Willen die herrschende Klasse denn notgedrungen zu dem ihren machen muss, aber immerhin macht sich hier noch so etwas von jener Dialektik im Denken geltend, auf die vollends verzichtet wird, wenn es schließlich mit der Revolution im 20. Jahrhundert hinhauen soll: »Es gibt Anzeichen dafür, dass immer mehr Menschen nicht mehr an das glauben und in Übereinstimmung mit dem handeln, was als systemerhaltende Werte bezeichnet werden kann, auf denen die ununterbrochene Existenz des kapitalistischen Systems basiert. Wenn Menschen nicht mehr an den Werten festhalten, die das System am Laufen halten, hat der Niedergang begonnen.«

    Wenn das mal stimmt! – Mit Marx, auf den sich Marcuse ausführlich bezieht, und mit Kritischer Theorie, als deren Vertreter er weiterhin gilt, hat dieser krud idealistische Glaube an die systemerhaltende Kraft irgendwelcher sogenannten Werte jedenfalls nichts zu tun.

  • · Blog

    Marx wieder in Trier

    Karl_Marx_Statue_in_56546818.jpg

    4,40 Meter hoch und rund 2,3 Tonnen schwer ist die Bronzeskulptur von Karl Marx, die am Dienstag auf einem Tieflader, verpackt in eine Transportkiste, im städtischen Bauhof Triers eintraf. Die Volksrepublik China schenkte die Plastik der Heimatstadt des Revolutionärs und Philosophen. Das Denkmal soll zum 200. Geburtstag von Marx am 5. Mai auf einem 1,10 Meter hohen Sockel nahe der Porta Nigra enthüllt werden. Der Bildhauer heißt Weishan Wu. Er gestaltete einen nachdenklichen Marx im Gehrock, der mit dem linken Fuß nach vorne schreitet. (dpa/jW)

  • · Berichte

    Arbeit, Ausbeutung und die Aktualität von Marx: Die neue Z.

    Arnold Schölzel
    SB_Kassen_im_Edeka_M_55831224.jpg
    Intensivierung von Arbeit mit Hilfe neuer Technik: Die Digitalisierung ist nichts, was irgendwann in der Zukunft akut wird, sie entfaltet ihre Wirkung längst in der Gegenwart

    Sogenannte Picker sammeln in Amazon-Lagern Waren ein und bringen sie zu den Packstationen. Den Weg zu den Produkten finden sie mit Hilfe von Handscannern, die zugleich Bewegungsprofile von ihnen speichern. Die Arbeitsweise sei »mit mobilen Fließbändern« vergleichbar. Jede »außerplanmäßige Verschnaufpause« wird dem Management angezeigt, dem eröffnet sich so durch die Digitalisierung »die Ausübung betrieblicher Herrschaft in bisher ungeahntem Ausmaß«. Marcus Schwarzbach illustriert mit diesen Zitaten aus einer sozialwissenschaftlichen Studie in der neuen Z. Zeitschrift marxistische Erneuerung, was er »Ausbeutung 4.0« nennt, genauer die Intensivierung von Arbeit mit Hilfe neuer Technik. Die Digitalisierung ist nichts, was irgendwann in der Zukunft akut wird, sie entfaltet ihre Wirkung längst in der Gegenwart.

    Schwarzbachs Beitrag ist einer von sechs zum Heftschwerpunkt »Marx 200: Arbeit und Ausbeutung«. Die Texte gehen der Frage nach, ob die von dem Philosophen und Ökonomen geprägten Begriffe noch aktuell sind, und beantworten sie überzeugend mit ja. So zeigt Klaus Müller unter dem Titel »Ausbeutung und Einkommensverteilung«, dass steigende Profite, erhöhte Mehrwertrate und sinkende Lohnquoten keine Angelegenheit des 19. oder 20. Jahrhunderts sind, sondern der Gegenwart. Er weist darauf hin, dass in der Bundesrepublik der Lohnanteil am jährlichen Volkseinkommen von 1950 bis 1980 stieg und seitdem wieder gesunken ist. So lassen sich fast vier Jahrzehnte im Zeichen der neoliberalen Umverteilung von unten nach oben zusammenfassen. Müller zeigt außerdem, dass die darin zum Ausdruck kommende verstärkte Ausbeutung zugleich vereinbar ist »mit einer Hebung des materiellen Wohlstands der Arbeiter«, auch mit einer Steigerung der Reallöhne.

    Erik Olin Wright legt dar, beim Begriff Ausbeutung handele es sich »um einen besonderen Typ von antagonistischer gegenseitiger Abhängigkeit der materiellen Interessen von Akteuren innerhalb ökonomischer Beziehungen«. Er schlägt vor, davon »nichtausbeuterische Unterdrückung« zu unterscheiden, etwa auf sexuellem und kulturellem Gebiet. Der ökonomische Ausbeuter sei vom Ausgebeuteten abhängig, der sexuelle nicht. Außerdem: Harald Werner untersucht an Hand der Begriffe »Lohnsklave« und »Abeitskraftunternehmer« den strukturellen Wandel kapitalistischer Ausbeutung. Heinz-Jürgen Krug und Rolf Schmucker befassen sich mit deren aktuellen Erscheinungsformen in heutigen Hochtechnologiefirmen.

    In der Rubrik »Arbeitskämpfe« analysieren u. a. Robert Sadowsky und Isa Paape den Tarifkonflikt in der Metallbranche. Paape fordert, gegen das Ansinnen der deutschen Unternehmer auf Verlängerung der gesetzlichen Arbeitszeit über den Gewerkschaftskampf hinaus politisch in die Offensive zu gehen und ein Arbeitszeitgesetz zu verlangen, das etwa die Wochenarbeitszeit auf 40 Stunden und nicht auf 60 Stunden wie jetzt begrenzt. Thomas Kuczynski steuert einen Diskussionsbeitrag zur Weiterentwicklung der Marxschen Werttheorie bei. Historisches, Systematisches und Gegenwärtiges zur Aktualität von Marx sind in diesem Heft in besonders gelungener Weise gebündelt.

  • · Hintergrund

    Denken und Handeln

    Über die Bedeutung von Karl Marx’ »Thesen über Feuerbach« für die Parteitheorie von Hans Heinz Holz
    Jürgen Lloyd
    89683498.jpg
    Theorie und Praxis – Arbeiter bei einer Demonstration im spanischen Pamplona während eines Generalstreiks (11.3.2012)

    Wir dokumentieren im folgenden den Vortrag »Marx’ ›Thesen über Feuerbach‹ und ihre Bedeutung für die Parteitheorie von Hans Heinz Holz«, den Jürgen Lloyd am vergangenen Sonnabend bei der jährlichen Tagung zu Ehren des am 26. Februar 1927 geborenen und am 11. Dezember 2011 verstorbenen kommunistischen Philosophen Hans Heinz Holz gehalten hat. Jürgen Lloyd ist Mitherausgeber der Zeitschrift Theorie und Praxis. (jW)

    Zur Formulierung ihres Parteiverständnisses beziehen sich Kommunistinnen und Kommunisten traditionell auf W. I. Lenin und dessen 1902 veröffentlichte Schrift »Was tun?«. Dort entwickelte Lenin eine Bestimmung sowohl der Aufgaben einer kommunistischen Partei als auch ihrer diesen Aufgaben angemessenen Organisationsform. Das erfolgte nicht dogmatisch aus einer vorgegebenen »Theorie der Partei«, sondern anhand zeitgenössischer Auseinandersetzungen.

    Gestritten wurde schon damals über zwei unterschiedliche Linien: einerseits die Orientierung auf eine Bewegung, die sich auf Gegenwartsinteressen beschränkt, oder andererseits eine darüber hinausgehende »Organisation von Revolutionären«, die nach Lenin die notwendige Form einer kommunistischen Partei darstellt. Ausgehend von ihrer Einschätzung, die Rolle des objektiven oder spontanen Elements müsse als Prinzip der gesellschaftlichen Entwicklung höher bewertet werden, betrieben die Anhänger der einen Linie – so Lenin – die Wandlung der Partei von einer »der sozialen Revolution zu einer demokratischen Partei der sozialen Reformen«. (LW 5, 362) Gegen diese Auffassung war Lenins Diktum gerichtet, dass es ohne revolutionäre Theorie auch keine revolutionäre Bewegung geben könne. Die Rolle der Spontaneität der Massen wurde von ihm dabei nicht geleugnet. Daraus entstehende Streikaktionen bezeichnete er als »Keimformen des Klassenkampfs«. Sie »kennzeichneten das Erwachen des Antagonismus zwischen den Arbeitern und den Unternehmern, aber den Arbeitern fehlte – und musste auch fehlen – die Erkenntnis der unversöhnlichen Gegensätzlichkeit ihrer Interessen zu dem gesamten gegenwärtigen politischen und sozialen System« (ebd., 385). Um revolutionär zu sein und nicht lediglich als »Partei der sozialen Reformen« zu enden, bedarf es eines Bewusstseins, das über die partiellen Gegenwartsinteressen und die daraus erwachsenden Konflikte hinausgeht. Dieses Bewusstsein und die Erkenntnis der Unversöhnlichkeit der Interessen gegenüber dem bestehenden System vermitteln sich aber nicht spontan aus den unmittelbaren Erfahrungen, sondern bedürfen der bewussten organisierten Aneignung einer Theorie. Daraus schließt Lenin: Letzteres zu bewirken, ist Aufgabe der kommunistischen Partei.

    Einzelnes und Ganzes

    Nicht nur innerhalb der Gesellschaft, sondern auch innerhalb der Arbeiterklasse besteht eine Vielfalt individueller und partikularer Interessen, die sich, so scheint es, immer weiter aufspalten, was gängig als Individualisierung bezeichnet (und von interessierter Seite befördert) wird. Wie aber kann es dann angesichts dieser Heterogenität der Einzel- und Gruppeninteressen zu einem gesamtgesellschaftlichen Bewusstsein des herrschenden Systems kommen?

    In seiner Schrift »Kommunisten heute« gibt Hans Heinz Holz darauf eine Antwort, die durchaus in Übereinstimmung mit der steht, die Lenin in »Was tun?« gegeben hat. Holz berücksichtigt dabei allerdings noch einen weiteren Aspekt, den er aus den Marxschen »Thesen über Feuerbach« herausarbeitet. Das Leninsche Parteiverständnis soll dabei jedoch nicht, um ein Missverständnis zu vermeiden, korrigiert werden. Explizit hat Holz die Konzeption von Lenin als fortgeschrittene Weiterentwicklung des Parteientwurfs bei Marx und Engels benannt: »Nicht so, als ob nicht schon in den klassischen Programmschriften seit dem Kommunistischen Manifest der Grundriss dieser Architektur entworfen gewesen wäre. Wohl aber gewinnen in der Ausgestaltung des Gebäudes nun einzelne Elemente, bedingt durch die zugespitzte politische Aufgabenstellung, ein neues Gewicht.« (Einheit und Widerspruch III, S. 481) Um in diesem Bild zu bleiben: Der Blick auf einen Bestandteil dieses »Grundrisses« in den Feuerbachthesen hat weder die Intention noch das Potential, die Bauarbeit Lenins zu revidieren. Was anscheinend bei den politischen Aufgabenstellungen für Lenin bei seiner »Ausgestaltung des Gebäudes« keine so elaborierte Hervorhebung erforderte, wie für Marx und Engels bei ihrem Weg hin zur Aufhebung und Verwirklichung der Philosophie, ist die Frage des Verhältnisses von Theorie und Praxis.

    Wie ist Einheit denkbar?

    »Und das ganze sozialistische Prinzip ist wieder nur die eine Seite, welche die Realität des wahren menschlichen Wesens betrifft. Wir haben uns ebensowohl um die andre Seite, um die theoretische Existenz des Menschen zu kümmern, also Religion, Wissenschaft etc. zum Gegenstande unserer Kritik zu machen. […] Es fragt sich, wie ist das anzustellen?« (MEW 1, 344) So artikuliert Marx 1844 in den »Deutsch-Französischen Jahrbüchern« die Problemstellung, sowohl die praktische Änderung der bestehenden Zustände, als auch das – mit diesen bestehenden Zuständen verbundene – Bewusstsein zu ändern. Hier zeigt sich Marx als Dialektiker, bleibt aber dennoch dem Denkmodell Feuerbachs verhaftet: »Die Reform des Bewusstseins besteht nur darin, dass man die Welt ihr Bewusstsein innewerden lässt, dass man sie aus dem Traum über sich selbst aufweckt, dass man ihre eignen Aktionen ihr erklärt. […] Unser Wahlspruch muss also sein: Reform des Bewusstseins nicht durch Dogmen, sondern durch Analysierung des mystischen, sich selbst unklaren Bewusstseins, trete es nun religiös oder politisch auf.« (S. 346) Hier sind Theorie und Praxis zwar gleichermaßen zu bearbeitende Seiten der Realität, aber sie bleiben getrennt – nämlich als isoliert zu bearbeitende Aufgaben.

    Ein Jahr später hat Marx seine Antwort auf die beiden Veränderungsforderungen weiterentwickelt, so dass er eine einheitliche Antwort auf die Forderungen nach praktischer Veränderung der Welt und nach Änderung der theoretischen Seite – also des Bewusstseins über die Welt – geben kann und damit zur Aufgabenstellung kommt, Theorie und Praxis zu einer Einheit zu vermitteln. Sein Schlüssel hierzu findet sich in den »Thesen über Feuerbach« im Begriff der »revolutionären Praxis«. In der dritten These konstatiert Marx: »Das Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung kann nur als revolutionäre Praxis gefasst und rationell verstanden werden.«

    Wie expliziert Hans Heinz Holz nun die Möglichkeit zur Vermittlung von Theorie und Praxis zu einer Einheit? Im Heft 27 (2007) der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Topos findet sich in einem Aufsatz über die »Philosophisch-politischen Perspektiven des Marxismus heute« eine hilfreiche Formulierung. Holz schreibt dort: »Der Marxismus stellt – als politische Handlungsanleitung – die Einheit von Theorie und Praxis her. Das heißt nicht einfach, dass jede Praxis von theoretischen Erwägungen begleitet und geleitet wird; in diesem trivialen Sinne gilt das für jedes Handeln, zumal für jede Politik. Vielmehr durchdringen sich im Marxismus philosophische Theorie und politische Praxis in der Weise, dass jede theoretische Konzeption als ein Moment der Praxis, als eine Position innerhalb der Fronten des Klassenkampfs definiert wird.« (Hervorhebung J. L.) Innerhalb des Klassenkampfs eine Position zu bestimmen, ist ein ebenso theoretisches wie praktisches Unterfangen. Und zwar nicht nur ein gleichzeitig – also zur gleichen Zeit und vielleicht auch noch am gleichen Ort – stattfindendes, aber dennoch je anderes Unterfangen, sondern es ist identisch. Positionsbestimmung im Klassenkampf ist ein Verhalten zur und in der Welt, eine Reflexion über die eigene Stellung in der geschichtlich gewordenen und geschichtlich sich fortentwickelnden Welt, welches nie anders denn als Einheit von Theorie und Praxis möglich ist.

    Für die kommunistische Partei, die auf dem Marxismus gründet, bedeutet dies, dass sie ihren Charakter als Ort der Vermittlung von Theorie und Praxis dann erfüllen kann, wenn sie ihrer Theorie und ihrer Praxis stets den Charakter zukommen lässt, Positionsbestimmung im Klassenkampf zu sein. (Und die Beschreibung der KP als Partei der Arbeiterklasse ist in der doppelten Bedeutung des Genitivs »Partei der Arbeiterklasse« ein Ausdruck dieser Positionsbestimmung.) Was folgt daraus – über die Definition des Charakters der Partei hinaus – für deren Arbeitsweise?

    Theorie ist nicht ein Fundus von Ansichten und Einsichten, den wir erwerben und besitzen, um ihn dann – in einem zweiten, separaten Schritt – zur Gestaltung unserer Praxis in Anwendung zu bringen. Das wäre Dogmatismus, würde darauf hinauslaufen, was Marx in der dritten Feuerbachthese als Problem beschreibt, wenn Veränderung der Umstände und Selbstveränderung nicht im Begriff der »revolutionären Praxis« als zusammenfallend gedacht werden: Dann muss die Gesellschaft in zwei Teile – von denen der eine über ihr erhaben ist – getrennt erscheinen. Dass es keinen solchen – dogmatisch bestimmten – Fundus an fixen Theorieinhalten gibt, gilt für jede einzelne Aussage des Marxismus, von der Erklärung des Werts einer Ware über die Einsicht in die Rolle von Klassenkämpfen in der Geschichte menschlicher Gesellschaft, bis zur Aufgabenstellung kommunistischer Bündnispolitik im Kampf gegen den Faschismus. Wenn es nicht möglich ist, die jeweilige theoretische Einsicht als Bestimmung einer Position im Klassenkampf zu fassen und dadurch auch deren – praktische – Notwendigkeit festzulegen, haben wir den Boden des Marxismus verlassen und landen bei dogmatischen Abstraktionen und voraussichtlich in den Fängen des Opportunismus und der bürgerlichen Ideologie. Das gilt selbst für diese Charakterisierung des Marxismus: Nur weil und nur wenn der Marxismus sich selbst als Reflexion über die eigene Position im Klassenkampf begreift und sich nicht außerhalb der Geschichte stellt, ist er in der Lage, die Kritik der Feuerbachthesen zu bestehen.

    Hans Heinz Holz hat diese Bedingtheit in seinen »Thesen über die Zukunft des Marxismus« 1991 in die Formulierung gefasst: »Die marxistische Theorie – als die einzige, die die historische Notwendigkeit, die Struktur und die Entstehung von Klassenbewusstsein reflektiert und damit Klassenbewusstsein erzeugt – ist ein unentbehrliches Moment des geschichtlichen Fortschritts, das heißt der Emanzipation.« (These 4, Zukunft des Marxismus, 1995, S. 60)

    Doppelbestimmung der Partei

    Um diese Überlegungen auf etwas einfacher Fassbares herunterzubrechen und als Anwendungsbeispiel eine Konsequenz aufzuzeigen: Die Bildungsarbeit einer Kommunistischen Partei muss dem hier herausgearbeiteten Verhältnis der Kommunistinnen und Kommunisten zur Theorie entsprechen. Sie verfehlt ihre Aufgabe, wenn es ihr nicht gelingt, ihre Inhalte als ein »Moment der Praxis, als eine Position innerhalb der Fronten des Klassenkampfs« zu vermitteln. Die bloße Verkündung von Einsichten, die zuvor von noch so klugen Vordenkern theoretisch errungen wurden, genügt dem nicht. (Wiewohl die Einordnung eigener Einsichten in eine ganze Tradition theoretischer Arbeit ein wichtiger Bestandteil marxistischer Weltanschauung bleibt.) Marxistische Bildungsarbeit ist an die Voraussetzung gebunden, dass die Genossen ein praktisches Interesse an der Veränderung der Welt – so wie sie ist – haben und sich dieses Interesses auch bewusst sind. Dieses Interesse konstituiert dabei eine Position im Klassenkampf, deren weitere theoretische Entfaltung Gegenstand der marxistischen Bildung sein muss. In der bedeutenden Funktion der Arbeiterbildungsvereine für die Herausbildung der Arbeiterbewegung war dieser Zusammenhang präsent, und auch in den Schriften und Materialien eines so herausragenden Repräsentanten marxistischer Bildungsarbeit wie Hermann Duncker findet sich dieser Ansatz wieder.

    Doch nicht nur für die Theorie, auch für die Praxis einer KP ist es von Bedeutung, dass sie als Moment der Positionsbestimmung im Klassenkampf ausgeübt wird. Ohne Bezug auf die Konstellation der unterschiedlichen und in einer Klassengesellschaft auch gegensätzlichen Interessen und den jeweiligen Bedingungen, unter denen diese um ihre Durchsetzung ringen, bleibt eine politische Praxis der beherrschten Klasse zwingend erfolglos. Lenin hat 1913 in seiner Schrift über die »Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus« davor gewarnt: »Die Menschen waren in der Politik stets die einfältigen Opfer von Betrug und Selbstbetrug, und sie werden es immer sein, solange sie nicht lernen, hinter allen möglichen moralischen, religiösen, politischen und sozialen Phrasen, Erklärungen und Versprechungen die Interessen dieser oder jener Klassen zu suchen.« Die vielfältigen Kämpfe gegen die Zumutungen des kapitalistischen Systems (Kampf um besser ausgestattete Schulen, gegen Kriege, um ausreichende Entlohnung, gegen Aufmärsche faschistischer Gruppierungen, um Verkürzung der Arbeitszeiten, gegen die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen der Menschen etc.) bleiben Kämpfe um Gegenwartsinteressen von Individuen oder Gruppen von Individuen. Sie bleiben als solche dem Prinzip kapitalistischer Konkurrenzgesellschaft subsumierbar, können gegeneinander ausgespielt, umgelenkt und zur Systemstabilisierung genutzt werden. Hier liegt die ständige Gefahr begründet, dass Reformkämpfe in einer opportunistischen Einbindung der Arbeiterklasse in das System bürgerlicher Herrschaft enden können. Erst durch ihre Einordnung in den Zusammenhang des Kampfs zur Überwindung dieses Systems erlangen Reformkämpfe eine Perspektive jenseits der »Handwerklerei« und des allgegenwärtigen »Betrugs und Selbstbetrugs«. Die Fähigkeit, diese Perspektive aufzuzeigen und zu begründen, unterscheidet die revolutionäre KP von anderen Parteien. Im »Manifest der Kommunistischen Partei« arbeiten Marx und Engels deren besondere Wesensart als parallele Bestimmung in Theorie und Praxis heraus: Die Kommunisten »haben theoretisch vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus.« (MEW 4, 474, Hervorhebung J. L.) Praktisch sind sie »der entschiedenste, immer weitertreibende Teil der Arbeiterparteien aller Länder« (ebd.). Und diese doppelte Bestimmung erfüllen sie, weil sie »in den verschiedenen Entwicklungsstufen, welche der Kampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie durchläuft, stets das Interesse der Gesamtbewegung vertreten« (ebd.). In genau diesem Sinn spricht Holz von der Einnahme einer »Position innerhalb der Fronten des Klassenkampfs« als Realisierung der Einheit von Theorie und Praxis. Und in genau diesem Sinn, wie Marx und Engels es im Kommunistischen Manifest bestimmen, gibt Holz die kommunistische Partei als den Ort dieser Einheit an.

    Theorie-Praxis-Einheit

    Die in Marx’ Feuerbach-Thesen als Fortschrittsnotwendigkeit eingeforderte Theorie-Praxis-Einheit führten Marx und Engels konsequent zum drei Jahre später verfassten »Manifest der Kommunistischen Partei«. Auf dem Weg dorthin lag die polemische Auseinandersetzung mit den »wahren Sozialisten«, von denen Engels 1847 in »Der Status quo in Deutschland« schrieb: »Aber unsre wahren Sozialisten sind keine Parteimänner, sondern deutsche Theoretiker. Es handelt sich für sie nicht um praktische Interessen und Resultate, sondern um die ewige Wahrheit. Die Interessen, die sie zu vertreten streben, sind die ›des Menschen‹, die Resultate, denen sie nachjagen, beschränken sich auf philosophische ›Errungenschaften‹.«

    Die Frage der Theorie-Praxis-Einheit stellt sich so als die Seite der Entwicklung von Marx und Engels von den Feuerbach-Thesen hin zur Ausarbeitung des Manifests dar, die als theoretische Notwendigkeit zu dieser Entwicklung drängt. Gleichzeitig existiert ein zweiter Strang, der die Seite der Möglichkeit dieser Entwicklung wiedergibt. Hans Heinz Holz beschreibt diese in seinem ersten Band zur »Aufhebung und Verwirklichung der Philosophie« im Kapitel zum Manifest: »Erst Marx und Engels haben den Münchhausen-Akt der Selbsterzeugung des Subjekts der Geschichte und seiner Fortzeugung auf immer neuen Stufen ohne einen logischen Salto mortale zu erhellen vermocht.« (S. 223) Mit der in den Feuerbach-Thesen artikulierten Wende vom bloß »anschauenden« zum dialektischen Materialismus öffnet sich der Weg zu einem neuen Geschichtsverständnis (zu dem, wie Holz schreibt, das Manifest dann den »Grundriss« gibt). In der »Deutschen Ideologie« gaben Marx und Engels bereits die wirkliche Voraussetzung für alle Geschichte an, nämlich die Voraussetzung, dass die Menschen »imstande sein müssen zu leben, um ›Geschichte machen‹ zu können«. (MEW 3, 28) Die Produktion des materiellen Lebens ist deswegen die »erste geschichtliche Tat«. Und die Bedingungen, unter denen die Menschen ihr Leben produzieren und reproduzieren (die Marx dann in seiner Beschäftigung mit der Ökonomie genauer analysiert und als Produktionsverhältnisse einer Epoche fasst), sind damit zugleich die Bedingungen, unter denen die Menschen »Geschichte machen« können. »Alles gesellschaftliche Leben ist wesentlich praktisch«, heißt es in der achten Feuerbachthese, und die Mysterien »finden ihre rationelle Lösung in der menschlichen Praxis und in dem Begreifen dieser Praxis«.

    Ort der Verschmelzung

    Ein Geschichtsverständnis, das Theorie und Praxis zu einer Einheit vermittelt, zielt dabei auf eine Partei, die sich nicht nur als Organisation zur alleine den Erfolg ermöglichenden, also notwendigen, Zusammenfassung der Unterdrückten zum Kampf gegen die gegebene Klassenherrschaft versteht (obwohl die Partei dies zwingend auch sein muss). Die Partei muss in der Lage sein, als »Kampfgemeinschaft von Gleichgesinnten« den Genossinnen und Genossen ein Ort zum (nicht nur gedachten oder gefühlten – sondern wirklichen) Überschreiten des herrschenden, eine gemeinsame Praxis verunmöglichenden, Konkurrenzsystems zu sein.

    Dazu bedarf es der kommunistischen Partei, die sich eben nicht im Versuch, das Bestehende zu verbessern, selbigem anpasst und sich dabei opportunistisch verrennt. Es bedarf einer Partei, die tatsächlich Theorie und Praxis als Einheit verkörpert, die also nicht ihr Scheitern an dieser Aufgabe bereits dadurch demonstriert, dass sie in der Praxis eine Reformpolitik anstrebt (was an sich berechtigt sein kann), aber jegliche darüber hinausgehende Perspektive in die – von der Praxis losgelöste – Sphäre »weitergehender Ideen« verbannt, die sie sich dann nur noch als bloße Theorie zu propagieren vorbehält. Das wäre das Gegenteil der Einheit von Theorie und Praxis und würde das im Manifest betonte »Interesse der Gesamtbewegung« und die Einsicht in die das bestehende System überschreitenden »Resultate der proletarischen Bewegung« nicht als Moment der Praxis behandeln, sondern als isolierte – also »rein scholastische« (MEW 3, 5) – Theorie abtrennen.

    Notwendig ist eine Partei, die die eigene Praxis als reflektierte Praxis entwickelt, also die Reflexion zur Bewegungsform der Praxis macht, die daher ohne jedes Schaudern in der Lage ist, die »weitergehenden Ideen« in der aktuellen politischen Praxis zu denken und stets auch die gegenwärtige Praxis als Bewegungsform der »weitergehenden Ideen« konstruiert. Mithin also eine Partei, die dem in den Feuerbachthesen gefassten Gedanken der Einheit von Theorie und Praxis einen Ort in der Wirklichkeit gibt. D. h. einen Ort in der bürgerlichen Klassengesellschaft, in dem das Zusammenfallen von Ändern der Zustände und Selbstveränderung konkret erfahrbar ist.

    Das ist es, was Hans Heinz Holz seinen Genossinnen und Genossen als zu verwirklichende Aufgabe zuschreibt. Er macht das im Rückgriff auf das Philosophisch-politische Programm von Marx und Engels, welches sich in Marx’ »Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie« (1843) und in den »Ökonomisch-philosophischen Manuskripten« (1844) anbahnte, mit der »Heiligen Familie« (1844) und der »Deutschen Ideologie« (1845/46) in polemischer Form ausgebildet wurde, in den »Thesen über Feuerbach« (1845) eine zur Essenz konzentrierte Formulierung fand und sich schließlich im »Manifest der Kommunistischen Partei« (1848) in der doppelten Feststellung niederschlägt, was die Kommunisten – in Theorie und Praxis – in ihrer besonderen Existenz in der bürgerlichen Gesellschaft kennzeichnet.

    Literatur:

    Hans Heinz Holz: Thesen über die Zukunft des Marxismus, in Domenico Losurdo (Hrsg.) Zukunft des Marxismus, Köln 1995

    Hans Heinz Holz: Kommunisten heute. Die Partei und ihre Weltanschauung, Essen 1995

    Hans Heinz Holz: Dialektik. Problemgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart, Bd. 5, Darmstadt 2011

    Hans Heinz Holz: Philosophisch-politische Perspektiven des Marxismus heute, in: Topos 27, Berlin 2007

    Hans Heinz Holz: Aufhebung und Verwirklichung der Philosophie, Bd 1, Die Algebra der Revolution. Von Hegel zu Marx, Berlin 2010

    Wladmir I. Lenin: Werke, 40 Bde., hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus, Berlin 1961–1975 (LW)

    Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, 42 Bde., hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus, Berlin 1981–1983 (MEW)

  • · Berichte

    Gedenken an Karl Marx verfassungsfeindlich?

    Hessischer Geheimdienst bringt neue »Beweise« gegen die Antifaschistin Silvia Gingold vor
    Wiebke Diehl
    Silvia_Gingold_klagt_52134508.jpg
    Silvia Gingold am 12. Januar 2017 vor dem Justizzentrum in Wiesbaden. Damals, vor gut einem Jahr hatte sie ihre Klage gegen ihre Überwachung durch den sogenannten Verfassungsschutz eingereicht

    Silvia Gingold wehrt sich gegen ihre Bespitzelung durch Beamte des hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz (LfV) – bislang vergeblich. Im Oktober hatte das Verwaltungsgericht Kassel ihre Klage auf Beendigung ihrer geheimdienstlichen Beobachtung und auf Vernichtung der entsprechenden Aktenbestände abgewiesen (siehe jW vom 11.10.2017). Gingold hat gegen diese Entscheidung Berufung eingelegt. Jetzt hat das LfV in Reaktion darauf neue »Beweise« vorgelegt, um das Gericht zu einer Abweisung des Antrags zu bewegen. Verfahrensmängel habe es selbstverständlich nicht gegeben, legt der Beklagte auf mehreren Seiten dar. Vielmehr könne man in einem etwaigen Berufungsverfahren noch »weitere, die extremistischen Bestrebungen der Klägerin belegende Tatsachen vortragen (…)«. Nur ein Beispiel sei deren Rede auf einer Veranstaltung anlässlich des 199. Geburtstags von Karl Marx im vergangenen Jahr auf einem öffentlichen Platz in Kassel.

    Das LfV wirft Gingold ihre Aussagen über die Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend (SDAJ) auf dieser von dem damaligen Bundestagsabgeordneten Wolfgang Gehrcke (Die Linke) organisierten Veranstaltung vor. Gehrcke hatte die Veranstaltung organisiert. Gingold hatte in ihrer Rede darauf verwiesen, dass die SDAJ aus den sozialen Bewegungen der 68er entstanden sei, Schüler und Lehrlinge »für bessere Bildung und Ausbildung, für demokratische Rechte in Schule und Betrieb sowie für antimilitaristische und antifaschistische Aktionen mobilisiert« habe. Gingold weiter: »Als marxistische Jugendorganisation stritt sie, und sie tut es bis heute, für eine sozialistische Alternative zum kapitalis­tischen System.« Eben diese Aussage bestätige die Einschätzung des Verwaltungsgerichts, wonach sich »eine Zäsur in den Aktivitäten der Klägerin nicht feststellen lasse«, heißt es in der Stellungnahme des Inlandsgeheimdienstes. Und weiter: Die Klageabweisung vom Oktober anzufechten sei keinesfalls erfolgversprechend, denn die Klägerin verkenne, »dass die Bejahung der von ihr ausgehenden extremistischen Bestrebungen nicht allein auf ihre Betätigung für die VVN-BdA (Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten, d. Red.) zurückgeht, sondern auch auf Verhaltensweisen im Kontext weiterer linksextremistischer bzw. linksextremistisch beeinflusster Organisationen wie namentlich der DKP, der SDAJ und der Unsere Zeit«.

    Silvia Gingold ist Tochter der antifaschistischen Widerstandskämpfer Etti und Peter Gingold. Sie engagiert sich seit Jahrzehnten in der Friedensbewegung, gegen Neonazis und Rassismus sowie gegen Berufsverbote, von denen sie selbst betroffen war. Sie werde weiter gegen die Bespitzelung ihrer Person durch das LfV vorgehen und sich nicht durch dessen neue »Beweise« für ihre »linksextremistischen Bestrebungen« einschüchtern lassen. »Dieser Inlandsgeheimdienst, der selbst zutiefst verstrickt ist in die Unterstützung des terroristischen NSU, täte gut daran, gegen die Bedrohung durch den Rechtsterrorismus vorzugehen, anstatt einen immensen Aufwand zu betreiben, Bürgerinnen und Bürger, die sich gegen Rassismus und Nationalismus zur Wehr setzen, zu bespitzeln«, sagte Gingold am Dienstag im Gespräch mit jW.

  • · Literatur

    Noch immer ein Sprengsatz

    Die Philosophiezeitschrift Widerspruch würdigt Karl Marx
    Reinhard Jellen
    14706492484_547c097a92_o.jpg
    Das Gegenteil von Reduktionismus, immer wieder

    Naheliegenderweise widmet die Münchner Philosophiezeitschrift Widerspruch Geburtstagskind Karl Marx ihre neueste Ausgabe. Die Aktualität seines Denkens verhandeln darin in zwanzig Stellungnahmen renommierte Philosophen und Gesellschaftswissenschaftler aus dem In- und Ausland. Es ist auffällig, dass alle Autoren mit der Marxschen Denkweise etwas anzufangen wissen. Das war freilich nicht immer so. Gegen sie wurde lange eine Reihe Standardargumente ins Feld geführt: Der Ökonomismus sei reduktionistisch, der Fortschrittsoptimismus veraltet, die Kapitalismusanalyse antiquiert etc. pp. Keiner dieser traditionellen Einwände findet sich in den Beiträgen. Die meisten Autoren heben vielmehr hervor, dass Marx’ Verfahren paradigmatisch für eine Wissenschaft sei, die den gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang vor Augen habe – also das Gegenteil von Reduktionismus.

    Dieser grenzüberschreitende Charakter des Marxschen Schaffens betreffe sowohl die empirischen Einzelwissenschaften wie die begrifflich-systematische Philosophie. So hebt etwa Martin Schraven hervor, wie Marx ständig darum rang, das Verhältnis von dialektischem Denken, verständiger Erkenntnis und sinnlicher Wahrnehmung in der Wissenschaft zu bestimmen. Offenbar wird seine Theoriebildung als Kontrast zu den immer weiter auseinanderdriftenden Spezialwissenschaften und zu einem »Fachidiotentum« wahrgenommen, das sich gerade in den Gesellschaftswissenschaften ausbreitet. Allerdings steht eine Reihe von Autoren wie Daniel Loick, Tilman Reitz oder Hans-Martin Schönherr-Mann der Marxschen Dialektik skeptisch gegenüber, die sie durch andere Verfahren wie etwa die geneologische Methode Foucaults oder die Systemtheorie Luhmanns ersetzen oder zumindest ergänzen wollen.

    Fast in allen Beiträgen wird hervorgehoben, dass das Marxsche Werk nicht abgeschlossen, sondern ein »Work in progress« gewesen sei. Martin Bondeli fasst dies passend ins Bild einer »Baustelle«, an der heute weiterzuarbeiten, dabei aber auch manches abzutragen und zu ersetzen, manches zu restaurieren und an einigen Stellen auch anzubauen wäre. Weniger die Marxsche Theorie als vermeintlich in sich geschlossenes System, sondern sein unabgeschlossenes, sich ständig erweiterndes und Neues verarbeitendes Denken wird heute als vorbildlich angesehen. Über das Methodische hinaus wird Marx – freilich mit unterschiedlicher Gewichtung – auch als »Philosoph der Praxis« verstanden, für den die Theoriebildung zugleich integrales Moment der Veränderung der bestehenden Verhältnisse war. Michael Hirsch nennt beispielsweise den Kampf für die Reduktion der notwendigen Arbeitszeit, Martin Schraven die Forderung nach Überwindung des Privateigentums an Produktionsmitteln und Werner Seppmann die Aufklärung verdinglichter Bewusstseinsformen.

    Überraschende Einigkeit herrscht unter den Autoren auch hinsichtlich der »analytischen Kraft« des »Kapitals«, welche nicht nur die Produktivität, sondern vor allem die Destruktivität der kapitalistischen Produktionsweise begreiflich macht. War es lange Zeit üblich, seine »Kritik der politischen Ökonomie« mit dem Argument zu historisieren, Marx habe »nur« den Konkurrenzkapitalismus des 19. Jahrhunderts vor Augen gehabt, nicht aber die »soziale Marktwirtschaft« oder den »Monopolkapitalismus« des 20. Jahrhunderts, so sind diese Stimmen angesichts des globalen »Turbokapitalismus« offenbar verstummt. Dominik Finkelde zeigt die unmittelbare Fruchtbarkeit der Marxschen Kategorie des »Fetischcharakters der Ware« für die Analyse gegenwärtiger quasi-religiös aufgeladener Statussymbole, etwa aus dem Hause Apple. Elmar Altvater legt dar, dass allein die Einsicht in den »Doppelcharakter der Arbeit« ein rechtes Verständnis der kapitalistischen Dynamik der Naturzerstörung ermöglicht. Und Fritz Reheis führt aus, wie sich mit Hilfe des Kapitalbegriffs (als sich verwertender Wert) die parallel erfolgenden Vorgänge räumlicher Globalisierung und zeitlicher Beschleunigung ökonomischer und sozialer Prozesse verstehen und kritisieren lassen. »Allein ein Blick auf die real existierenden Formen des Kapitalismus zeigt«, fasst Konrad Paul Liessmann zusammen, »dass Marxens Werk mehr ist als ein Steinbruch – richtig gelesen, wäre es noch immer ein Sprengsatz«.

  • 1
  • 2