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20.06.2018, 19:14:30 / Marx 200

Krise und Revolution

Der Wirtschaftskrach gehört notwendig zur kapitalistischen Produktionsweise. Über Karl Marx’ Krisentheorie
Von Guenther Sandleben
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Die sogenannte wirtschaftliche Depression ist oft eine Folge von Überproduktion. Aktuell ist es vor allem die asiatische Stahlindustrie, deren Produkte allerorten präsent sind – Arbeiter auf einem Umschlagplatz in Taiwan (19.2.2009)

Bis heute nimmt die Marxsche Krisentheorie eine einzigartige Stellung ein. Wie in keiner anderen Theorie werden die tieferen Wurzeln der Wirtschaftskrise thematisiert, die bis hinunter zur gewöhnlichen Warenproduktion reichen. Es liege an der modernen Art und Weise des Produzierens, dass es notwendig zu Krisen kommen muss. Mit dieser These rückte Marx den kapitalistischen Akkumulationsprozess mit seinen Produktions- und Verteilungsverhältnissen ins Zentrum der Analyse. Wirtschaftskrisen sieht er als Knotenpunkte. In ihnen konzentrieren sich die Widersprüche und spitzen sich zu, vorübergehend gleichen sie sich aber auch gewaltsam aus. Geld-, Kredit-, Banken- und Finanzmarktkrisen werden als besondere Phasen der Wirtschaftskrise aufgefasst. Wenn aber die Ursachen der Krise im kapitalistischen Kernprozess selbst stecken, kann es keine davon getrennte, äußere Krisenerklärung geben.

Anders als die Marxsche Theorie gehen die übrigen Konjunktur- und Krisenlehren entweder von äußeren Faktoren aus, oder sie reduzieren das Krisenproblem auf Teilaspekte: auf zu niedrige Löhne (Unterkonsumtionstheorie), auf akkumulationsbedingt zu hohe Löhne (Profitklemmen-Theorie), auf Disproportionen und auf Überakkumulation. Hier ist schon angedeutet, dass selbst solche Krisentheorien, die vorgeben, an den Marxschen Überlegungen anzuknüpfen, nicht die Fülle der Krisenaspekte systematisch zusammenbringen, die Marx ausgeführt, zumindest aber angedacht hat.

Negative Seite

Die Einzigartige der Marxschen Krisentheorie besteht zudem darin, dass sie sich nicht auf die Klärung ökonomischer Funktionsmechanismen reduziert. Als Teil einer umfassenden Akkumulationstheorie kehrt sie die geschichtlichen Tendenzen der kapitalistischen Produktionsweise hervor. Die Krise wird als die äußerst problematische, negative Seite des Wirtschaftssystems thematisiert. Als ihr wichtigstes Symptom nennt Marx die Überproduktion: Das Zuviel an Lebensmitteln, Industrieprodukten etc. führe zu Hungersnot und Barbarei. Damit ist die paradoxe Situation ausgerückt, dass Elend nicht nur inmitten des Reichtums entsteht, sondern dass dieser Reichtum eine Masse von Menschen periodisch ins Elend stürzt, dass also das kapitalistische System unfähig ist, seinen Lohnabhängigen selbst eine bescheidene Existenz dauerhaft zu sichern. Produkte und Produktivkräfte würden vernichtet. Solche Zuspitzungs- und Zerstörungsprozesse sind nach Marx Ausdruck einer periodisch eintretenden, von Krise zu Krise weiter wachsenden Empörung der modernen Produktivkräfte gegen die modernen Produktionsverhältnisse, d. h. sie stehen für eine Zuspitzung des Klassenkampfes, der in Richtung Revolution dränge. Die Krisentheorie von Marx ist Teil seiner Revolutionstheorie.

Eine von der allgemeinen Akkumulationstheorie losgelöste Krisenlehre ist von der Sache her gar nicht möglich, so dass Marx kein eigenständiges Werk über die Krise schreiben konnte. Seine Überlegungen dazu finden sich breit gestreut vor allem in seinen ökonomischen Schriften, wobei ich auf folgende aufmerksam machen möchte:

– Manifest der Kommunistischen Partei, Marx-Engels-Werke, Bd. 4, S. 467 (Verbindung von Krisen- und Revolutionstheorie)

– Das Kapital, Bd. I, MEW 23, S. 127 f. u. S. 152 (Möglichkeit der Krise) sowie S. 661 f. (Zyklizität der Krise)

– Das Kapital, Bd. II, MEW 24, S. 185 f. (Periodizität der Krise)

– Das Kapital, Bd. III, MEW 25, S. 251–270 (Krisenursachen) sowie S. 493 ff. (Kreditzyklus)

– Theorien über den Mehrwert, MEW 26.2, S. 492–535 (Krisenbegriff, Möglichkeit und Notwendigkeit von Krisen).

Nach wie vor diskutiert wird, inwieweit Marx angesichts einer fehlenden Gesamtdarstellung des Krisenprozesses überhaupt eine allgemeine Krisentheorie aufgestellt hat. Wenn man die verschiedenen Passagen zur Krise zusammenträgt, findet man entgegen mancher Bedenken allerdings eine genaue Beschreibung des Krisenzyklus und eine Theorie darüber, warum Krisen möglich sind, worin die Notwendigkeit ihrer Entstehung liegt und weshalb sie eine Periodizität von etwa sieben bis elf Jahren besitzen.

»Geldhungersnot«

Die tiefsten Wurzeln der Krise reichen bis hinunter zur Ware, die sich nach Marx von einem Produkt dadurch unterscheidet, dass sie einen Preis besitzt, worin sich die eigentümliche gesellschaftliche Form der Arbeit ausdrückt: Dabei ist der gesellschaftliche Charakter nur mittelbar gegeben als solcher der Privatarbeit, mit der Konsequenz, dass der gesellschaftliche Charakter der Arbeit erst nach deren Verausgabung, also in »geronnenem Zustand, in gegenständlicher Form« (Marx) ausgedrückt wird – in verschleierter Form als Gegenständlichkeit, als Geld. Dieser »Fetischcharakter der Ware« beinhaltet einen Kontrollverlust, da der gesamtgesellschaftliche Produktionszusammenhang unorganisiert und unkontrollierbar wird und koordiniert werden muss durch die »unsichtbare Hand der Märkte«, wie Adam Smith meinte, d. h. durch die Bewegung der Preise. Statt zu kontrollieren, stehen die Menschen unter der Kontrolle dieser Bewegung von Sachen, die sie selbst produzierten.

Marx fand heraus, dass in diesem Fetischcharakter der Ware die Möglichkeit der Krise steckt. Der Warenproduzent muss sein Produkt, das für ihn keinen Gebrauchswert hat, verkaufen (Angebot), um dann die von ihm selbst gewünschten Waren mit dem erhaltenen Geld zu kaufen (Nachfrage). »Aber keiner braucht unmittelbar zu kaufen, weil er selbst verkauft hat«, hob Marx (MEW 23, S. 127) gegen die Harmonielehre der Klassischen Nationalökonomie hervor, denn die Zirkulation sprenge die zeitlichen, örtlichen und individuellen Schranken des Produktaustauschs.

Marx erkannte noch eine zweite mögliche Ursache der Krise, die aus der Funktion des Geldes als Zahlungsmittel entspringt: Waren werden unter Geschäftsleuten gewöhnlich auf Kredit verkauft, so dass ein Verhältnis von Gläubiger und Schuldner entsteht. In diesem Fall realisiert die Ware des Verkäufers ihren Preis in einem privatrechtlichen Titel auf Geld, der – wie der Wechsel – zirkulieren kann, wodurch die Verkettung der Verhältnisse von Gläubiger und Schuldner besonders sichtbar wird. Reißt diese Kette von Zahlungen, weil einer der Schuldner pleite ist, fällt die ansonsten unauffällige Saldierung der Schuldenbilanzen fort. Marx nannte diese Störung »Geldkrise«, wie sie »als besondere Phase jeder allgemeinen Produktions- und Handelskrise« (MEW 23, S. 152) vorkommt. Plötzlich benötige jeder Geld als Zahlungsmittel, um seine eigene Schuld zu bezahlen. Das Kreditsystem schlage ins Monetarsystem um. Diese »Geldhungersnot« (Marx), die auch in der großen Krise von 2007/08 ein wichtiges Thema war, ist das auffälligste und dramatischste Phänomen der Krise: »Die Zirkulationsagenten schaudern vor dem undurchdringlichen Geheimnis ihrer eigenen Verhältnisse.« (MEW 13, S. 123)

Schranken des Marktes

Die kapitalistische Warenproduktion schafft nicht nur die Möglichkeit der Krise, sie bringt periodisch solche Krisen mit Notwendigkeit hervor. Finanzmärkte haben erst einmal wenig damit zu tun.

Jede Krise ist zunächst nichts anderes als eine Überproduktionskrise; der Markt ist zu eng für die Produktion, er ist überfüllt. »Hätte«, wie Marx kritisch gegen die Gleichgewichtstheorie der Klassik formulierte, »die Erweiterung des Markts Schritt gehalten mit der Erweiterung der Produktion, there would be no glut of markets, no overproduction (so gäbe es keine Überfüllung des Marktes, keine Überproduktion, G. S.).« (MEW 26.2., S. 525)

Marx hat den Zusammenhang von Produktions- und Markterweiterung an verschiedenen Stellen seiner Akkumulationstheorie aufgegriffen. Die konzentrierteste Darstellung findet sich im dritten Band des Kapitals (MEW 25, S. 254 f.), wo er im Anschluss an das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate dessen innere Widersprüche thematisiert und dabei auf den Widerspruch zwischen Produktion und Markt eingeht. Hier findet sich eine Skizze zur Notwendigkeit von Wirtschaftskrisen. Im Mittelpunkt steht das Verhältnis von »Konsumtionskraft« (Markt) und »Produktionskraft« (Produktion). Da Markt und Produktion zwei gegeneinander gleichgültige Momente sind, muss die Erweiterung des einen der Erweiterung des anderen keineswegs entsprechen, und Marx führt Gründe an, warum eine Ausdehnung des Marktes rasch von der Produktion überholt wird. Worin bestehen diese?

Marx wusste natürlich sehr genau, dass kapitalistische Warenproduktion nur stattfindet, wenn Profit erzielt wird. Das Bedürfnis der Gesellschaft spiele in der Produktion nur insofern eine Rolle, als es als zahlungsfähige Kaufkraft zur Realisierung des Warenpreises und damit des Profits auftrete. Wäre hingegen die Befriedigung der Bedürfnisse der Zweck, fielen Produktion und Bedarf keineswegs notwendig auseinander. Denn die von Marx angesprochene »absolute Konsumtionskraft«, d. h. das Bedürfnis der Gesellschaft, würde keine Barriere für die Produktion darstellen.

Ähnliches würde gelten, wenn die »Konsumtionskraft der Gesellschaft« durch deren »Produktionskraft« bestimmt wäre. Solange die Produktion genügend Bedürfnisse hervorbringen und fortentwickeln würde, hätte sie – von partiellen Störungen abgesehen – immer ihre Abnehmer.

Wie die Ausführungen von Marx weiter zeigen, kommt die Krise dadurch zustande, dass Produktionskraft und Konsumtionskraft trotz der inneren Einheit gegensätzlich bestimmt werden: Die Produktionskraft sei – hinreichende Nachfrage unterstellt – nur durch die Masse und die Qualität der Produktivkräfte begrenzt. Demgegenüber sei der Umfang der Konsumtionskraft durch die Schranken des Marktes fixiert. Hier nun bringt Marx Restriktionen ins Spiel, die aus der kapitalistischen Art und Weise des Produzierens hervorgehen.

Die erste Schranke, die Marx anspricht, ist »durch die Proportionalität der verschiedenen Produktionszweige« gesetzt. Diese Schranke ist notwendige Folge eines Akkumulationsprozesses, der, ohne gesellschaftlich organisiert zu sein, nur durch Preisbewegungen gesteuert wird. Ein übermäßig expandierter Produktionszweig wird nach gewisser Zeit die Produktion und mit ihr die Nachfrage nach den eigenen Produktionsvoraussetzungen einschränken. Bis zu unseren Tagen zeigt sich, dass die Produktionsmittelerzeugung im konjunkturellen Aufschwung übermäßig expandiert, um dann besonders stark zu schrumpfen.

Die zweite von Marx erwähnte Schranke wird durch die »antagonistischen Distributionsverhältnisse« gesetzt. Er versteht darunter, dass Profite nur möglich sind, wenn die Lohnabhängigen mehr Werte schaffen, als sie an Lohn beziehen. Die Profite sind umso höher, je niedriger der Lohn im Verhältnis zum Mehrwert steht.

In der Marxschen Krisenerklärung sind diese antagonistischen Verteilungsverhältnisse der Dreh- und Angelpunkt. Denn einerseits verengen sie den Spielraum des Marktes, da die Massenkaufkraft durch die Höhe des Lohns begrenzt wird. Dieses Verhältnis besitzt andererseits eine bedeutende Kehrseite, die uns zur dritten Schranke bringt: Ein im Vergleich zum Mehrwert vergleichsweise niedriger Lohn verschafft dem Kapital einen großen Akkumulationsspielraum, der mit der Entwicklung der kapitalistischen Produktion noch zunimmt. Je nachdem, in welchem Umfang er genutzt wird, wächst oder schrumpft die »Konsumtionskraft der Gesellschaft«. Als Schranke für seine vollständige Ausschöpfung nennt Marx in der zentralen Textpassage den »Akkumulationstrieb, den Trieb nach Vergrößerung des Kapitals und nach Produktion von Mehrwert auf erweiterter Stufenleiter« (MEW 25, S. 254). Je nach Existenz profitabler Anlagesphären nimmt der »Akkumulationstrieb« zeitweise zu, dann wieder ab. Die Periodizität spielt hier eine bestimmende Rolle.

Zwischen Expansion und Kontraktion

Marx hatte erkannt, dass der Akkumulationsprozess in Zyklen verläuft, die jeweils aus einer Reihenfolge verschiedener Phasen bestehen: Stagnation, Belebung, Prosperität, Überproduktion, Krise, Depression. Nach einem scharfen Rückgang (Depression) stabilisiere sich die Wirtschaft. Eine Belebung würde bald einsetzen, die in eine Phase lebhafter Nachfrage und Produktionstätigkeit (Prosperität) übergehe. Bald aber zeige sich, dass sich der Markt nicht rasch genug für die Produktion ausdehne. Die Phase der Überproduktion gehe in die Krise über, gefolgt von der Phase der Depression, worin Kapital in all seinen Formen massenhaft entwertet und Produktivkräfte stillgelegt oder vernichtet würden.

Marx fand heraus, dass für die entscheidenden Zweige der großen Industrie ein Zyklus von zusammenhängenden Umschlägen mit einer Länge von etwa zehn Jahren existiere. Darin sah er »eine materielle Grundlage der periodischen Krisen, worin das Geschäft aufeinanderfolgende Perioden der Abspannung, mittleren Lebendigkeit, Überstürzung, Krise durchmacht«. (MEW 24, S. 185 f.)

Jede Krise, so Marx, sei »Ausgangspunkt einer großen Neuanlage«. Für das Kapital entstehen hierdurch profitable Anlagemöglichkeiten, die den »Akkumulationstrieb« steigern, so dass der Akkumulationsspielraum mehr und mehr ausgeschöpft wird. Erweiterungsinvestitionen, verbunden mit neuen Technologien, eröffnen zusätzliche profitable Märkte. Sobald der Kapitalbedarf in den wichtigsten Produktionszweigen zum Erliegen kommt, schrumpft die entsprechende Nachfrage bei gleichzeitig gestiegener Produktionskraft. Einst profitable Anlagesphären verlieren an Attraktivität und lähmen den »Akkumulationstrieb«. Der Akkumulationsspielraum wird nicht länger genutzt. Absatzstockungen, Krise, Depression sind notwendige Folgen. Vernichtungs- und Entwertungsprozesse stellen das Gleichgewicht vorübergehend wieder her.

Sobald der Ersatzbedarfzyklus des fixen Kapitals einsetzt, erweitern sich die Grenzen des Marktes, so dass allmählich ein weiterer Akkumulationszyklus in Gang kommt. »Ganz wie Himmelskörper, einmal in eine bestimmte Bewegung geschleudert, dieselbe stets wiederholen, so die gesellschaftliche Produktion, sobald sie einmal in jene Bewegung wechselnder Expansion und Kontraktion geworfen ist«, schrieb Marx mit Blick auf den sich stets wiedererzeugenden Zyklus. »Wirkungen werden ihrerseits zu Ursachen, und die Wechselfälle des ganzen Prozesses, der seine eigenen Bedingungen stets reproduziert, nehmen die Form der Periodizität an.« (MEW 23, S. 662)

Kredite und Zinsen

Marx wusste sehr genau, dass »die reale Krisis nur aus der realen Bewegung der kapitalistischen Produktion, Konkurrenz und Kredit, dargestellt werden (kann)« (MEW 26.2., S. 513) und dass der Kredit für die Dynamik des Akkumulationsprozesses eine herausragende Bedeutung besitzt. Denn sobald der »Akkumulationstrieb« durch profitable Geschäftsfelder angestachelt wird, werfen sich große Teile des gesellschaftlichen Kapitals auf diese Geschäftsfelder, ohne abwarten zu müssen, bis quasi in einer Hand genügend Geldkapital vorhanden ist. Da Geld rasch in Leihkapital und dieses für verschiedene Geschäftszwecke in Geldkapital verwandelt werden kann, entsteht eine zusätzliche, vom laufenden Reproduktionsprozess weitgehend unabhängige Nachfrage nach Waren. Marx bezeichnete das Kreditwesen als »die Triebfeder der kapitalistischen Produktion« oder als »Haupthebel der Überproduktion und Überspekulation im Handel«. Indem das Kreditwesen die materielle Entwicklung der Produktivkräfte beschleunigt und den Weltmarkt entfaltet, hilft es, wie Marx hervorhob, die »materielle Grundlagen der neuen Produktionsform bis auf einen gewissen Höhegrad herzustellen« und »die Übergangsform zu einer neuen Produktionsweise zu bilden«. (MEW 25, S. 457)

Außerdem wäre die ganze Dramatik der Krise ohne Kredit gar nicht denkbar. Bricht der Kredit zusammen, bricht mit ihm auch die Nachfrage nach Waren ein, so dass die Grenzen des Marktes gerade dann besonders eng werden, wenn die Produktionskraft am weitesten entwickelt worden ist. Der Kredit steigert die gewaltsamen Eruptionen der Krise und beschleunigt, so Marx weiter, »die Auflösung der alten Gesellschaft«. (MEW 25, S. 457) Revolutions- und Krisentheorie gehen Hand in Hand.

Zu Marxens Zeiten waren die Grundformen des Kreditsystems entwickelt, so dass praktisch alles, was er dazu ausführte, auch heute noch von großem Interesse ist. Um die kapitalistische Produktionsweise zu charakterisieren, stellte Marx den »kommerziellen Kredit«, den er als die »naturwüchsige Grundlage des Kreditsystems« bezeichnete, und den in Geldform ausgegebenen Bankkredit heraus. Daneben verwies er auf den »öffentlichen Kredit« und auf den privaten. Die Finanzierung von Unternehmen und Staaten über den Kapitalmarkt erwähnte Marx im Zusammenhang mit dem fiktiven Kapital, das in der Gestalt von Kredit- und Eigentumstiteln bis heute zentrale Bedeutung besitzt. Unter fiktivem Kapital verstand er, wie der Name schon sagt, nicht das in Produktion und Handel steckende wirkliche Kapital (»fungierendes Kapital«), sondern eine »regelmäßige Geldrevenue«, die als Zins erscheine, als läge dem ein wirkliches Kapital zugrunde. Bei der Staatsschuld sei dies offensichtlich, weil eine Schuld positiv als Kapital erscheine. Die Aktie stelle zwar »wirkliches Kapital vor«, das z. B. in Eisenbahngesellschaften angelegt sei, jedoch existiere dies wirkliche Kapital nicht doppelt, es erwecke nur den Schein der Verdoppelung. Und dieser Schein habe seine Grundlage im selbständigen Handel mit zinstragenden Wertpapieren.

Schwindende Grundlage

Während der Konjunkturphasen besteht wegen der sich allmählich beschleunigenden Akkumulation größerer Kreditbedarf, der meist reibungslos gedeckt wird, da die Krise inzwischen verdrängt ist und größeres Vertrauen in die Zahlungsfähigkeit besteht. Der Kredit expandiert, anfangs vor allem der kommerzielle, später auch der Bankkredit.

Bald treten Absatzschwierigkeiten auf. Die Realisierung des Tauschwerts in Geld verzögert sich oder erweist sich gar als unmöglich. Die Geldkrise als Moment der Wirtschaftskrise setzt ein: Das Kreditsystem schlägt ins Monetarsystem um. Die »Geldhungersnot« lässt die Nachfrage nach Bankkrediten explodieren. Da die Bereitschaft der Geschäftsleute schwindet, Waren auf Kredit zu verkaufen, geht in der Krise der kommerzielle Kredit stark zurück. Diese Lücke muss der Bankkredit schließen. Die Nachfrage nach kurzfristigen Krediten lässt die Zinsen nach oben schnellen.

Das von Marx formulierte allgemeine Gesetz der Krise darf nicht so verstanden werden, als würde das Auf und Ab der Konjunktur immer weiter gehen, ohne das System selbst in Gefahr zu bringen. Das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate verweist auf eine allmähliche Verschärfung der Krisen. Soweit die Profitmasse im Verhältnis zum Lohn zunimmt, erweitert sich der Akkumulationsspielraum, und damit steigt die Wucht, mit der die Ausweitung der Produktion erfolgt, wie umgekehrt die Stockung größer wird, sobald der »Akkumulationstrieb« nachlässt. Diese Elastizität wächst zusätzlich mit der Entwicklung der Produktivkräfte, also mit der anschwellenden Masse an Produktionsmitteln. Das sich immer weiter entwickelnde Kreditsystem verschärft die Bewegung in beide Richtungen, steigert die Überproduktion und damit die Katastrophen der Krise, bildet eine immer brüchiger werdende Grundlage für das Zahlungssystem, dessen Zusammenbruch die gesamte Wirtschaft in eine vorübergehende Schockstarre und die große Masse der Menschen ins Elend versetzen würde. Der Krisenzyklus mit der Krise als besonders dramatischem Höhepunkt erzeugt die Notwendigkeit zur Überwindung der alten und der Schaffung einer neuen Produktionsweise.

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