Zufallsfund in Madrid
Von Carmela Negrete
In der spanischen Erde liegen bis heute die Überreste unzähliger Opfer der faschistischen Franco-Diktatur. Neben der historischen Forschung dient ihre Bergung dem würdigen Gedenken der Toten und dem Kampf gegen das Vergessen. Genau auf dieses Vergessen hatten viele – teils ranghohe – deutsche Täter, die das Ende des Zweiten Weltkriegs überlebt hatten, auch für ihr Untertauchen und das ungestörte Fortleben in einer bürgerlichen Existenz gesetzt – sei es in Lateinamerika oder Westeuropa. Einer von ihnen war der ranghohe Nazi Theodor Adrian von Renteln, unter anderem Generalkommissar für Litauen von 1941 bis 1944. Nachforschungen des Historischen Vereins der Friedhöfe (Asociación Histórica de Cementerios) auf dem Cementerio Civil in Madrid konnten nun zeigen, dass er nicht, wie bisher angenommen, in der Sowjetunion hingerichtet und begraben worden war, wie die Onlinezeitung Público am 6. bzw. 8. September berichtete. Auch andere Thesen, wie die des Historikers Christoph Dieckmann, wonach von Renteln die Flucht über den Atlantik gelungen sein soll, dürften damit widerlegt sein.
Unter falschem Namen hatte demnach der seit 1928 in Naziorganisationen aktive von Renteln, der für die Ermordung von rund 195.000 Juden in Litauen verantwortlich ist, bis 1960 in Spanien gelebt. Neben seinem Grab liegt das seiner Ehefrau Anna Erna Friede Auguste von Renteln. Sie wurde am 17. November 1900 in Rostock geboren und starb erst am 7. September 1993 in Madrid. Die Nachricht von ihrem Tod gab dem Vereinspräsidenten und Blogger Javier Jara offenbar den entscheidenden Hinweis. So kam er dem Kriegsverbrecher auf die Spur.
Diese reicht mindestens bis ins Jahr 1933 zurück. Im Mai wurde damals der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelstages in Berlin, Bernhard Grund, abgesetzt und durch Theodor Adrian von Renteln ersetzt, wie aus einem Dokument der spanischen Handelskammer anlässlich ihres 100jährigen Jubiläums hervorgeht. 1934 reiste eine spanische Delegation nach Berlin, wo von Renteln möglicherweise Kontakte knüpfen konnte, die ihm später die Flucht nach Spanien erleichterten. Der Name des Präsidenten der deutschen Handelskammer in Madrid, Karl Albrecht, stand auf der Liste von Nazis, deren Auslieferung der Alliierte Kontrollrat nach dem Krieg von Spanien verlangte. Albrecht war Vertreter des 1883 gegründeten Elektronikkonzerns AEG in Spanien und galt als Freund von Adolf Hitler.
Von Rentelns Laufbahn in den Institutionen des Hitlerfaschismus begann früh. Als Student der Volkswirtschaft hatte er die Hochschulgruppe Berlin des »Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes« geleitet. Zum 1. Januar 1929 trat er im Alter von 31 Jahren der NSDAP bei, später auch der »Sturmabteilung« (SA). Noch im selben Jahr hatte von Renteln den bis dahin lediglich in einzelnen Ortsvereinigungen bestehenden »Nationalsozialistischen Schülerbund« als reichsweite Organisation begründet, der er bis 16. Juni 1932 als »Reichsführer« vorstand. In der Parteizentrale der Nazis in München war er zugleich als Wirtschaftsreferent tätig. Von November 1931 bis Mitte Juni 1932 war er »Reichsführer« der Hitlerjugend.
Seine Karriere setzte von Renteln im mit den Kapitalfraktionen verschränkten Arm der NSDAP fort. Von 1932 bis 1933 saß er dem »Nationalsozialistischer Kampfbund für den gewerblichen Mittelstand«, später NS-HAGO genannt, vor. Im Mai 1933 wurde von Renteln Vorsitzender des Reichsverbands der Deutschen Industrie (RDI), des Spitzenverbands der industriellen Unternehmerverbände. Ab Mai 1933 war er zugleich Führer des Reichsstandes des deutschen Handwerks und des Reichsstandes des deutschen Handels. Im Oktober 1933 wurde er außerdem in den Verwaltungsrat des Werberats der deutschen Wirtschaft berufen, mit dem die Nazis ihren Herrschaftsanspruch auf diese Branche ausdehnten. Von Renteln war maßgeblich verantwortlich für Kampagnen gegen jüdische Warenhäuser und Händler. Nachdem er auch innerhalb der »Deutschen Arbeitsfront« der Nazis hoher Funktionär geworden war, ernannte man ihn 1935 zum Institutsleiter an der Universität Leipzig, die ihn ein Jahr später mit einer Honorarprofessur schmückte. 1939 wiederum wurde er in die von den Nazis kontrollierte Akademie für Deutsches Recht aufgenommen. Im Sommer 1941 wurde er schließlich Generalkommissar im besetzten Litauen.
Wie sicher sich Täter wie von Renteln in Spanien fühlen konnten, zeigt nicht nur sein nun entdeckter Grabstein. Diesen ziert sein echter Name, inklusive Doktortitel. Auch andere Kriegsverbrecher oder Kollaborateure – wie zum Beispiel der Belgier Leon Degrelle – lebten unter Klarnamen in Spanien. Degrelle veröffentlichte sogar Bücher, obwohl er in Belgien in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden war. Dass sich Verbrecher wie von Renteln unbehelligt in Spanien bewegen konnten, erklärte Jara am Donnerstag im Gespräch gegenüber junge Welt damit, dass nach dem Sieg über die Nazis mehrere Organisationen existierten, die Täter bei der Flucht aus Deutschland unterstützten, darunter das Netzwerk ODESSA (Organisation der ehemaligen SS-Angehörigen). Franco sei schließlich »Freund und Sympathisant Hitlers« gewesen.
»Spanien erleichterte daher die Flucht vieler Nazis, die auf dem Weg nach Südamerika waren. Es wurden ihnen Dokumente und alles Nötige besorgt. Einige blieben gleich hier in Spanien«, sagte Jara. Manche hätten so sogar unter ihrem echten Namen völlig ungestört leben können. »Sie investierten an der Küste, in Immobilien oder Unternehmen.« So könne man sich vorstellen, wie groß die Unterstützung für diese Leute war. Die BRD hatte bereits 1952 offizielle Beziehungen mit Franco-Spanien aufgenommen. Beide Staaten hatten in den 1960er Jahren sogar Rentenzahlungen an Kriegsverbrecher der berüchtigten »Legion Condor« sowie der »Blauen Division« spanischer Freiwilliger, die an der Seite der deutschen Faschisten gekämpft hatten, vereinbart. Gelebt haben soll von Renteln in Madrids Nobelbezirk Salamanca. Wovon er seinen Lebensunterhalt bestreiten konnte, ist bislang unbekannt. Seiner Sterbeurkunde zufolge erlag er in der privaten Clínica de la Concepción einer Lungenkrebserkrankung. Sein Grab auf dem Cementerio Civil, der sich gegenüber dem Friedhof von Almudena im Zentrum von Madrid befindet, liegt an sehr prominenter Stelle.
Als Chef des historischen Friedhofsvereins schreibt Jara regelmäßig über den Cementerio Civil. »Das Thema Nazis oder der Zweite Weltkrieg sind nichts, was ich systematisch studiere oder so«, sagte er gegenüber junge Welt. Im Grunde habe er sich bislang nicht besonders dafür interessiert. Um so mehr hätten ihn »die Geschichten von Menschen, die Freidenker oder Freiheitskämpfer waren«, fasziniert. Zum Beispiel Menschen, die wegen ihrer Ideen von der katholischen Kirche denunziert, verhaftet oder verfolgt wurden. »Viele Linke sind dort bestattet, wie der Präsident der Republik, wie La Pasionaria (Dolores Ibárruri, jW), Pablo Iglesias Posse, der Gründer von PSOE und UGT, sowie viele andere Menschen, die sich gegen die damaligen Dogmen stellten«, erklärte Jara.
Der Grabstein des Nazikriegsverbrechers sei deshalb vielmehr ein Zufallsfund. »Wir haben vor einiger Zeit ein Inventar der Gräber im Cementerio Civil erstellt und dafür Namen und Daten gesammelt«, sagte Jara. Man habe sehen wollen, was es zu entdecken gibt. Dabei stieß der Vereinspräsident auf einen »gewissen Doktor von Adria«. Die Recherche zu dessen Lebenslauf verwunderte Jara. »Dieser Mann soll 1946 in Russland hingerichtet worden sein, wie sollte er hier begraben liegen?« Der erste Gedanke des Forschers: Es muss sich um eine Verwechslung handeln.
»Auch andere Historiker hatten ja geschrieben, er sei möglicherweise nach Lateinamerika geflohen«, sagte Jara gegenüber jW. Schließlich habe sich herausgestellt, dass von Renteln an diesem Ort zunächst unter einem anderen Namen bestattet wurde, »als Karl Jakobson«. »Es handelt sich tatsächlich um Theodor Adrian von Renteln, den NS-Generalkommissar.« Später habe er auch andere Urkunden gefunden. Diese zeigen demnach eindeutig, dass von Renteln nach dem Krieg in Spanien geblieben ist. Mit diesem Wissen wollen sich die Forschenden um Jara nicht begnügen. »Unsere Recherche läuft weiter, denn wir wollen klären, wann genau er kam« – ob direkt nach Kriegsende oder zu einem späteren Zeitpunkt – und ob das Ehepaar womöglich in Spanien einen Sohn hatte. Das Grab von Rentelns entdeckt zu haben, führte dazu, dass er sich »viel mehr als vorher« für die Erforschung der Geschichte von in Spanien untergetauchten Nazis interessiert, erklärte Jara schließlich auf Nachfrage von jW.
Welche Nazifunktionäre sich womöglich in Spanien aufhielten, ist dem sogenannten Navasqüés-Bericht zu entnehmen. Der spanische Diplomat Emilio de Navasqüés y Ruiz de Velasco soll sich damals für Franco damit befasst haben. 1948 stellte er einen geheimen Bericht für Außenminister Alberto Martín Artajo zusammen, in dem er 104 Deutsche in Spanien entsprechend ihrer Nazivergangenheit auflistete. Darunter befand sich Johannes Bernhardt, SS-General und enger Kontaktmann von Hermann Göring. Bernhardt leitete Firmen, die Franco während des Spanischen Kriegs finanziell unterstützten.
Dass die Überreste des Nazis von Renteln auf dem »Zivilen Friedhof« und nicht in Almudena liegen, hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass letzterer ein katholischer Friedhof ist.
Dort befindet sich übrigens auch ein Mausoleum für sechs deutsche Soldaten der berüchtigten »Legion Condor«. Deren Einsatz in Spanien und die militärische Unterstützung Deutschlands insgesamt ermöglichte es dem Putschistengeneral Francisco Franco, die Spanische Republik zu zerschlagen und den Krieg gegen die linken Kräfte zu gewinnen sowie schließlich seine blutige Schreckensherrschaft zu errichten. Bis 2017 wurden die »Legion Condor«-Verbrecher an diesem Mausoleum öffentlich geehrt. Das Gelände liegt in der Obhut der deutschen Botschaft in Madrid.
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