Israels Oberstes Gericht muckt auf
Von Helga Baumgarten, Jerusalem
Der Beschluss des Obersten Gerichts in Israel »ist ein entscheidender Erfolg für Rechtstaatlichkeit und für die menschliche Würde«. Das Gericht habe »klar und deutlich die Aushungerungspolitik von Minister Ben-Gvir abgelehnt und bestätigt, dass Israel selbst in Kriegszeiten grundlegende Menschenrechtsbestimmungen aufrechterhalten muss«. Mit dieser Meldung wurde die israelische Bürgerrechtsvereinigung ACRI nach der Entscheidung vom Sonntag in den Medien zitiert.
Deren Klage bezog sich auf die nun höchstrichterlich bestätigte systematische Unterversorgung palästinensischer Gefangener in israelischen Haftanstalten und wurde von ACRI schon im April 2024 erhoben. Für die Antwort nahm sich das Oberste Gericht enorm viel Zeit. Anderthalb Jahre später war es endlich so weit. Alle drei Richter »entschieden einstimmig, dass die Gefängnisverwaltung gesetzlich verpflichtet ist, Sicherheitsgefangenen die grundlegenden Existenzbedingungen zu garantieren, darunter sowohl Umfang als auch Art der Nahrungsmittel, die zur Aufrechterhaltung ihrer Gesundheit notwendig sind«.
Laut Jerusalem Post gab es allerdings eine Mehrheits- und eine Minderheitsposition. Zwei Richter argumentierten, dass die Aushungerungspolitik gegenüber den palästinensischen Gefangenen die Lage der israelischen Geiseln im Gazastreifen nicht verbessern, sondern eher verschlechtern würde. Ein Richter unterstützte dagegen die Position von Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir, der das Oberste Gericht beschuldigte, Terroristen zu schützen: »Unsere Geiseln in Gaza haben kein Oberstes Gericht, das sie verteidigt (…) Während die Geiseln in den Tunneln verhungern, verlangen zwei Richter, dass die Nahrungsversorgung für die schlimmsten Terroristen verbessert wird.«
Am Montag, am Ort eines tödlichen Anschlags in Jerusalem, bei dem sechs Menschen erschossen wurden, äußerte sich Premierminister Benjamin Netanjahu, sekundiert von Ben-Gvir, sehr viel extremistischer: Er forderte israelische Gerichte auf, nicht zu vergessen, dass »auch sie Teil dieses Krieges seien«. Und fuhr an sie gerichtet fort, dass »die Regierung nicht mit Samthandschuhen mit unseren Feinden umgeht und ihr solltet ebenso verfahren«.
Ben-Gvir legte nach: »Wenn der Oberste Gerichtshof so etwas tut, sendet er eine gefährliche Botschaft an Terroristen. (…) Jetzt in die Speisepläne der Nukhba-Terroristen (Spezialeinheit der Al-Kassam-Brigaden, jW) einzugreifen, nachdem alle relevanten Parteien gesagt haben, dass dies die Abschreckung erhöht, wird und kann nicht geschehen.« Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten: »Es ist bedauerlich, dass Ben-Gvir am Tag eines so schlimmen Angriffs entscheidet, das Oberste Gericht anzugreifen.«
Die Entscheidung des Gerichts kam spät. Zu spät für die bis dato unbekannte Zahl palästinensischer Gefangener, die seit Oktober 2023 in israelischen Gefängnissen misshandelt, gefoltert und bis zum Tod ausgehungert wurden, kommentierte Haaretz am Dienstag. Diese »Politik« lässt sich zurückverfolgen bis Ende 2023. Schon im folgenden März berichtete die liberale israelische Zeitung von 27 Gefangenen aus Gaza, die in israelischen Gefängnissen »ums Leben gekommen seien«, durch Aushungern, Folter oder beides zugleich.
Karen Saar von ACRI meint, dass israelische Regierungen bis dato Gerichtsentscheidungen umgesetzt hätten. Dies ändere sich derzeit, da mehrere Minister erklärt hätten, sie würden sich nicht an Gerichtsbeschlüsse halten. Auf eine andere Forderung der Menschenrechtsorganisation vom Mai 2024, dass Israel »Nahrungsmittel und Medizin nach Gaza hereinlassen« müsse, hat das Oberste Gericht bis heute nicht reagiert, ACRI hat die Klage daher zurückgezogen.
Die Folter der Gefangenen geht weiter. Die Menschen in Gaza verhungern und werden gnadenlos in den Tod gebombt. Derweil verurteilt der UN-Sicherheitsrat zwar einstimmig die Bombardierung Katars, ohne den Angreifer Israel namentlich überhaupt zu erwähnen. Er fordert nicht einmal das Ende des Völkermordes in Gaza.
Helga Baumgarten ist emeritierte Professorin für Politik der Universität Birzeit in Palästina
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