Langer Kampf für Souveränität
Von David Siegmund-Schultze
Es ist ein flammender Appell für Souveränität und Eigenständigkeit: 1891 forderte der kubanische Schriftsteller José Martí (1853–1895) in seinem Essay »Nuestra América« (Unser Amerika) den Aufbau kultureller und politischer Unabhängigkeit von den imperialistischen Mächten aus Europa und Nordamerika. Die Indigenen des amerikanischen Doppelkontinents nehmen in Martís Denken eine mehrdeutige Rolle ein: Einerseits idealisiert er sie als Symbol der Autonomie, andererseits unterstützte der Sohn spanischer Einwanderer Maßnahmen zu ihrer »Zivilisierung« nach westlichem Maßstab. Er war also selbst von europäischen Vorstellungen und einem europäischen Blick auf die Welt geprägt.
Unser Amerika – wer ist in diesem »Wir« eingeschlossen? Und gegen wen und was soll das eigene Amerika erkämpft werden? In »Eine kurze Geschichte Paraguays« zeichnet Yvyty Jára Guasu den Sonderweg des Landes nach, das seine Souveränität sowohl gegen die spanische Krone als auch gegen die europäischstämmigen Eliten in Brasilien und Argentinien verteidigte. Diese erkämpften zwar die Unabhängigkeit ihres Amerikas von der spanischen und portugiesischen Kolonialherrschaft – doch nur, um die Indigenen und aus Afrika importierten Sklaven mindestens ebenso brutal zu unterdrücken, wie es unter der Krone der Fall gewesen war. Die Indigenen in Paraguay formten dabei eine ambivalente Allianz mit dem katholischen Jesuitenorden und zahlten einen hohen Preis für ihr Beharren auf Souveränität. Thorben Austen zeigt in seinem Text zur Revolution in Guatemala von 1944, dass die sozialen Errungenschaften unter Juan José Arévalo – Bildung und Gesundheit für die armen Massen des Landes – von den autoritären heimischen Eliten angegriffen wurden. Arévalo überstand etliche Putschversuche der guatemaltekischen Komplizen und Nutznießer des westlichen Imperialismus.
Wie Jára Guasu erwähnt, waren Deutsche von Beginn an beteiligt an der Kolonisierung des Kontinents. Einige Jahrhunderte später zog es eine deutsche Sekte nach Chile, um 1961 die »Colonia Dignidad« zu gründen, in der systematisch Kindern sexualisierte Gewalt angetan wurde und der chilenische Geheimdienst unter der Diktatur Augusto Pinochets (1973–1990) politische Gegner folterte und ermordete. Juliana Rivas und Jakob Reimann weisen in ihrem Text zur »Colonia Dignidad« darauf hin, dass die BRD bis heute die Auslieferung damaliger Täter nach Chile verweigert.
Doch Menschen und ihre Ideen nehmen auch die umgekehrte Richtung und migrieren in die Länder, die sie kolonisiert haben. Die Beiträge des Bloque Latinoamericano Berlin sowie von Aquarela Padilla und Dario Farcy machen deutlich: Mit der für sie vorgesehenen Rolle der billigen Arbeitskraft geben sie sich nicht zufrieden. Statt dessen fordern Padilla und Farcy eine Allianz migrantischer und nichtmigrantischer Menschen, um für ein Leben in Würde für alle zu kämpfen. Hierfür bringen sie das Konzept der »Educación Popular« (Bildung von unten) und ihre Erfahrungen aus linken Bewegungen Lateinamerikas ein. Der Bloque stellt sich gegen die Instrumentalisierung von Queerness für Krieg und Kapitalismus und übt Kritik an »individualisierenden Diskursen, die uns entlang von Identitäten spalten«. Aus Unser Amerika wird in beiden Texten ein Universalismus, der für die Befreiung von kapitalistischer Unterdrückung weltweit streitet.
Eine neue Chance auf Emanzipation von westlicher Dominanz aus ganz anderer Richtung diskutiert Elias Korte in seinem Text »Drahtseilakt in Bogotá«: Der wirtschaftliche Aufstieg Chinas bietet Staaten wie Kolumbien die Möglichkeit, Handel und Finanzierungsquellen zu diversifizieren sowie von Beijings Investitionen in Infrastrukturprojekte zu profitieren. Klar ist, dass die Region zunehmend durch China geprägt wird und die Bedeutung von USA und EU nachlässt. Ob das ihre Emanzipation voranbringen wird, bleibt eine offene Frage.
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