Maß und Mitte
Von Daniel Bratanovic
Der deutsche Winzer vergießt Tränen. Seine Landsleute verschmähen immer häufiger seinen Wein. Wie das bei Mainz ansässige Deutsche Weininstitut im März mitteilte, sank im Zeitraum zwischen Anfang August 2023 und Ende Juli 2024 die Menge des gekauften Rebsaftes in Deutschland um vier Prozent, der daraus erzielte Umsatz um fünf Prozent. Der Marktanteil der heimischen Weine gegenüber den im Ausland erzeugten verringerte sich im Absatz auf 41, im Umsatz auf 45 Prozent, was nicht zuletzt daran liegt, dass der deutsche Wein mit im Durchschnitt 4,47 Euro pro Liter 75 Cent teurer ist als der internationale. Zum genannten Preis eine Literflasche oder umgerechnet eine normalgroße Flasche für 3,36 Euro auf einem beliebigen Gut in der Bundesrepublik zu finden dürfte allerdings schon lange ziemlich schwierig sein, was auch nur bedeutet, dass die großen Kellereien mit ihren Fabrikweinen die Preise drücken.
Als maßgeblichen Grund für die Kaufzurückhaltung nennt das Weininstitut unter Rekurs auf den BWL-Jargon reichlich verbrämt »Preissensibilität«. Ungeschönt heißt das ganz einfach, die Menschen haben weniger Geld. Die nüchterne und ernüchternde Nachricht aus Rheinhessen enthält nun nicht, was an anderen Stellen wiederkehrend für die schleichende Misere der hiesigen Winzer ins Feld geführt wird: Der durchschnittliche Deutsche lebt gesundheitsbewusster und trinkt demzufolge immer seltener alkoholische Getränke. Letzteres zumindest lässt sich statistisch einigermaßen verlässlich erfassen. Begleitet und befördert wird das veränderte Konsumverhalten seit einiger Zeit von medizinischen Studien und deren medialer Aufbereitung, wonach das »gesunde Gläschen Wein« am Abend als gefährlicher Mythos zu brandmarken sei.
Die Weltgesundheitsorganisation hält fest, es gebe keine unbedenklichen Mengen an konsumiertem Alkohol, die kanadische Gesundheitsbehörde bezeichnet bereits zwei Dosen Bier in der Woche als Risiko, die Deutsche Gesellschaft für Ernährung korrigiert ihre frühere Einschätzung und rät dazu, gar keinen Alkohol zu trinken. Der Wissenschaftsjournalist Bas Kast liefert mit dem Titel »Warum ich keinen Alkohol mehr trinke« einen Verkaufsschlager, der Fernseharzt Eckart von Hirschhausen redet den Deutschen zur besten Sendezeit ins Gewissen: »Jeder Schluck ist potentiell krebserregend.«
Jeder weiß es, niemand bezweifelt es: Das Zellgift Ethanol richtet im Körper Schaden an, Alkoholismus ist nicht nur eine individuelle, sondern auch eine gesellschaftliche Krankheit, und Menschen im Zustand schwerer Trunkenheit sind alles andere als ein erbaulicher Anblick. Unbestritten, aber nur eine Seite eines Verhältnisses. Die neuesten medizinischen Befunde, wie valide auch immer, stehen einer Jahrtausende alten Kulturgeschichte gegenüber. Torkelt die Menschheit also seit ewigen Zeiten auf Irrwegen durch die Geschichte, nüchtert nun aber aus, um fortan auf dem Pfad der Tugenden zu wandeln? Abstinenz gilt als Akt der Selbstkontrolle und Selbstbestimmung. Doch zu welchem Ende? Selbstbestimmung wozu? Die sogenannte Longevity-Bewegung ist das radikale und radikal vereinzelte Verhalten egomanischer Narzissten, der Aufruf zum totalen Verzicht droht in ikonoklastischen Eifer umzuschlagen, zur toxischen Überdosis moralischer Zwangsbeglückung zu werden, in einer Welt, die sich kaum mehr schöntrinken lässt.
Und gibt es nicht auch ein schnödes materialistisches Substrat oder, anders gesagt, ein Klasseninteresse hinter den laufenden Warnungen vor der Volksdroge Nummer eins? Vollkommen abwegig, einen gar nicht so verborgenen Zusammenhang zwischen der Forderung nach Erhöhung des Renteneintrittsalters und der laufenden Kampagne »Jeder Tropfen schadet« zu unterstellen?
Gegen die bornierten und falschen Vorstellungen von Gesundheit und Glück, die der Notwendigkeit entwachsen, dass sich Arbeitskraft im Dienste des Kapitals unbeschadet reproduziert, kann man im Hier und Jetzt wenigstens in Momenten Widerstand leisten. Etwa mit einem Glas formidablen Rieslings.
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