Das halbe Bild
Von Gerhard Hanloser
Der Wiener Verlag Bahoe Books hat sich durch politische und historische Graphic Novels verdient gemacht, etwa zum deutschen Faschismus oder der Geschichte des Anarchismus. Man durfte deshalb gespannt sein auf den Comic über den Begründer des Zionismus, den 1860 im Königreich Ungarn geborenen Theodor Herzl. Seine Sympathien mit dem Ideenstifter eines jüdischen Staates macht der Zeichner und Illustrator Shay Charka in einer Art Nachskript deutlich, in dem er Bemerkungen aus dessen Tagebuch 1895 wiedergibt und graphisch umsetzt. Herzl schrieb, dass er ein gelobtes Land anstrebe, in dem krumme Nasen, gebogene Beine, schwarze und rote Bärte nicht verächtlich gemacht würden, in dem das Wort »Jude« durch die Staatswerdung dieses bedrängten Volkes endlich einen anderen Klang erfahren würde und Juden neben anderen Kulturvölkern »endlich als freie Menschen auf unserer eigenen Scholle leben und in unserer eigenen Heimat ruhig sterben können«. Dass diese Hoffnung der einen zur Bitterkeit der anderen, nämlich der arabischen Bevölkerung Palästinas, wurde und den Keim des bis heute anhaltenden Konflikts in sich trug, bekommt die Graphic Novel indes nicht zu fassen.
Herzls Prägung hingegen schon: den allgegenwärtigen Antisemitismus in Wien, wohin Herzls Familie 1878 zog, die Virulenz pseudowissenschaftlicher Judenfeindschaft, die er aufmerksam und nicht ohne Anflüge tiefer Depression studierte, beispielsweise Eugen Dührings Pamphlet »Die Judenfrage als Racen-, Sitten- und Culturfrage. Mit einer weltgeschichtlichen Antwort« (1881). Vor allem bekommt der Leser einen guten Eindruck von Herzls verzweifelte Bemühungen, für die Juden in der ihnen feindlichen Umgebung eine Lösung zu finden. Über seinem Kopf kreisen wiederholt die Geier, er muss stets neue Ideen ausspinnen. Bevor er einen eigenen Staat forderte, wollte Herzl, der im Grunde keine Beziehung zur jüdischen Tradition hatte, die »Judenfrage« noch durch Massentaufen lösen.
Shay Charka verweist auf einige interessante Aspekte: Obwohl Herzl seine Vorschläge zum Aufbau eines jüdischen Staates in Palästina vor allem an Honoratioren und die damals tief aristokratischen, kolonialistischen und imperialistischen Herrschenden adressierte, fanden seine teilweise utopischen Vorstellungen eines Auszugs ins gelobte Land besonders bei proletarisierten jüdischen Massen Anklang – die dann auch die ersten Alijas, also Auswanderungsbewegungen, nach Palästina trugen. Der Comic zeigt zudem, dass Herzls Traum vom jüdischen Nationalstaat von nationalistischen Antisemiten zuweilen positiv aufgenommen wurde, forderten doch beide letztlich »Juden raus« – aus Europa und rein nach Palästina. Doch insgesamt verschenkt die Graphic Novel die Möglichkeit, dem Paradox in Herzls Denken nachzugehen, das in den beiden Entwürfen seiner zentralen Schriften zum Ausdruck kommt.
Im 1896 erschienenen »Judenstaat«, das er unter dem Eindruck der Dreyfus-Affäre verfasste, entwirft er eine Gesellschaft der Juden, in der das Land die dingliche Grundlage des Staates ist. In seinem späteren Roman »Altneuland« von 1902 verwirft er die Staatsidee und zeichnet ein idealistisches Bild einer genossenschaftlichen Gesellschaft mit gemeinschaftlichem Besitz unter dem Motto »Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen«. Darin artikuliert er, der noch im »Judenstaat« die Auffassung vertreten hatte, dieser sei ein zivilisatorischer Vorposten Europas, den Optimismus, dass die in Palästina lebenden Araber die neuen jüdischen Siedler freudig begrüßen würden. Denn in den Genossenschaften gebe es Platz für verschiedene Überzeugungen und Nationalitäten, sie müssten nicht auf Juden beschränkt bleiben.
Wie es kam, weiß man – die Graphic Novel Charkas schweigt auch dazu. Es kam zur faktischen Verdrängung der Araber von dem Boden, der zur stoffliche Grundlage der hoheitliche Sphäre des zukünftigen jüdischen Staates in Palästina werden sollte. Zunächst über den legalen Weg des Kaufs durch zionistischen Institutionen, dann auch durch Landraub und Enteignung. Die genossenschaftlichen Institutionen des Zionismus, die Kibbuzim, konnten sich nur als Verwirklichung utopischer Lebens- und Produktionsformen imaginieren, indem sie den siedlerkolonialen und rassistischen Ausschluss der Araber ignorierten. Eine Graphic Novel, die dies in Bilder zu packen weiß, muss noch gezeichnet werden.
Shay Charka: Theodor Herzl. Aus dem Hebräischen von Awi Blumenfeld. Bahoe Books, Wien 2025, 80 Seiten, 24 Euro
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