Fresh
Von Andreas Hahn
Schallplatten machen das Leben aus. Gute wie schlechte. Sylvester Stewart, besser bekannt als Sly Stone, hat einige davon gemacht, gute und weniger gute. »Das Leben ist ein Schallplatte« schreibt er selbst in seiner zusammen mit dem Profischreiber Ben Greenman verfassten Autobiographie »Thank You (Falettinme Be Mice Elf Agin)«. Natürlich auch das der Titel einer Schallplatte. Sly and the Family Stone veröffentlichten die gleichnamige Single 1969, die B-Seite hieß »Everybody Is a Star«. Das Leben ist also eine Schallplatte, soviel steht fest. Im Original klingt es besser, vieldeutiger: »Life is a record. But where do you drop the needle?« – »Die Frage ist nur, wo genau setzt man die Nadel auf? Man kann das praktisch am Anfang machen, wenn ein kleiner Junge in Nordkalifornien zu entdecken beginnt, wie sehr Musik ihn bewegt. Man kann sie auch ein bisschen später aufsetzen, wenn er eine Band zusammenstellt, oder noch ein bisschen später, wenn die Band auf der Bühne steht, zunächst in Clubs vor wenigen Leuten. Dann größeren Menschenmengen, darunter eine der größten in der Geschichte.« Letzteres bezieht sich auf das berüchtigte Festival in Woodstock (Zuschauerzahl: ungefähr 460.000). Sly and the Familiy Stone traten dort am zweiten Tag, Sonnabend, den 16. August 1969, so ab halb vier Uhr nachmittags auf (nach Janis Joplin und vor The Who). Was aber hatte eine Funkband an einem Ort wie Woodstock überhaupt zu suchen, wie war sie da bloß hineingeraten? War die Hippiekultur nicht vornehmlich »weiß«, unfunky wie die Hölle?
Ende der 60er Jahre begann gerade das sich zu ändern. Sly Stone und seine Band gehörten zu den Hauptverantwortlichen. Im Kern waren Sly and the Family Stone selbstverständlich immer eine R-’n’-B-Band, aber eine mit wohlkalkulierter Popsensibilität. Zum Zeitpunkt des Auftritts in Woodstock waren Sly and the Family Stone das personifizierte Crossover. Der Erfolg ihrer 67er Singles »Dance to the Music« und »Everyday People« hatte dafür gesorgt.
Das gelungene Crossover funktionierte nicht ohne die Kollaboration einer mächtigen Plattenfirma. Im Falle von Sly Sonne war das Epic, ein Sublabel der CBS. Das Label hatte nach dem Weggang der jungen Aretha Franklin 1965 mehr oder weniger keinen Anteil am Schwarze-Musik-Geschäft, wie Nelson George in seinem Standardwerk »The Death of Rhythm and Blues« schreibt. Der neue Labelchef Clive Davis wollte das ändern. Er traf sich mit Sly Stone, der ihn von seiner Vision überzeugen konnte. »Vielleicht wird es die Kids zunächst abschrecken, aber sie werden schnell dahinterkommen«, soll Sly Stone gesagt haben. Er behielt recht. 1965 hatte CBS einen Marktanteil von elf Prozent, Ende 1968 waren es 17 Prozent.
Einer, der Sly Stone vieles zu verdanken hat, George Clinton, erinnert sich: »Als die erste Platte überall lief, wusste ich nicht so richtig, was ich davon halten soll. War es eine weiße Gruppe? Sie hatten einen seltsamen Popsound. Songs wie ›Stand!‹ und ›Everyday People‹ waren so sehr Pop, wie es nur geht, aber die schwarzen Songs waren so schwarz und funky wie Ray Charles und James Brown. Sie hatten die größten Afros der Welt. Ich dachte, das sei so ein Bay-Area-Ding, so wie Huey Newton.«
Ja, 1969 waren Sly and the Family Stone mit dem Album »Stand!« auf dem Popolymp, auch wenn es etwas deutlichere Stücke wie »Don’t Call Me Nigger, Whitey« darauf gibt. Danach fiel Sly in das große Loch, genannt Kokain. Kehrte aber mit seinem Opus Magnum »There’s a Riot Goin’ On« (1971) zurück. Die Platte, die zusammen mit der maßgeblichen Single »Family Affair«, auf allen ewigen Bestenlisten so auftaucht. Danach machte Sly noch zwei sehr gute Alben, »Fresh« (1973) und »Small Talk« (1974) und ein paar anständige wie »Back On the Right Track« (1979). Da war er bereits zu Warner gewechselt. Sein letztes Album »Ain’t But the One Way« erschien 1982, als Funk elektronisch geworden war und Soul auf dem Gipfel seiner Retroeleganz. Sly Stone war Ende der 70er seinen beiden Backgroundsängerinnen Lynn Mabry und Dawn Silva (zusammen die Brides of Funkenstein) in George Clintons Parliament-Funkadelic-Familie gefolgt. Sly wurde selbst ein P-Funk-All Star. Die 80er und 90er waren dann nicht gut zu ihm. Sein letzter öffentlicher Auftritt für lange Zeit war 1993 seine Aufnahme in die Rock and Roll Hall of Fame. Gerüchte über Verarmung und Obdachlosigkeit kursierten. 2010 eröffnete er einen langen Prozess gegen seinen ehemaligen Manager Jerry Goldstein wegen Unterschlagung und Urheberrechtsverletzung. Der am 15. März 1943 in Texas geborene und in der San Francisco Bay Area aufgewachsene Sylvester Stewart verstarb am 9. Juni in Los Angeles.
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Leserbrief von Wolfgang Ackermann aus Bergen (Norwegen) (12. Juni 2025 um 12:10 Uhr)Sylvester galt als musikalisches Wunderkind. Mit sieben Jahren beherrschte er bereits meisterhaft Keyboard und mit elf auch Gitarre, Bass und Schlagzeug. Noch in der Highschool konzentrierte sich Sylvester hauptsächlich auf die Gitarre und schloss sich mehreren Schulbands an. Eine davon waren die Viscaynes, eine Doo-Wop-Band, in der Sylvester und sein Freund Frank Arellano – ein Filipino – die einzigen nicht-weißen Mitglieder waren. Die Tatsache, dass die Gruppe integriert war, machte die Viscaynes in den Augen ihres Publikums »hip« und inspirierte später Sylvester zu seiner Idee der multikulturellen Family Stone. Mitte der 1960er Jahre arbeitete Stone als Discjockey für den Soul-Radiosender KSOL in San Francisco, Kalifornien, wo er weiße Künstler wie die Beatles und die Rolling Stones in seine Playlists aufnahm. Im selben Zeitraum arbeitete er als Plattenproduzent und produzierte für überwiegend weiße Bands aus der Gegend von San Francisco wie The Beau Brummels , The Mojo Men , Bobby Freeman und Grace Slicks erste Band, The Great Society. Während er bei KSOL weiterhin »Musik für Körper, Geist und Seele« lieferte, spielte Sly Stone Keyboard für Dutzende großer Künstler, darunter Dionne Warwick, Righteous Brothers, Ronettes, Bobby Freeman, George & Teddy, Freddy Cannon, Marvin Gaye, Dick & Dee Dee, Jan & Dean, Gene Chandler u.v.a., darunter auch bei mindestens einem der drei Twist Party-Konzerte des damaligen Chartstürmers Chubby Checker, die 1962 und 1963 in San Francisco stattfanden. Die Konzerte wurden von »Big Daddy« Tom Donohue und Bobby Mitchell vom Radiosender KYA 1260 AM zusammengestellt und größtenteils von Jerry Marcellino und Mel Larson choreografiert, die später viele Motown-Künstler produzierten, darunter Michael Jackson, Diana Ross und einige der anderen Top-Künstler dieser Zeit. 1966 trat Sly mit seiner Band Sly and The Stoners auf. Sein Bruder Freddie spielte mit Greg Errico und Jerry Martini in seiner Band Freddie and The Stone Souls. Eines Abends standen die beiden in der Küche und beschlossen, die Bands zu fusionieren. Larry Graham, der Musik studiert und in zahlreichen Gruppen gearbeitet hatte, wurde ebenfalls aufgenommen. Diese multiethnische Band, die 1967 in der Bay Area auftrat, hinterließ einen starken Eindruck. Später, 1968, stieß Rose Stone zur Band. Sly & The Family Stone waren geboren.
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