Nein, meine Suppe ess’ ich nicht
Von Marc Hieronimus
Wie sollen wir unsere Kinder erziehen? In der Frage steckt die nicht unerhebliche Grundannahme, dass die Nachkommen nicht einfach nachkommen, sondern dass man an ihnen ziehen muss, auch wenn das Gras davon nicht schneller wächst – eine afrikanische Glückskeksweisheit, die eine Elternfraktion (und nicht unbedingt die neurotischste) zu zitieren nicht müde wird.
Schon sind wir mitten in der Problematik, denn Menschen sind deutlich anspruchsvoller als das natürliche Bodengrün, und schon das sprießt nur unter Bedingungen. Wer ernsthaft meint, sein Kind brauche lediglich Sonne, Wasser, Erde und Kuhdung bzw. Nahrung, Kleidung, Auslauf und Liebe zum Gedeihen, läuft Gefahr, glücklichen, aber strohdummen und voraussichtlich auch bettelarmen Nachwuchs zu bekommen. Es gilt also, die richtigen Maßnahmen und das richtige Maß zu finden.
Eltern wollen alles richtig machen. Da auch das Alles-richtig-machen-Wollen nach Urteil der Experten nicht richtig ist, lassen Vater und Mutter (und auch und besonders alternative Elternkombinationen) an ausgewählten Stellen die Zügel ein präzise vermessenes Stück locker. Darüber reden sie aber nicht gerne, denn die anderen Eltern aus dem Hechelkurs, der Krabbelgruppe oder der Klassenpflegschaft sind zwar in der gleichen Lage, haben aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit andere Einflüsse und Ansichten. Der Markt der gedruckten Ratgeber ist schier unermesslich, jeder ist anders aufgewachsen, die wohlmeinenden menschlichen Vorleber und Beraterinnen haben auch ihre je eigenen Ansichten, und die in allen Farben schillernde Netzweisheit macht die Verwirrung komplett. Früher witzelte man, der Horror des Hausarztes seien Kassenpatienten mit Internet. Internet haben sie heute alle. Und Apps und abonnierte Blogs und die Angst, die mühsam erworbene und im Kritikfall streitbar verfochtene Erkenntnis könnte sich beim nächsten Fortschritt als Aberglaube erweisen.
»Hechelkurs«? Die Überlegungen und Erkundungen beginnen tatsächlich spätestens im Geburtsvorbereitungsseminar, oft schon vor der Empfängnis. Da beschließen manche noch voller Idealismus, auf Windeln zu verzichten oder gleich ganz auf die Erzeugnisse der Fortpflanzungsindustrie, zu denen ja auch Fahr- und Spielzeuge, Pflegeprodukte, Kleidung und nicht zuletzt Fertignahrung zählen. Wer dann über das ständige Rumtragen, Kochen, Nähen, Stillen, Wischen, Basteln und die eine oder andere Nerven- und Ehekrise zu etwas mehr Pragmatismus gelangt ist, verlagert das Streben, dem Schweinesystem etwas anderes, nämlich eine jüngere Version seiner selbst entgegenzusetzen, auf die Erziehung, stellt sich exakt die gleichen Fragen wie die anderen Eltern und liest dieselben Ratgeber, um die Kleinen fit für das System zu machen oder damit sie darin menschlich bleiben. Revolution ist wie freie Liebe, wenn keiner mitmacht, ist man schnell frustriert.
Ur- und Schreckbild der Erziehungsbücher ist natürlich Heinrich Hoffmanns »Struwwelpeter« von 1844. Das ist schwarze Pädagogik, wie konnte man so etwas je den Kindern vorlesen? Andererseits will man auch nicht, dass sie zündeln, Tiere quälen, beim Straßenqueren in die Luft gucken, sich bei Sturm draußen herumtreiben oder »Mohren«, also People of Colour, verspotten wie jeweils Pauline, Friedrich, Hans, Robert und die drei namenlosen Jungen im Klassiker. Auch Daumenlutschen und defizitäre Körperhygiene sind allenfalls in jungen Jahren akzeptabel, und dem Zappelphilipp würde man heute Ritalin verabreichen. Besonders am Suppenkaspar zeigt sich die Aktualität des also vielleicht nicht ganz zu Recht verteufelten Buchs. Das moppelige Kind verweigert den Verzehr der namengebenden Suppe und verhungert in nur fünf Tagen, wozu die Weisheitslotterie Wikipedia mit einer Niete aufwartet: Die Geschichte könne als Beispiel von Anorexia nervosa, der »Struwwelpeter« somit als kinderärztliches Lehrbuch verstanden werden. Wenn der Kaspar, kerngesund, »ein dicker Bub und kugelrund« plötzlich die Nahrungsaufnahme verweigert, dann gewiss nicht aufgrund der bekannten, besonders bei jugendlichen Mädchen auftretenden Körperschemastörung. Kinder lehnen Speisen ab, weil sie andere wollen und zum Teil auch brauchen – und weil sie es können.
Kriegs- und Nachkriegskinder aßen gezwungenermaßen, was auf den Tisch kam, und der Teller wurde leergegessen. Die Kinder sollten zum nächsten Weltkrieg etwas auf den Rippen haben, aller guten Dinge sind bekanntlich drei. Bis in die 1960er Jahre wurden kränkliche, blasse oder einfach von Natur aus drahtige Kinder zum Aufpäppeln in Ferienanstalten geschickt, wo das Personal das Ende der Nazizeit noch nicht mitbekommen hatte. Heute kocht man nach Kinderrezepten, schneidet Rohkost in lustige Formen und serviert am Ende doch viel häufiger, als man will, das deftig-fette oder süße Fertiggericht, das so viel Diskussion und Arbeit erspart. Ein Problem, das kugelrunde Eltern mit dito Kindern nicht haben.
Auch im täglichen Umgang abseits vom Esstisch folgen Erziehungspersonen einer je eigenen Schlangenlinie. Das Kind soll sozial sein, sich aber nicht über den Tisch ziehen lassen. Es soll seinen Weg gehen, aber nur in Sichtweite und später mit Ortungsgerät im Schulranzen. Eltern tun, was sie tun, für eine bessere Welt mit besseren Menschen und für das Überleben ihrer Kinder in der noch unverbesserten und vielleicht unverbesserlichen alten. Die Wurzel aller Probleme ist kein kindliches, sondern ein elterliches Entwicklungsdefizit, nämlich Kontrollzwang bei gleichzeitiger Unfähigkeit, Grenzen zu setzen. Sie wollen das Kind vor »Mikroaggressionen« schützen und ertragen nicht einmal den unbedeutendsten Mikrokummer in seinen Augen, der zum Beispiel entstünde, wenn sie ihm klarmachten, dass man nicht mit der Hand ins Schokocremeglas greift. Sie wollen die süße Symbiose der Säuglingszeit verlängern und übersehen, dass zur Bindung Autonomie oder mit Goethe zu den Wurzeln Flügel gehören. Dabei ist die allgemeine Freiheit größer und es geht selbstverständlich allen besser, wenn ein paar sozial und gesundheitlich wichtige Regeln unverrückbar feststehen, etwa dass man nicht einfach auf die Straße läuft oder dass die Benutzung von Messer und Gabel eine gewisse Kulturleistung bedeutet. Es tut ihnen auch anderswo gut: Niemand lädt Kinder ins Haus, die sich wie Schweine aufführen, da können die Eltern noch so nett sein. Sind die Kinder aber umgänglich und leidlich »gut erzogen«, haben die Alten viel weniger zu tun, wie der professionelle Faulpelz Tom Hodgkinson in seinem »Leitfaden für faule Eltern« herausstellt, und zwar wochen- wie feiertags. Auf den besten Partys, schreibt er, sind die Kinder irgendwo in einer Ecke des Geländes und die Eltern in der anderen, der mit dem Alkohol.
Die allgemeine Verunsicherung betrifft heute nicht mehr nur die Rollen und Aufgaben von Mann und Frau in der Erziehung, sondern eine der grundlegendsten Leitunterscheidungen überhaupt, die zwischen Mann und Frau an sich. Jede/r Jugendliche trifft heute in der Schule auf Transpersonen oder ist selbst eine. Kein Wunder: Forscher sprechen von einer Zunahme im vierstelligen Prozentbereich, alleine von 2010 bis Corona. Menschen mit zwei X-Chromosomen, also »Mädchen«, sind wie bei Bulimie, Anorexie oder selbstverletztendem Verhalten wesentlich häufiger als die Ypsilons von dem Phänomen Mensch-im-falschen-Körper betroffen. Der kleine Mann von der Straße irrt sich ebenso wie die studierte Marxistin, wenn sie sagen, es gehe immer nur ums Geld, in diesem Fall für Operationen, Medikamente, Beratung, Medienrauschen. Tatsächlich geht es immer auch ums Geld. Und hier außerdem um Aufmerksamkeit, Selbstfindung, Rollenbilder und großes Leid, dem die Eltern traurig und unschlüssig gegenüberstehen: Bis 18 hartbleiben oder dem unreifen Kind die Geschlechtsumwandlung erlauben? Auf die Ärztin hören, die Ratgeber? Aber auf welche? Am Ende bleibt nur eine Gewissheit: Damals, nackt im Bett, haben wir uns das alles leichter vorgestellt.
Marc Hieronimus, Jahrgang 1973, war bereits Chemiehilfsarbeiter, Linguist und Aushilfskraft im Möbeltransportwesen. Der promovierte Historiker und Vater dreier Kinder arbeitete fünf Jahre als DAAD-Lektor an der Université de Picardie »Jules-Verne« in Amiens (Frankreich), ist heute Lehrer für Deutsch als Fremdsprache in Köln und Rhythmusminister der interkontinentalen Band 529. Seine Essays, Lyrik und Prosa erschienen lange vor allem im Lichtwolf, seit dessen Einstellung zumeist im Feuilleton dieser Zeitung. Er lebt mit dem Großteil seiner Kinder am Waldrand von Köln.
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