Geteilter Himmel
Von Felix Bartels
Für Ant, ohne die ich das nicht hätte schreiben können.
Für Jamo, ohne den ich das nicht hätte schreiben können.
Julian war fünf Jahre alt, als Onkel Paul »Hey Jude« komponierte. So alt wie Christopher Robin, als Papa Milne »Winnie-the-Pooh« schrieb. Beide sind als Kunstfiguren in die Geschichte eingegangen, gefangen in ewiger Kindheit, die Last des eigenen Denkmals auf der Schulter. Dabei hatten sie genug Jedeskindsorgen. Christopher Robin vermisste den abwesend-anwesenden Vater, Julian litt unter veritabler Abwesenheit des seinen. John Lennon hatte sich 1968 von seiner ersten Frau Cynthia getrennt, Paul McCartney besuchte Julian öfter und schrieb ihm jenen berühmten Song ins Herz, der in vier Versen eine Schlüsselbotschaft für Kinder enthält, die Trennung der Eltern zu verarbeiten: »And anytime you feel the pain, / Hey Jude, refrain, / Don’t carry the world upon your shoulder. / For well you know that it’s a fool / Who plays it cool / By making his world a little colder.«
Kinder reagieren unterschiedlich auf den Zerbruch der Familie. Mit Zorn, mit schneller Anpassung, mit Übernahme von Verantwortung im Alltag oder für die Gefühle der Eltern. Man kann einem Kind, das verdrängen möchte, den Schmerz nicht zulassen will, die neue Situation zu sehr annimmt, den Erwachsenen zeigen möchte, wie erwachsen es schon ist, kaum helfen. Zumindest Worte zeigen da wenig Wirkung. Deflektion, paradoxerweise, verstärkt sich, wenn man gegen sie anredet.
Was macht das mit einem Kind, wenn Eltern sich trennen? Es bricht nicht weniger als die Welt zusammen, der Himmel teilt sich. Jene Wesen, die wir biologischen Weges in die Welt werfen, sind befremdlich ungeeignet für diese Welt. Einem dauernden Unwetter gleich kommt das Realitätsprinzip ab Geburt über sie. Unberechenbaren Wechsel von Reizen aushalten, Mangel bewältigen, Verzicht gegen Gewinn aufrechnen, Empathie verinnerlichen, die Welt durchdringen, Impulse kontrollieren, Reflexion üben – das müssen sie lernen, und sie müssen früh beginnen. Nur deswegen gibt es Erziehung. Damit das Leben selbst lehren kann, muss es zuvor ein wenig gelehrt worden sein. Dass Kinder an ihren ersten Jahren nicht kaputtgehen, verdankt sich dem, was man Familie nennt. Sie ist organisch und gesellschaftlich zugleich. Eine Vorschule des Lebens, gesellschaftliche Erfordernisse an das Kind herantragend und sie zugleich abschwächend. Der Raum, die hart einschlagenden Lektionen etwas milder zu gestalten, die in Kinderaugen tatsächlich hochdramatischen Dinge des Alltags in Liebe zu verpacken. Dass es dysfunktionale Familien gibt – Eltern, die ihren Kindern Zuneigung verweigern, sie mit Erwartungen erdrücken, körperliche Gewalt ausüben –, widerlegt diese wichtige Funktion der Familie für den Heranwachsenden nicht, es bekräftigt sie.
Die getrennte Familie ist eine vergleichsweise milde Form der dysfunktionalen Familie. Eine Trennung kann dennoch weit wirken und tief gehen. Die empirische Forschung weiß allerdings mehr als nur das. Seit Mitte der neunziger Jahre schwankt die Zahl von minderjährigen Kindern, die Scheidungen ihrer Eltern erleben müssen, zwischen 120.000 und 160.000 pro Jahr. Lag die Scheidungsquote 1960 noch bei 10 Prozent, liegt sie in der Jetztzeit bei fast 40. Trennungen sind Normalität geworden. Als ermittelbare Effekte von Trennungen wissen Psychiatrie und klinische Psychologie Absinken schulischer Leistung, negatives Sozialverhalten (Aggression etc.), emotionale Belastung (Ängste, Stimmungsschwankungen), verändertes Selbstbild (niedriges Selbstbewusstsein, negative Selbstwahrnehmung), Verschlechterung sozialer Interaktion (Beliebtheit, Integration) sowie Verschlechterung des Mutter-Kind- oder Vater-Kind-Verhältnisses zu nennen. Negative Effekte sind also nachweisbar, allerdings sind sie unspezifisch und vergleichsweise gering. Bei zwei Dritteln der Fälle ist das Konfliktniveau in den ersten Monaten nach der Trennung hoch. Unmittelbar nach der Trennung zeigen Kinder und Jugendliche tendenziell deutliche Anpassungsprobleme. Nach etwa zwei Jahren sinkt das Konfliktpotential im Durchschnitt stark ab, lediglich bei 10 bis 25 Prozent bleibt es beständig. Psychische Auffälligkeiten sinken ebenfalls nach ein bis zwei Jahren. Das Gros der Störungen ist vorübergehend, bei einer kleinen Minderheit führt Trennungserfahrung zu anhaltenden Störungen des Selbstwertgefühls und zu größeren Einflüssen auf das eigene Beziehungsverhalten.
Je nach Alter der Kinder verschiebt sich die Trennung der Eltern in ihrer Bedeutung, woraus sich allerdings kaum eine Rangordnung ableiten lässt. Säuglinge haben eine starke Bindung zu den Eltern, erschüttert durch die Trennung wird hier vor allem die durch hohe Abhängigkeit bedingte Befriedigung basaler Bedürfnisse, was zu einer grundlegenden Bindungsunsicherheit und erhöhten Ängstlichkeit führen kann. Bei Kindern im Vorschulalter wird die Trennung bewusster wahrgenommen. Hier fehlen in der Regel eigene Strategien der Bewältigung, der Trennungsschmerz kann umschlagen in Egozentrismus, Regression oder Schuldgefühle. Kinder im Grundschulalter verfügen im Ansatz schon über eigene Strategien, begreifen das Geschehen aber genauer, was negative Gefühle verstärken und zu Problemen im Selbstbild oder psychosomatischer Natur führen kann. Jugendliche blicken tendenziell realistisch auf die Trennung, die Bewältigung ist bereits persönlichkeitsspezifisch, doch ruht hier die Gefahr einer dem Alter nicht angemessenen Übernahme von Verantwortung (Parentifizierung), von Zukunftsängsten (bedingt durch Verständnis ökonomischer Realitäten), schnellerer Abnabelung und spezifisch jugendlichem Problemverhalten (Drogenmissbrauch etc.). Die Forschung geht davon aus, dass es keine Lebensphase gibt, in der eine Trennung signifikant mehr Schaden anrichtet als in den anderen, die Wahrscheinlichkeit langfristiger Folgen scheint allerdings für Kinder im Alter um fünf Jahre höher als bei älteren Kindern.
Destruktiv an der Trennung aber wirkt nicht vor allem die Trennung. So zeigen etwa Kinder nicht getrennter, doch dysfunktionaler Familien mit hohem Konfliktniveau durchschnittlich stärkere Probleme als Kinder geschiedener Eltern. Das kindliche Wohlbefinden scheint abhängiger von den Konflikten der Eltern als von deren Beziehungsstatus. Zudem lassen sich bei Kindern mit Fehlanpassungen nach Scheidungen entsprechende Probleme oft auch Jahre vor der Trennung schon nachweisen. So gibt die Forschung getrennten Eltern, gerade bezogen auf deren eigenes Schuldempfinden, implizit Rat. Nicht die Trennung selbst, sondern vor allem das Wie der Trennung hat Potential, auf Kinder stark negativ und bleibend zu wirken. Die Eltern also müssen nach dem Ende ihrer Beziehung gewissermaßen weiter an der Beziehung arbeiten. Sie mag gestorben sein, aber sie ist noch da. Das klingt klinisch, berechnend und viel leichter, als es dann ist, doch nur so kann die krisenhafte Phase von allen Betroffenen einigermaßen bewältigt werden. Kaum was wäre falscher, als das Kind in die emotionalen Komplikationen der elterlichen Beziehungsebene einzubeziehen.
Welche jener Wies Trennungskindern besonders schaden, scheint ebenfalls einigermaßen valide. Kommt die Trennung über das Kind als plötzliches, unvorhergesehenes Ereignis, erhöht sich die psychische Belastung tendenziell, Vertrauen in die Welt wird erschüttert, zum Trennungsschmerz tritt das Gefühl, inmitten einer Lüge gelebt zu haben. Vice versa kann auch eine sich länger schon angekündigt habende Trennung destruktiv wirken, insofern sie einen dauerhaft gespürten Konflikt zur Vollendung bringt, das heißt: in Stein haut. Wenn die Konflikte der Eltern kindbezogen waren – und in der Regel dann nach der Trennung fortgesetzt werden –, erhöht sich das Risiko einer Schuldübernahme durch das Kind, das zugleich an der eigenen Wirksamkeit zweifelt. Schuldgefühle können auch verstärkt werden, wenn ein Elternteil nach der Trennung aus dem Leben des Kindes ganz oder weitgehend verschwindet; die Trennung ist dann nicht nur eine von der Mutter, sondern auch vom Kind.
Überaus destruktiv wirken sich Loyalitätskonflikte auf das Seelenleben von Kindern aus. Vor dem Hintergrund jener Funktion der Eltern, dem Kind gesellschaftliche Anforderungen in einem Umfeld der Geborgenheit und Sicherheit zu vermitteln, erweist sich die Fortsetzung des Beziehungskonflikts nach der Trennung, soweit das Kind in ihn einbezogen wird, als tiefer Riss durch die gesamte Erlebniswelt. Eltern, die den Expartner vor dem Kind schlechtmachen, es gewissermaßen auffordern, ihre Sicht auf die Mutter oder den Vater zu teilen, mögen aus nachvollziehbarem Schmerz heraus handeln, setzen aber ihre Bedürfnisse auch dann über die des Kindes, wenn sie gute Gründe für ihre Kritik haben. Sie rationalisieren ihre Aversion gegen das andere Elternteil moralisch und zwingen das Kind in eine Koalition, was in abgeschwächter Form auch für die Gewohnheit gilt, das Kind als Nachrichtenübermittler in Beschlag zu nehmen.
Komplikationsreich ist zudem die Verschiebung der familiären Rollen, die mit einer Trennungssituation häufiger als selten einhergeht. Das kann zum einen ganz praktisch passieren, indem das Kind parentifiziert wird, also Aufgaben übernimmt, die zuvor die Eltern ausgefüllt haben. Das Kümmern um Geschwister etwa oder Mental Load mit Alltagsdingen. Erwachsenwerden muss jeder, doch der Zwang kann zu früh, zu abrupt kommen, verknüpft mithin dem traumatischen Erlebnis einer zerbrochenen Familie.
Zum anderen kann die Rollenverschiebung auf der emotionalen Ebene stattfinden. Indem ein Elternteil mit dem Kind die Verlustgefühle teilt und dadurch eine neue Form der Bindung herstellt, die dem Eltern-Kind-Verhältnis nicht angemessen ist. So naheliegend scheint, den gemeinsamen Verlust der gemeinsamen Familie gemeinsam zu verarbeiten – denn das Kind hat nicht nur ähnliche Gefühle der Trauer, es ist auch nach der Trennung der nächstliegende Ansprechpartner –, so verständlich zudem der Impuls, dieses treibende Elterngefühl zu tilgen, es gründlich verkackt zu haben, indem man sich dem Kind erklärt: Die damit entstehende Dyade wird zu einer Form emotionaler Ausbeutung. Vermeintliche Empathie im Glauben, dem Kind etwas Gutes zu tun, wenn man mit ihm in eine Leidensgemeinschaft tritt, hebt es auf Augenhöhe des Elternteils, macht aus ihm einen sekundären Partner. Das Kind sieht sich gewissermaßen gezwungen, das Gefühlsmanagement des Elternteils zu übernehmen. Eltern-Kind-Liebe funktioniert nie bloß als emotionale Bindung, die Liebe wird in dieser Art Beziehung asymmetrisch. Eltern müssen Kindern zugleich Sicherheit geben, was unmöglich scheint, wo eine Beziehung zwischen Gleichen eingegangen wurde.
Vielleicht ist das die schwierigste Übung für den zurückbleibenden Vater oder die zurückbleibende Mutter. Dem Kind nah sein und dennoch in gewisser Beziehung Distanz zu wahren. Was wohl nicht allein für Trennungssituationen, sondern für Erziehung überhaupt gilt. Auch wenn man den Expartner nicht vermisst, die organische Einheit der früheren Familie wird vermisst. Zurückbleibender Elternteil sein bedeutet immer auch ein wenig einsam bleiben. Das gilt kaum weniger, wenn die zerbrochene Familie verpatchworkt wird, ein neues Elternteil und womöglich neue Geschwister hinzukommen. Der neue Partner muss die Balance hinbekommen, sich emotional einzufügen, ohne die Stellung des abwesenden Elternteils zu beanspruchen. Er muss einordnen können, dass er nicht erst durch Benehmen, sondern bereits durch Anwesenheit stört, muss in die Ohnmacht resignieren, dass er selbst bei bestem Bemühen am Ende vom Willen der Stiefkinder, ihn zu akzeptieren, abhängig bleibt. Mitunter klappt es einfach nicht, und nie klappt es vollkommen. Der Bruch kommt hier nicht erst, er ist längst da. Patchwork heißt Einheit aus Scherben.
All das steht unabhängig von der Präsenz des abwesenden Elternteils, in der, wie angerissen, ebenfalls Implikationen liegen, die große Wirkung auf das Seelenleben des Kindes haben können. Und ebenfalls ebenfalls geht es hier weniger um das Was als um das Wie. Betreuungsmodelle haben sich historisch entwickelt. Das herkömmliche Modell, in dem das Kind bei der Mutter bleibt, ist an traditionellen Vorstellungen orientiert. Das in den letzten Jahrzehnten aufgekommene Wechselmodell, das das Leben der Kinder zwischen den Elternteilen aufteilt, versteht sich als kindorientiert, dürfte bei näherer Betrachtung aber eher als elternorientiert zu deuten sein. Im empathischen Gedanken, dem Kind doch Zeit mit beiden Elternteilen zu gönnen, steckt der egoistische, auf das Kind nicht verzichten zu wollen. Man mag an den biblischen Salomon denken, der ein Kind körperlich zu zerteilen vorschlug, um herauszubringen, wer von den streitenden Erwachsenen es mehr liebt. Das ist, zugegeben, nicht ganz dasselbe, als Metapher taugt es dennoch. Einfacher: Welches Betreuungsmodell zu bevorzugen wäre, hängt ab vom jeweiligen Kind. Manch eins verträgt die Wechsel nicht gut, dann wäre Verzicht auf gemeinsame Zeit mehr Zeichen der Liebe als das Bestehen darauf. Übrigens ist das Wechselmodell viel weniger verbreitet als gemeinhin angenommen. Während es in Schweden, Australien und den Benelux-Staaten immerhin bei 25 Prozent liegt, leben in Deutschland lediglich 5 Prozent entsprechend. 53 Prozent leben bei einem Elternteil mit seltenem Kontakt zum anderen, 25 bei einem mit häufigem Kontakt zum anderen, 17 bei einem ohne Kontakt zum anderen. Die Forschung hat bislang keine klaren Vor- oder Nachteile des einen oder anderen Modells ermitteln können. Studien zeigen allerdings, dass das Wechselmodell am ehesten bei Kindern zwischen 3 bis 12 Jahren funktioniert, wenn die Eltern höheren und einander ähnlichen Bildungsstand besitzen sowie bei geringer Entfernung der Wohnungen.
Am Ende verhält es sich wie mit den meisten Ärgernissen. Es gibt ein paar Dinge, die man jedenfalls unterlassen sollte, eine universelle Formel gibt es nicht. Die Hauptarbeit muss das Kind ohnehin selbst wuppen. Den größten Gefallen, den die Eltern, die sein Leben versaut haben, ihm tun können, ist ihm möglichst wenig bei der Bewältigung des Sauhaufens im Wege zu stehen. McCartneys ursprünglich als Platzhalter ins Lied geratene Zeile wird hier ganz aus Versehen maßgeblich: The movement you need is on your shoulder.
Felix Bartels hat mit Atlas und Julian Lennon gemein, dass er die Welt auf den Schultern trägt. Nebenberuflich arbeitet er bei junge Welt als Redakteur für besondere Aufgaben.
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