Radikaler Neuanfang in der Pflege
Von Oliver Rast
Das Wohnzimmer ist klein, kaum 13 Quadratmeter. Die Einrichtung karg, der Teppich stellenweise abgewetzt. Die Gardinen sind halb zugezogen, damit das grelle Winterlicht nicht auf die empfindlichen Augen fällt. Der Geruch von frisch gekochter Hühnersuppe hängt noch in der Luft, vermischt mit dem strengen Aroma von Desinfektionsmitteln. Auf dem niedrigen Tisch liegt eine Batterie kleiner Plastikboxen, darin fein säuberlich sortiert und portioniert Tabletten – runde, ovale, einige mit Bruchrille. Daneben ein Stapel Pflegeprotokolle, die mit Kugelschreiber ausgefüllt sind.
Die Pflegerin kniet neben dem Sessel, in dem Frau K. sitzt. Sie prüft den Blutdruck, spricht dabei leise – und sagt: »140 zu 90, leicht erhöht, aber nicht beunruhigend.« Frau K. nickt fast unmerklich und lässt sich wieder in den Sessel sinken. Eine Szene aus der häuslichen Pflege. Typisch. Unspektakulär. Überall in den Städten und Gemeinden Deutschlands. Aber die Situation in der Pflegebranche ist prekär, besonders in der ambulanten.
Ein »radikaler Neuanfang in der häuslichen Pflege« sei erforderlich, betonte Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverbands VdK, am Dienstag auf einer Pressekonferenz in Berlin. Angesichts der demographischen Entwicklung und der immer schlechter werdenden Abdeckung durch ambulante Pflegeangebote müssten die Kommunen eine Vorreiterrolle in der Versorgung von pflegebedürftigen Menschen übernehmen, fordert Bentele. Etwa mittels kommunaler Pflegeämter. Denn Pflege »muss zur Pflichtaufgabe der Kommunen werden«. So wie in Dänemark, dem Musterbeispiel einer seitens der Gemeinden organisierten Pflegeversorgung.
Nur, davon steht nichts in dem 48seitigen Zwischenbericht der Bund-Länder-Arbeitsgruppe »Zukunftspakt Pflege« unter der Regie von Bundesgesundheitsministerin Nina Warken (CDU). Am vergangenen Donnerstag präsentierte die Ressortchefin die wichtigsten Ergebnisse zur »Reform« der sozialen Pflegeversicherung (SPV). Ein Dreiklang als Reklameslogan: »Prävention stärken, Versorgung verbessern, Finanzierung sichern«. Werbung halt. Denn im Kern geht es um höhere Schwellenwerte bei der Pflegeeinstufung, um weniger Leistungen und um mehr private Zusatzversicherungen. Entsprechend ernüchtert waren die Reaktionen.
Das Kuratorium Deutsche Altershilfe (KDA) warnte am Montag vor einem »Vertrauensverlust« in die Gesundheitspolitik. »Statt konkreter Eckdaten und Empfehlungen für den Gesetzgeber liege nun lediglich eine Art Diskussionspapier vor«, wurde Alexia Zurkuhlen, Vorständin des KDA, in einer Mitteilung zitiert. Sie verwies auf bereits vorliegende »durchgerechnete Konzepte für eine Zukunftsreform der Pflege«. Ferner müsse die Bundesregierung, die unrechtmäßige Entnahme von Finanzmitteln aus der sozialen Pflegekasse für versicherungsfremde Zwecke beenden. Ähnlich äußerte sich gleichentags Daniela Teichert. Der Output der Bund-Länder-AG wirke eher wie eine lose Ideensammlung als ein verbindlicher Reformplan für ein Gesetzgebungsverfahren ab Ende 2026, so die Vorstandsvorsitzende der AOK Nordost. Schärfer formuliert die Vorsitzende der Partei Die Linke, Ines Schwerdtner. Die Pflegekommission habe eine Kapitulationserklärung vorgelegt. Sonst nichts. »Wer so mutlose Vorschläge macht, will die Pflegekatastrophe nicht verhindern, sondern nur verwalten.«
Und nun? Wie ist die Versorgungskrise in der Pflege zu lösen? Zunächst: Rund 5,7 Millionen Personen sind dem VdK zufolge hierzulande pflegebedürftig. Knapp 86 Prozent (4,9 Millionen) von ihnen wurden 2023 überwiegend von Angehörigen oder gemeinsam mit ambulanten Pflege- und Betreuungsdiensten zu Hause versorgt. Zentrales Problem seien Strukturen – Bentele: »Die Verantwortungsdiffusion zwischen Pflegekassen, Bund, Ländern, Kommunen und Pflegeeinrichtungen ist der größte Hemmschuh für eine gesicherte und gute Pflege.« Das Ziel müsse eine Pflegeinfrastruktur vor Ort sein, ein kommunales, nachbarschaftliches Netzwerk unter Einbeziehung der Sozial- und Wohlfahrtsverbände. Damit ließen sich Pflegeangebote steuern, eine (temporäre, lokale) Unterversorgung verhindern. Bleibt der Knackpunkt Kosten.
Richtig. Klar sei, so Benetele, die angespannte Finanzlage vieler Kommunen dürfe nicht weiter verschärft werden. Eine dauerhafte und vollständige Finanzierung der Pflegeausgaben als öffentliche Daseinsvorsorge müssten Bund und Länder tragen. Punktum. Aber was noch? Es braucht eine solidarische Pflegevollversicherung, die alle Leistungen abdeckt, in der alle Einkommen herangezogen werden.
All das würde Frau K. helfen. Auch wenn das Wohnzimmer noch immer klein ist, auch wenn die Gardinen noch immer halb zugezogen sind – und das Winterlicht gedämpft hineinfällt.
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