Der Konflikt um die Kabylei
Von Sabine Kebir
Die Welt darf sich über die für den 14. Dezember angekündigte Unabhängigkeitserklärung der Kabylei wundern. Aus der östlich von Algier liegenden Provinz zogen während der Kolonialperiode die meisten algerischen Arbeitsmigranten nach Frankreich. Der nach der Unabhängigkeit Algeriens entbrannte Kulturkampf der Kabylen um die Anerkennung ihrer berberischen Sprache Tamasight war 1995 – mitten im Bürgerkrieg – erfolgreich. Da es in ganz Algerien Berbergebiete gibt, wurden damals die Voraussetzungen geschaffen, Tamsight als Schulfach zu etablieren. Seit 2016 ist es auch zweite Amtssprache. Auf öffentlichen Gebäuden im ganzen Land prangt deren Bezeichnung nicht mehr auf arabisch und französisch, sondern auf arabisch und tamasight.
Die von dem in Frankreich verwurzelten Mouvement pour l’autodétermination de la Kabylie (MAK), der Bewegung für die Selbstbestimmung der Kabylei, angekündigte Unabhängigkeitserklärung gehört zu den seit eineinhalb Jahren verstärkten Versuchen, Algerien zu destabilisieren. Sie stehen im Zusammenhang mit dem vom Westen geführten Kampf um die Fortführung der neokolonialen Ausbeutung der Rohstoffe Afrikas. Der erzwungene Abzug der hauptsächlich französischen Truppen aus Westafrika zog einen stärkeren Einsatz der USA nach sich. Sie können nicht offen vorgehen, sondern nur mittels Diplomatie, geheimdienstlicher Aktivitäten und mit Schützenhilfe des Königreichs Marokko, das seit dem Zweiten Weltkrieg ihr enger Verbündeter ist. Dass der französische Präsident Emmanuel Macron, der in seiner ersten Amtszeit eine geradezu spektakuläre Annäherung an Algerien vollzog, im Sommer 2024 umschwenkte und die marokkanische Souveränität über die besetzte Westsahara anerkannte, für die sich nun auch US-Präsident Donald Trump engagiert, erklärt sich vor diesem Hintergrund.
Algerien hat seit seiner eigenen Unabhängigkeit nicht nur selbst versucht, seine Ressourcen zum eigenen Vorteil zu verwalten, sondern auch andere Staaten mit antiimperialistischer Agenda politisch – aber niemals militärisch – unterstützt. Mit seinem gewachsenen wirtschaftlichen Wohlstand ist es immer mehr auch in der Lage, die innerafrikanische wirtschaftliche Zusammenarbeit zu stärken. Das geschieht einerseits durch Handel und andererseits durch den Bau von Infrastrukturprojekten wie Pipelines und Autobahnen. Nicht nur, weil es den kleineren Teil seiner Waffen aus dem Westen und den größeren Teil aus Russland bezieht, sondern weil es eben auch als unbequemer politischer und wirtschaftlicher Konkurrent auftritt, ist Algerien zur Zielscheibe der französischen extremen Rechten geworden. Deren überbordende Aggressivität zwingt die Macron-Regierung sogar hin und wieder dazu, rhetorisch zurückzurudern – meist jedoch wenig überzeugend.
Mit dem Einfrieren diplomatischer Beziehungen, der Schließung von Konsulaten und der angekündigten Revision langjähriger zwischenstaatlicher Verträge, die die Bewegungsfreiheit zwischen den Ländern geregelt haben, zog im Frühjahr 2025 die schwerste Krise zwischen Algerien und Frankreich seit der Unabhängigkeit herauf. Während sich Macrons Regierung auf angeblich erhöhte Kriminalität von Algeriern in Frankreich fokussiert, arbeiten extrem rechte Medien mit dreistem Geschichtsrevisionismus. Dabei werden angebliche Zivilisationsleistungen der Kolonialmacht bis zur Behauptung glorifiziert, dass Algerien vor 1830 ein Gebiet wilder Stämme gewesen sei und erst Frankreich die Grenzen zu Marokko und zu den damaligen Monarchien Tunesiens und Libyens gesichert habe. Völlig unerwähnt bleibt, dass Algerien damals Teil des hochorganisierten Osmanischen Reichs war. Das als Faksimile 2023 in den USA neu herausgegebene Buch »Nachrichten und Bemerkungen über den algerischen Staat«, das der damalige dänische Konsul in Algier, Johann von Rehbinder, 1799 auf deutsch in Altona publizierte, zeichnet auf 500 Seiten ein sehr günstiges Bild der Organisation des öffentlichen Lebens, in dem auch Juden und Christen einen geachteten Platz einnahmen. Mehr noch bezeichnet er auch die von Marokko beanspruchten westalgerischen Städte Tlemcen, Oran und Mascara als Teil des algerischen Staates.
Dass Westalgerien aber einmal marokkanisch wird oder die Kabylei unabhängig, ist unwahrscheinlich. Der selbsternannte Präsident der Unabhängigkeitsbewegung für die Provinz, der ehemals populäre Sänger Ferhat Mehenni, gibt zu, dass es sich um eine symbolische Geste handelt, um die »totalitäre Diktatur« herauszufordern. Bislang haben nur Marokko und Israel die Eigenständigkeit der Kabylei anerkannt. Nachdem Mehenni 2021 versucht hatte, den Fußballklub Jeunesse Sportive de Kabylie (JSK) für das MAK zu instrumentalisieren, erließ Algerien einen internationalen Haftbefehl gegen ihn. Und weil der französische Journalist Christophe Gleizes in Kontakt mit Mehenni und dem JSK stand, hat ein algerisches Berufungsgericht am 3. Dezember dessen siebenjährige Haftstrafe bestätigt.
Hintergrund: Sansal und die Rechte in Frankreich
Aufgrund einer Bitte von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ist der im November 2024 verhaftete und zu fünf Jahren Gefängnis verurteilte franko-algerische Schriftsteller Boualem Sansal am 4. Dezember von Algeriens Präsident Abdelmadjid Tebboune begnadigt worden. Nach kurzem Aufenthalt in einer deutschen Klinik kehrte er nach Frankreich zurück und gab dort viele Interviews. Darin betonte er auch, dass seine Bücher – anders als oft behauptet – in Algerien erhältlich seien.
Damit bestätigt er, dass sich seine Verhaftung auf die in extrem rechten französischen Medien geäußerte Meinung bezog, die Westsahara müsse als marokkanisches Territorium anerkannt werden, und große Teile Westalgeriens seien vor der Ankunft der Franzosen marokkanisch beherrscht gewesen. Wenn Sansal nun sagt, dass es ein Fehler gewesen sei, das auszusprechen, er dies aber nicht bereue, hält er an seiner eigentlichen Behauptung fest. Nun argumentiert er sogar, dass »die Sahrauis sich von der Vermittlung Algeriens freimachen und direkt mit Marokko verhandeln wollen«. Hier offenbart Sansal, dass er nicht nur über wenig historische, sondern auch wenig politische Sachkenntnis verfügt. Denn Algerien hat nie etwas anderes als direkte Gespräche zwischen Marokko und der sahrauischen Befreiungsfront Frente Polisario gefordert.
Es war US-Präsident Donald Trump, der sich im November der marokkanischen Sichtweise anschloss, dass das Problem der Westsahara zwischen Algerien und Marokko gelöst werden müsse, da es sonst zu einem Krieg kommen werde. Indem er nach enormer Lobbyarbeit eine Resolution durch den Sicherheitsrat der UNO brachte, wonach die Autonomie der Westsahara auch Grundlage künftiger Verhandlungen sein könne, stellte er sich selbst als Friedensstifter zwischen Marokko und Algerien dar. Die Frente Polisario hat ihre Bereitschaft zu Verhandlungen erklärt, was aber keinen Verzicht auf das Selbstbestimmungsrecht der Sahrauis bedeute.
Mit der Behauptung Sansals, »alle Kabylen« stünden hinter den Forderungen des MAK, stimmt er auch in diesem Punkt in den Destabilisierungschor der französischen Rechten ein. Offenbar aufgrund dieser Äußerungen hat die algerische Regierung am 29. November Sansals Pass für ungültig erklärt – er kann also vorläufig nicht nach Algerien einreisen. Obwohl er das eigentlich vorhatte, verkündet er nun, dass er durch sein Geburtsdatum ja eigentlich immer Franzose gewesen sei. Erinnert man sich an den Entzug der Staatsbürgerschaft Wolf Biermanns durch die Regierung der DDR, ist nicht zu erwarten, dass sich der Presserummel um Sansal abschwächt. (ske)
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