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Aus: Ausgabe vom 24.11.2025, Seite 15 / Politisches Buch
Militarismus und Antimilitarismus

Die nächste Mobilmachung

Von der Wiederbewaffnung zur Kriegstüchtigkeit: Ein kritischer Sammelband zur 70jährigen Geschichte der Bundeswehr
Von Matthias Rude
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Nicht mehr die Knochen hinhalten: Protestaktion gegen die Remilitarisierung im Jahr 1955

Der Kommunist Philipp Müller wurde 1952 in Essen bei einer Demonstration gegen die Remilitarisierung Westdeutschlands von der Polizei erschossen. Gemeinsam mit zwei schwerverletzten Mitstreitern zählte er zu den »ersten Opfern des neuen deutschen Militarismus«, heißt es in dem eben erschienenen Band »Die große Mobilisierung«. Von diesem historischen Ausgangspunkt spannt der Sammelband den Bogen bis zur »Zeitenwende« und zeichnet nach, wie die Bundeswehr in den 70 Jahren ihres Bestehens auf unterschiedliche Weise ideologisch aufgewertet, politisch enttabuisiert und gesellschaftlich normalisiert wurde.

Im Vorwort erinnern die Herausgeber daran, dass es 1955, im Gründungsjahr der Bundeswehr, breiten Bevölkerungsschichten Westdeutschlands – im Gegensatz zu den »neuen alten Eliten« – noch widerstrebte, sich auf ein weiteres militärisches Abenteuer des deutschen Imperialismus einzulassen. Nach zwei Weltkriegen und zwölf Jahren Faschismus sei die Remilitarisierung »für viele ein rotes Tuch« gewesen; entsprechend wurde sie von Massenprotesten begleitet.

Heute bleibt ein solcher Widerstand aus. Statt dessen wird auf breiter Front oft unwidersprochen dem Bellizismus das Wort geredet. Angesichts des »moralindurchtränkten Dauerfeuers nahezu sämtlicher Akteure in Medien und Politik im Fall Ukraine« schlossen sich die Reihen – bis weit ins nominell linke Lager. Mit der Lüge, dort würden »unsere Werte« verteidigt, wird verschleiert, dass Kriege stets im Interesse der Reichen und Mächtigen geführt werden. In wechselnden Koalitionen wird die Bevölkerung mit Schlagworten wie »Kriegstüchtigkeit« auf das nächste große Schlachten eingestimmt – ein Vorhaben, für das nicht nur Sozialleistungen zusammengestrichen, sondern auch Änderungen am Grundgesetz durchgedrückt werden.

Die Autoren des Bandes bringen eine breite Mischung aus journalistischer, wissenschaftlicher und praktischer antimilitaristischer Erfahrung ein. Einige sind seit Jahren bei der Tübinger Informationsstelle Militarisierung (IMI) aktiv, andere berichten regelmäßig für deutschsprachige und internationale Medien. Alle verbindet die kritische Auseinandersetzung mit deutscher Militärpolitik und das Ziel, eine fundierte linke Perspektive in die Öffentlichkeit zu tragen. Das Buch bietet einen klar gegliederten Überblick über die Geschichte der Bundeswehr und ihre gesellschaftliche Einbettung entlang von vier inhaltlichen Strängen: historische Entwicklung, Auslandseinsätze, innere Organisation und geopolitische Funktion.

Ein erster Teil untersucht, wie die Bundeswehr sich in den letzten Jahrzehnten gewandelt hat. Laut dem Politikwissenschaftler Christoph Marischka wird sie derzeit, einer »Startup-Mentalität« folgend, nach dem Vorbild der Techindustrie umgebaut, wobei die Grenzen zwischen Militär, Wirtschaft und Politik zu Lasten demokratischer Kontrolle und Transparenz verwischt werden. Der zweite Abschnitt analysiert jüngere deutsche »Auslandseinsätze« kritisch: Somalia, Albanien, Jugoslawien, Afghanistan, Sahel. In einem dritten Schritt analysiert der Band die innere Organisation des Militärs und dessen Durchdringung der Gesellschaft – hier geht es um die Bundeswehr als Dienstherrin, ihre PR-Strategien, Frauen beim Heer, Einsätze im Inneren, rechte Netzwerke und die Funktion von Gelöbnissen. Der vierte Teil beleuchtet geopolitische Dimensionen – die Beiträge handeln von der Bundeswehr als Armee zur Sicherung ökonomischer Interessen zur Durchsetzung des deutschen Führungsanspruchs in der EU und globaler Ambitionen der herrschenden Klasse Deutschlands.

Hervorzuheben ist der Beitrag von Emran Feroz. Der Journalist zeichnet ein schonungsloses Bild des zwanzigjährigen Afghanistan-Einsatzes. Anschaulich arbeitet Pablo Flock von der IMI die ideologischen Linien deutscher Kriegsrhetorik heraus. Auf eindrückliche Weise erinnert der Historiker Frank Brendle daran, wie Deutschland 1999 als kriegführende Nation auf die Weltbühne zurückkehrte und die rot-grüne Bundesregierung den völkerrechtswidrigen Einsatz in Jugoslawien mit Greuelpropaganda rechtfertigte, die sich einer bis dahin nicht gekannten Instrumentalisierung und Relativierung faschistischer Verbrechen bediente. Zusammengenommen ergeben die Texte des Sammelbandes ein klar gezeichnetes Panorama deutscher Kriegspolitik. Der Abschlussbeitrag bietet ergänzend einen knapp gehaltenen historischen Überblick über die bundesdeutsche antimilitaristische Bewegung.

Insgesamt ist der Band gelungen. Er liefert einen gut strukturierten Überblick über die letzten 70 Jahre – historisch, analytisch, politisch scharf – und ist zugleich umfassende Informationsquelle sowie ein Aufruf zur kritischen Auseinandersetzung mit der Bundeswehr als Instrument von Machtinteressen. Das hier gebündelte Wissen liefert eine Grundlage für eine konsequent antimilitaristische Position – und für den Widerstand gegen die nächste Mobilmachung.

AK Antimilitarismus (Hrsg.): Die große Mobilisierung. Die Bundeswehr von der Wiederbewaffnung zur Kriegstüchtigkeit. Papyrossa, Köln 2025, 208 Seiten, 16,90 Euro

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