Wie sieht ein besseres System zur Risikobewertung aus?
Interview: Luca von Ludwig
Demnächst steht in der EU eine Revision der Chemikalienverordnung REACH an. Sie haben vor kurzem mit einigen Kollegen einen neuen Mechanismus zur Bewertung der Gefährlichkeit von chemischen Stoffen in der Umwelt formuliert. Wie funktioniert das bisher?
Unter REACH muss bisher für jeden Stoff einzeln nachgewiesen werden, dass seine Verwendung sicher ist. Das wird gemacht, indem die erwartete Konzentration abgeschätzt wird, in der er in einem Fluss, einem menschlichen Körper oder ähnlichem auftaucht. Das wird verglichen mit der Konzentration, bei der der Stoff als gerade noch sicher gilt. Das ist der sogenannte Risikoquotient.
Und Sie meinen, dass dieser Mechanismus unzureichend ist?
Definitiv. Er ist – Datenlücken mal außen vor gelassen – ausreichend, wenn man einen einzelnen Stoff betrachtet. Aber er ignoriert die Realität, dass viele Stoffe gemeinsam in einem Körper oder Ökosystem vorkommen.
Wie sollte ein besseres System zur Risikobewertung demnach aussehen?
Die Mischung der Stoffe muss betrachtet werden. Es geht darum, dass man im Körper eines Menschen, in einem Fluss oder einem Wald eben nicht nur einen, sondern Dutzende oder Hunderte von Stoffen findet. Da kann man nicht jedem einzelnen erlauben, bis ans Limit zu gehen, bis an seine maximal noch zu tolerierende Konzentration. Wir müssen berücksichtigen, dass all diese Stoffe im gleichen Ökosystem vorkommen. Jeder Stoff darf daher nur zu einem bestimmten Bruchteil der alleine noch tolerierbaren Konzentration vorkommen. Das nennen wir den »Mixture Allocation Factor«.
Was sind die Gefahren, wenn sich Chemikalien aus verschiedenen Quellen überlagern?
Ein Mensch wird mit Chemikalien aus Kosmetika belastet, wenn er auf der Straße spazieren geht, aus Nahrungsmitteln, aus Trinkwasser – aus ganz vielen verschiedenen Quellen kommen auf einen Körper Belastungen zu. Man kann nicht einfach sagen, die Konzentration von Stoff 15 ist sicher und bei Stoff 17 liegt die Belastung im Trinkwasser im sicheren Bereich oder dergleichen. Es geht darum, den Menschen ins Zentrum zu stellen: Die Gesamtbelastung, die ein Mensch ausgesetzt ist, darf eben die Gesamtmenge nicht überschreiten, die ein Mensch noch aushalten kann.
Gibt es für solche gefährlichen Mehrfachbelastungen überhaupt eine genügende Datengrundlage?
Das hängt davon ab, wie fein man die Bewertung aufgliedern will. Bei Arzneimitteln und deren Wechselwirkungen wird das sehr tiefgehend gemacht und auf den Beipackzetteln exakt gewarnt, welche Wirkstoffe nicht zusammenkommen dürfen. Das können wir hier nicht machen, denn genau dafür haben wir nicht genügend Daten. Wir brauchen eine grobe Daumenregel. Wir schlagen deshalb einen »Risk Cup« vor. Wenn man die Risikoquotienten der einzelnen Stoffe aufaddiert und in der Summe unterhalb einer bestimmten Grenze bleibt, ist man auf der sicheren Seite. Das ist nicht hundertprozentig korrekt, wir wissen aber aus empirischen Studien, dass das sehr gut klappt.
Gibt es bei Ansätzen zur Verschärfung auch Hürden durch die Chemielobby? Für die Konzerne ist es ja wahrscheinlich besser, wenn Stoffe einzeln »abgerechnet« werden.
Die REACH-Verordnung war da schon ein großer Fortschritt. Vorher wussten wir teils gar nicht, welche Chemikalien wie gefährlich sind. Die Forderung, sich nun besser um Mischungen zu kümmern, stammt aus der Chemiestrategie für Nachhaltigkeit, die vor einigen Jahren von der EU-Kommission vorgeschlagen wurde. Schon damals gab es Gegenwind und jetzt auch wieder. Der Dachverband der europäischen Chemieindustrie warnt zum Beispiel vor den wirtschaftlichen Folgen. Da muss man fragen: Was kommt zuerst? Schutz der menschlichen Gesundheit und der Umwelt – oder Schutz ökonomischer Interessen? Ein Problem ist auch, dass viele Daten nicht öffentlich sind und von der Industrie nicht herausgegeben werden.
Sollte man legislativ mehr Transparenz einfordern?
Auf jeden Fall. Wir wissen zur Zeit nicht, wieviel von welcher Chemikalie auf dem Markt ist, wie und wo sie eingesetzt wird. Wir müssen allem hinterherlaufen und teilweise Belastungen messen, ohne genau zu wissen, welche Stoffe wir wo erwarten können. Das ist das große Problem, das wir bisher haben.
Thomas Backhaus ist Professor für Ökotoxikologie an der Universität Göteborg in Schweden
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