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Aus: Ausgabe vom 17.11.2025, Seite 5 / Inland
Schöne Neue Grundsicherung

Angriff auf die Ärmsten

»Neue Grundsicherung« hilft weder Beziehern noch der Arbeitsvermittlung oder dem Staatshaushalt, bedroht aber Existenzen unfreiwillig Unbeschäftigter
Von Niki Uhlmann
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Denkt über die nächsten Kürzungsmöglichkeiten nach: Bundeskanzler Friedrich Merz (Berlin, 16.10.2025)

Der Herbst der Reformen fegt über die BRD hinweg. »Der Sozialstaat, wie wir ihn heute haben, ist mit dem, was wir volkswirtschaftlich leisten, nicht mehr finanzierbar«, hatte ihn Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) im Sommer angekündigt. Am 12. November hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) einen Entwurf zur Reform der »Grundsicherung für Arbeitssuchende« zur Verbändeanhörung vorgelegt.

Ziel sei, »das Gleichgewicht zwischen Unterstützung und Mitwirkung, zwischen Solidarität und Eigenverantwortung (…) neu auszubalancieren«. Konkret erforderten die »schwierige konjunkturelle Entwicklung«, der »demographische Wandel« und die »geopolitischen Krisen« umgehend »Einsparungen in der Grundsicherung«. Was Staat und Kapital verbockt haben, sollen Arme also ausbaden. Gelinge es, 100.000 Regelleistungsberechtigte zu beseitigen, könnten jährlich 850 Millionen Euro gespart werden. Dass dem letztlich eine »konjunkturelle Belebung« vorausgesetzt ist, gesteht das BMAS allerdings zu. Da die nicht in Sicht ist, will es offenbar härter zulangen, um den meist unfreiwillig Unbeschäftigten das letzte Hemd abzupressen. Der Erwerbslosen- und Sozialhilfeverein Tacheles hat bereits Anfang November aufgeschlüsselt, dass die »Neue Grundsicherung« mit »Existenzsicherung nichts mehr zu tun« hat.

»Wir verschärfen die Sanktionen bis an die Grenze dessen, was verfassungsrechtlich zulässig ist«, beschrieb Arbeitsministerin Bärbel Bas (SPD) das Verfahren im Oktober. Tacheles kritisiert, dass das Ministerium den Verfassungsbruch mit juristischen Kniffen lediglich umgeht. Versäumte ein Leistungsbezieher nach der Reform auch nur einen Termin, stünde es dem Jobcenter frei, mittels Verwaltungsakten »schikanöse Pflichten« anzuordnen und ihn damit »faktisch dauerhaft zu sanktionieren«. Eine Rückkehr zu einem »Kooperationsplan« sei nicht vorgesehen. Verpasse der Leistungsberechtigte auch einen zweiten sowie dritten Termin und melde sich nicht binnen eines Monats, greife die »Nichterreichbarkeitsfiktion«, verliere er seinen Anspruch auf sämtliche Leistungen, auch Obdach und Versicherung. Wird einfach simuliert, dass Leistungsberechtigte verschollen sind, kann die Verfassung das Existenzminimum noch so sehr anordnen.

Kontraproduktiv sei zudem, dass die Pflicht, die eigenen Bemühung um Lohnarbeit nachzuweisen, ein »eigener Sanktionstatbestand« werden soll. Wo ein solcher Nachweis bislang ausreiche, um Sanktionen wieder zu beenden, würde nach der Reform auch bestraft, wer Beschäftigung suche, aber eine Frist reiße. »Das dürfte deren Motivation erheblich einschränken«, so Tacheles, zumal die Sanktionen drei Monate bestehen blieben, ganz gleich, ob man sich weiter bemühe oder nicht. Das BMAS plane damit eine »Trennung von Verhalten und Sanktion«. Die Maßnahme würde »als Grundrechtseingriff nicht mehr das Ziel einer Verhaltensänderung bei Betroffenen« verfolgen, sondern zu »einer von dieser Zielsetzung losgelösten starren Strafe, die repressiv Fehlverhalten ahnden und mit Angst vor der ›Tat‹ abschrecken soll«.

Eindämmen will das BMAS laut Entwurf auch den viel beschworenen »Missbrauch der Leistungen durch überhöhte Mieten«. Dafür sollen die Unterkunftskosten beim Anderthalbfachen der jeweiligen lokalen Mietobergrenze gedeckelt und davon nur in Einzelfällen Ausnahmen gemacht werden. Das sei »zu unbestimmt«, so Tacheles, zumal »Sozialämter hier restriktiv verfahren und individuelle Härtefallgründe regelmäßig nicht anerkennen«. Betroffen wären von diesem Entzug des Existenzminimums auch »Menschen mit verringerter Erwerbsfähigkeit«, »oft alte, kranke und behinderte Menschen«, die fortan allesamt unter »Generalverdacht des Missbrauchs« stünden. Würden Vermieter ferner verpflichtet, beim Amt zahlreiche Nachweise zur Mietsache einzureichen, und wie geplant bei Unterlassung mit Bußgeldern bestraft, sinke die Bereitschaft, überhaupt noch an Leistungsbezieher zu vermieten. Geeigneter wäre eine Mietpreisbremse.

»Die Abschaffung des Bürgergelds ist der erste Frontalangriff auf den Sozialstaat. Als nächstes kommt die gesetzliche Rente«, kommentierte Timon Dzienus, Bundestagsmitglied der Grünen, gegenüber jW. »Angst verbreiten, spalten und nach unten treten« laute die »Methode Merz«. Sogar ein Qualifizierungsverbot plane die Regierung in ihrem »Sanktionsfetischismus«. Damit sei weder den Menschen noch dem Arbeitsmarkt oder dem Staatshaushalt geholfen. »Hunderttausende Menschen arbeiten, leisten ihren Beitrag – und können dennoch nicht von ihrem Einkommen leben«, erinnerte Cansin Köktürk für Die Linke daran, dass es erstmals seit 2015 wieder mehr als 800.000 Aufstocker gibt.

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