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Aus: Ausgabe vom 17.11.2025, Seite 15 / Politisches Buch
Staat und Migration

Regulativ der Krise

Eine materialistische Kritik: Fabian Georgis Analyse moderner Grenzregime hält sich von jeglicher Moralisierung fern
Von Yaro Allisat
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Polizisten aus Deutschland und Griechenland im »Frontex«-Einsatz an der bulgarisch-türkischen Grenze (29.2.2024)

Warum sterben jedes Jahr Hunderte Menschen an den Außengrenzen der EU? Das Grenzregime ist weder bloßer Überrest des Kolonialismus noch Filter für den Einlass nützlicher Arbeitskräfte, denn schließlich entscheidet auch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Asylverfahren nicht nach Bildungsabschluss. Eine Fiktion offener Grenzen im Kapitalismus gerät dennoch schnell zur neoliberalen Dystopie, denn sie lässt sich doch nur in dem Maße vorstellen, dass ihre Praxis nicht menschliche Entfaltung, sondern die größtmögliche Mobilität billiger Arbeitskraft wäre.

Der Politikwissenschaftler Fabian Georgi hat die Idee zu dem vorliegenden Buch im »Sommer der Migration« 2015 entwickelt und seitdem bereits einige Texte veröffentlicht, die sich als materialistische Analyse des Grenzregimes beschreiben lassen. Nun legt er eine umfassende Theorie vor, die erklären soll, warum ein Kapitalismus ohne Grenzregime nicht möglich, eine Transformation jedoch unbedingt notwendig ist.

Die politische Rechte in den kapitalistischen Metropolen unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht, ist sich in der herausgestellten Ablehnung von Migration jedoch sehr einig. Georgi sieht darin damit eine von vielen Regulationsstrategien, in die der Kapitalismus aufgrund seiner strukturellen Krisenhaftigkeit eingebettet sein muss, um bei den Ausgebeuteten nicht an Zustimmung zu verlieren bzw. unter den Folgen der geschaffenen Elendslagen im globalen Süden zu kollabieren. Schon Lenin hatte auf die Externalisierung der Kosten der (Re-)Produktion aus den Industrie- in die unterentwickelten Länder hingewiesen.

Auf der in den Nachkriegsjahrzehnten ausgebauten relativen Besserstellung der Lohnarbeiter im Norden ruht ein großer Teil der Hegemonieproduktion des Neoliberalismus. Doch auch hier wächst die Unzufriedenheit zunehmend. Die Krisen des Kapitalismus, so Georgi, führten »nur dann nicht zu einem Zusammenbruch dieser Verhältnisse, wenn sie im Namen von Migrations- und Grenzregimen erfolgreich reguliert werden.« Die Erzählung, Geflüchtete seien schuld an zuwenig Wohnraum oder fehlenden Arbeitsplätzen, ist in diesem Zusammenhang zu sehen.

In der kapitalistischen Moderne wurde die Arbeiterklasse zunehmend von »ihren« Nationalstaaten abhängig gemacht, die Sozialpolitik und Nationalismus kombinieren, um »die explosiven Widersprüche kapitalistischer Vergesellschaftung zu regulieren«. Das zielt auf die Kombination der Abhängigmachung der Arbeiter von den Sozialsystemen, kombiniert mit einer Erzählung des Nationalismus: Geht es dem Wirtschaftsstandort schlecht, geht es auch den Arbeitern schlecht, also muss es den Unternehmen gut gehen. Und kommen zu viele Menschen von außen, kollabiere das Sozialsystem.

Georgi hält offene Grenzen für ein durchaus denkbares Szenario. Das sei keine absurde Spinnerei, aber eben nur unter der Prämisse der grundlegenden Veränderung der (Re-)Produktionsweisen. »Der Abbau militarisierter Grenzen«, zitiert er die Politikwissenschaftlerin Hannah Cross, »muss von und im Interesse der arbeitenden Klasse gefordert werden, nicht von einer bunten Ansammlung an Argumenten für offene Grenzen«. Objektiv ermöglichten der Stand der Produktivkräfte, die Verflechtung ökonomischer, ökologischer und sozialer Krise wie auch deren Zuspitzung grundsätzlich diese Transformation. Eine solche Utopie im Sinne der materialistischen Utopiedebatte ist für Georgi kein abstrakter Eskapismus, sondern notwendig, um sich diese Welt ohne Grenzen und eben ohne Kapitalismus überhaupt vorstellen zu können. Georgi entwickelt die Vorstellung einer über Reformen und Massenstreiks eingeleiteten Transformation hin zu einer ökosozialistischen Gesellschaft mit offenen Grenzen. Darin stecken durchaus interessante Überlegungen auch für revolutionäre Ansätze.

Georgi liefert mit seinem Buch eine erste umfassende materialistisch-historische Theorie von Grenzregimen in deutscher Sprache. Der Ansatz schließt wie gesehen Überlegungen zu deren Überwindung ein. Nicht nur inhaltlich, sondern auch in der Form ist das Buch ein gelungener Fall marxistisch informierter kritischer Forschung, die sich von jeglicher Moralisierung rund um das Thema Grenzregime, aber auch von ökonomistischem Reduktionismus fernhält. Georgi weitet den Blick für die »Aufgaben« der Nationalstaaten in der Moderne und ergänzt damit die staatstheoretische Diskussion. Die Lektüre lohnt sich also für Leserinnen und Leser, die den modernen Kapitalismus verstehen und verändern wollen.

Fabian Georgi: Grenzen und Bewegungsfreiheit. Eine kritische Einführung. Bertz und Fischer, Berlin 2025, 320 Seiten, 19 Euro

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