Mit Hauruck in die Utopie
Regieren im Staat des Kapitals unter den Bedingungen einer pluralen Herrschaftsform ist eine lästige Angelegenheit. Dass spezifische Klasseninteressen des Kapitals durchgesetzt, aber zugleich widerstrebende Interessen der Kapitalfraktionen ausgeglichen werden – geschenkt. Schon schwieriger, notwendigerweise, nämlich als Garant der Reproduktion des Gesamtkapitals, auch allgemeine Interessen beziehungsweise gesellschaftliche Widersprüche zu berücksichtigen. Ferner muss, denn das ist schließlich eine objektive Bedingung der Kapitalakkumulation und also keine Kleinigkeit, die gesellschaftliche Existenz der Arbeiter halbwegs gesichert sein. Kommt letztlich hinzu, dass regierende Parteien ihre jeweilige Klientel nicht permanent vor den Kopf stoßen können, wenn die bei den nächsten Wahlen nicht zu anderen Parteien hinüberwechseln soll oder gleich zu Hause bleibt. Aus einem solchen Interessengeflecht erwächst eine Regierungspraxis, die alle enttäuscht.
Die große Presse machte sich am Wochenende eher schlecht gelaunt Gedanken über den Zustand der Regierung nach dem Koalitionsausschuss. Karin Christmann vom Tagesspiegel sieht »viel Geld für Klientelpolitik und Nachrangiges« verschleudert, bemängelt »eine Inszenierung von Tatkraft bei überschaubarem tatsächlichen Inhalt« und endet mit der pauschalen Feststellung: »Schlecht für das Land.«
Gut für »dieses unser Land« (Helmut Kohl) findet auch Henrike Roßbach von der Süddeutschen Zeitung nicht, was die amtierende Regierung da so anstellt: Von »Aufbruchstimmung« keine Spur, statt dessen einfach nur mehr Schulden »für Staatsausgaben, die nichts als Konsum sind«, und Vereinbarungen, die sich durch »Kleinteiligkeit und Komplexität« auszeichnen. Wo bleibt da der große Wurf des radikalen Vereinfachers? In einer Münchener Redaktion wird man ja wohl noch träumen dürfen: »Und natürlich hat die Sehnsucht nach einem Ruck, einer Politik im Agenda-Format immer auch ein utopisches Element.«
Für Utopien neoliberaler Fasson ist Heike Göbel, ein Gezücht aus einem Labor der Chicago-Boys, zuständig. In der FAZ verlangt sie, »dem angekündigten ›Herbst der Reformen‹ endlich Taten folgen zu lassen«, was nach ihrer Diktion in erster Linie Sozialabbau bedeutet. Unvermögen der Regierenden ist für sie angezeigt, wenn die »weitere Unsummen für höhere gesetzliche Renten« ausgeben, statt »Unternehmenssteuern und Sozialabgaben schnell« zu senken.
Der koalitionsinterne Krach um die Rentenpläne ist derweil bei der FAS auf der gesamten Titelseite der Gegenstand für ein durchgespieltes Szenario, wie die Unionsparteien die Mesalliance mit der SPD beenden könnten, um, gestützt auf die Stimmen der AfD, alleine weiterzuregieren. Wäre das der Utopieruck, den man in München ersehnt? (brat)
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