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Aus: Ausgabe vom 13.11.2025, Seite 8 / Kapital & Arbeit
Erwerbstätigkeit und Ausbeutung

Ackern unter Wert

Europäischer Gerichtshof erklärt Mindestlohnrichtlinie teilweise für nichtig. Kapitalseite findet Urteil dennoch »übergriffig«
Von Sebastian Edinger
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Hat kaum ein Prolet von innen gesehen: Das höchste EU-Gericht in Luxemburg

Für das Proletariat in der Europäischen Union (EU) wäre eine bindende Mindestlohnrichtlinie ein Segen gewesen. Am Dienstag hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) allerdings geurteilt, dass die EU-Kommission nicht berechtigt ist, den Mitgliedstaaten beim Setzen der Lohnuntergrenzen Standards vorzuschreiben. Auch das Untersagen von automatisierten Absenkungen indexierter Mindestlöhne überschreite ihre Kompetenzen. Teile des 2022 beschlossenen Gesetzes wurden damit für nichtig erklärt. Dänemarks Arbeitsminister Kaare Dybvad Bek sprach von einem »halben Sieg«. Seine Regierung hatte mit Unterstützung Schwedens geklagt, um die Richtlinie gänzlich zu kippen.

Ohnehin sind die nun außer Kraft gesetzten Vorgaben zur Festlegung der Mindestlohnhöhe unpräzise. Weder geben sie konkrete Beträge vor, noch eine verbindliche Berechnungsgrundlage. In Artikel 5 der Richtlinie heißt es lediglich, dass die Kaufkraft mit Blick auf die Lebenshaltungskosten, das allgemeine Lohnniveau, die Lohnentwicklung sowie die Entwicklung des Produktivitätsniveaus berücksichtigt werden sollen. Das greife »unmittelbar in die Festsetzung des Arbeitsentgelts« ein und breche somit Unionsrecht, befand der EuGH dennoch.

Gleiches gilt für die ebenfalls in Artikel 5 festgeschriebenen Vorgaben für Mindestlöhne. Deren Höhe soll anhand eines Index automatisiert angepasst werden. Das betrifft etwa Frankreich, Belgien und Luxemburg, wo die Lohnuntergrenze abhängig von Faktoren wie der Lohn- oder der Verbraucherpreisentwicklung variiert. Grundsätzlich sind solche Indexanpassungen laut EuGH zwar zulässig, nicht jedoch die bisher in der Richtlinie enthaltene Einschränkung, dass sie »nicht zu einer Senkung des gesetzlichen Mindestlohns« führen dürfen. Entsprechend wurde auch dieser Absatz für nichtig erklärt.

Allerdings stellte der EuGH klar, dass die Richtlinie insgesamt rechtskonform ist und in Kraft bleibt: Es falle in den Zuständigkeitsbereich der EU, »die Tätigkeit der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Arbeitsbedingungen zu unterstützen und zu ergänzen«. Ausdrücklich bestätigten die Richter auch die Vorgabe, dass Mitgliedstaaten Aktionspläne zur Steigerung der Tarifquote vorlegen müssen, wenn diese unter 80 Prozent liegt. Diese Regelung stelle keinen Eingriff in die Koalitionsfreiheit dar.

Der EuGH begründete seine Ablehnung des dänischen Antrags, auch diese Vorgabe zu kippen, mit der Unverbindlichkeit der Bestimmung. Sie verpflichte die Mitgliedstaaten nicht, »zu regeln, dass mehr Arbeitnehmer einer Gewerkschaft beitreten müssen«. Beispiel BRD: Hierzulande liegt die Tarifquote bei lediglich 49 Prozent und damit sehr deutlich unterhalb des EU-Referenzwerts. Bislang hat die Bundesregierung keinen Aktionsplan vorgelegt. Laut Bundesministerium für Arbeit und Soziales soll dies bis zum Jahresende nachgeholt werden. Für die Umsetzung dürfte dann freilich eine großzügige Frist gelten: der Sanktnimmerleinstag etwa.

Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) sprach angesichts der grundsätzlichen Bestätigung der Richtlinie am Dienstag von einem »guten Tag für Millionen Beschäftigte in Deutschland und der Europäischen Union«. Vorstandmitglied Stefan Körzell betonte, die Bundesregierung sei nun aufgefordert, »schnellstmöglich einen wirkungsvollen Aktionsplan für mehr Tarifverträge auf den Weg zu bringen«. Bedauerlich sei indes, »dass der EuGH einheitliche europäische Kriterien für angemessene Mindestlöhne gekippt hat«.

Die Kapitalseite bemängelte hingegen, dass die Richtlinie nicht, wie von Dänemark und Schweden gefordert, komplett eingestampft wurde. Das EuGH-Urteil sei »übergriffig«, beschwerte sich etwa Steffen Kampeter (CDU), der 2016 direkt vom Bundestag in die Hauptgeschäftsführung der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände gewechselt ist. Auch er appellierte an den Staat: Die Bundesregierung müsse jetzt »um so entschiedener handeln« und »weiteren EU-Eingriffen in die Sozialpolitik eine klare Absage erteilen«. Das hören seine Parteikollegen sicherlich gern.

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