»Es kann keinen Frieden ohne Gerechtigkeit geben«
Interview: Jakob Reimann
In Kooperation mit der Hind Rajab Foundation (HRF) haben Sie beim Generalbundesanwalt Strafanzeige und Haftbefehlantragsersuchen gegen zwei israelische Soldaten – einen davon mit deutsch-israelischer doppelter Staatsbürgerschaft – eingereicht. Was werfen Sie den beiden vor?
Die beiden Soldaten stehen im dringenden Verdacht, Kriegsverbrechen nach dem Völkerstrafgesetzbuch (VStGB) begangen zu haben. Ihnen werden unterschiedliche Verbrechen vorgeworfen. Shimon Avi Zuckerman steht im Verdacht, sich an Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen beteiligt zu haben. Als Teil eines Rachefeldzuges beteiligte er sich daran, ein ganzes Dorf (den Ort Khuza’a im Gazastreifen, jW) in Schutt und Asche zu legen. Elkana Federman wird des Aushungerns als Kriegswaffe beschuldigt. Er ist Teil der rechtsextremen Gruppierung »Tsav 9« und wird der Misshandlung Gefangener sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit beschuldigt. Wir haben auch gegen den ehemaligen israelischen Ministerpräsidenten Ehud Olmert wegen des Verdachts der Begehung von Völkerrechtsverbrechen im Zusammenhang mit der militärischen Operation »Gegossenes Blei« in Gaza um die Jahreswende 2008/09 Strafanzeige erstattet. Damals wurden zivile Ziele wie Wohngebiete, Versorgungsstrukturen sowie weitere Objekte, die nach humanitärem Völkerrecht nichtmilitärische Ziele darstellen, heftig bombardiert. Olmert war am 6. November bei einer Veranstaltung der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin zugegen. Derartige Straftaten verjähren nicht.
Und Federman trat Ende Oktober auf der staatlich geförderten Nova-Ausstellung in Berlin auf.
Das steht sinnbildlich für die deutsche Komplizenschaft an israelischen Kriegsverbrechen und den Völkermord an den Palästinensern. Es ist auch ein Zeugnis der seit Jahrzehnten andauernden Immunität, die Israelis für Verbrechen an den Palästinensern genießen. Das ist nicht hinnehmbar, und genau deswegen gibt es Organisationen wie die Hind Rajab Foundation, die eine Antwort auf diese Straflosigkeit bieten. Wenn Straftaten nicht aufgearbeitet und gesühnt werden, führt dies zu Wiederholungen und einer Endlosspirale der Gewalt.
Sie haben auch die Gruppe »Tsav 9« angesprochen. Was stellt diese dar?
»Tsav 9« (Hebräisch für »Ordnung 9«, jW) ist eine rechtsextreme Organisation. Sie wurde von Familienangehörigen von Geiseln gegründet, die am 7. Oktober 2023 von Hamas-Kämpfern in den Gazastreifen entführt wurden, sowie von deren Unterstützern mit mutmaßlichen Verbindungen zu Reservisten und jüdischen Siedlern im Westjordanland. Die Mitgliederzahl wird auf über 400 geschätzt. Die Gruppe setzt sich zum Ziel, die Lieferung von humanitärer Hilfe in den Gazastreifen zu verhindern. Am 14. Juni 2024 setzte das US-Außenministerium die Gruppe offiziell auf seine Sanktionsliste und stufte sie als »gewalttätige extremistische« Gruppe ein. »Tsav 9« ist der Ansicht, dass die israelische Regierung nicht genug unternimmt, um die Palästinenser auszuhungern, und sieht sich daher in der Pflicht, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen.
Warum ist Deutschland bei dieser Art von Klagen eigentlich zuständig?
Aufgrund des Weltrechtsprinzips. Die Grundidee ist, dass Verbrechen begangen wurden, die so gravierend sind, dass universelle Werte verletzt werden und die Welt als Gemeinschaft betroffen ist. Jedes Land darf dann tätig werden, auch wenn die Straftaten weder auf dem eigenen Hoheitsgebiet noch durch oder gegen einen eigenen Staatsangehörigen begangen wurden. In Deutschland wurden auf dieser Grundlage zahlreiche Verfahren geführt, zum ersten Mal gegen den Serben Duško Tadić 1994 wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit im ehemaligen Jugoslawien. Im Jahr 2022 wurden auf dieser Grundlage syrische Staatsbürger wegen Folter und Mord in Syrien durch das Koblenzer Oberlandesgericht verurteilt. Die Rechtslage ist klar.
Wie läuft so ein Verfahren ab? Was sind die weiteren Schritte?
Im Grunde handelt es sich lediglich um eine Strafanzeige. Die Strafverfolgung als solche ist Aufgabe des Staates. Die Erforschung der materiellen Wahrheit erfolgt von Amts wegen durch die Staatsanwaltschaft, die gemäß Strafprozessordnung zur Objektivität verpflichtet ist. Durch die Strafanzeige und die Vorlegung des Beweismaterials haben die Strafverfolgungsbehörden Kenntnis vom Verdacht einer Straftat und müssen Ermittlungen anstellen, sofern zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen. Sollte dies nicht geschehen, bleiben weitere Wege offen, wie etwa eine Dienstaufsichtsbeschwerde oder der Weg über die zivile Gerichtsbarkeit. Wenn Betroffene Teil der Strafanzeige sind, kommt auch ein Klageerzwingungsverfahren in Betracht.
Auch die deutsche Justiz ist bekanntlich nicht gegen den Einfluss der »Staatsräson« immun. Welche Aussichten versprechen Sie und die HRF sich?
Deutschland ist ein Rechtsstaat – so steht es in unserem Grundgesetz. Die vollziehende Gewalt, die Rechtsprechung sowie die Strafverfolgungsbehörden sind an Gesetz und Recht gebunden. Staatsanwaltschaft und Generalbundesanwalt sind verpflichtet, einzuschreiten und zu ermitteln. Sie haben hier also keine Wahl. Sollten sich die Strafverfolgungsbehörden aus politischen Gründen weigern, die notwendigen Schritte zu unternehmen, so wäre auch dies ein verwertbares Resultat: Deutschland ist vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag wegen der Beihilfe zum Völkermord angeklagt. Dies umfasst einerseits aktive Beihilfehandlungen wie die in großem Umfang geleisteten Waffenlieferungen. Hierzu vertritt meine Kollegin Beate Bahnweg morgen in Berlin übrigens einen palästinensischen Kläger. Doch auch politische, moralische und wirtschaftliche Unterstützung spielen bei Beihilfe mit hinein. Das pflichtwidrige Unterlassen der Strafverfolgung ist ein Indiz der Mittäterschaft Deutschlands, das in dem Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof eine Rolle spielen kann, da dies zeigen würde, dass in Deutschland Rechtsmittel in diesem Bereich wirkungslos sind.
Was motiviert Sie persönlich, Verfahren gegen diese mutmaßlichen Kriegsverbrecher anzustrengen?
Mich motiviert vor allem meine eigene Geschichte als Deutsche. Das Aufwachsen mit dem Wissen über die Verbrechen der Nazis, die Unrecht zu Recht machten, bewegte mich zum Jurastudium. Die Nürnberger Prozesse und Persönlichkeiten wie Fritz Bauer, der trotz starken Widerstands aus der deutschen Justiz zur Ergreifung Adolf Eichmanns in Argentinien beigetragen hat, haben mir gezeigt: Es kann keinen Frieden ohne Gerechtigkeit geben. In den letzten zwei Jahren haben wir tausendfach schwerste Verbrechen in Echtzeit auf unseren Handys gesehen, zu einem großen Teil von den Tätern selbst verbreitet. Diese Verbrechen müssen geahndet werden, wenn wir in einer Zukunft leben wollen, in der Frieden überhaupt denkbar sein soll. Für mich ist das auch eine Frage der Berufsethik. Als Juristin glaube ich fest an Recht und Gesetz, und ich bestehe auf der Anwendung dieses Rechts – unabhängig davon, wer die Verbrechen begeht. Ich bin überzeugt, dass Selbstjustiz und Straffreiheit zu einer Endlosspirale der Gewalt führen.
Und welche Rolle spielt die Hind Rajab Foundation dabei?
Die HRF ist aus der Lethargie der »internationalen Staatengemeinschaft« entstanden. Es ist offensichtlich, dass Völkerrecht politisiert wird: Es wird nur dann angewendet, wenn es in die politische Agenda passt. Der Gazastreifen hat für alle Welt sichtbar gemacht, dass universelle Menschenrechte eben nicht universell gelten, sondern nur dort, wo sie politisch opportun sind. Das ist inakzeptabel. Wir haben uns durch internationale Verträge und unser Grundgesetz verpflichtet, jedes Leben zu schützen, Rassismus zu bekämpfen und das Selbstbestimmungsrecht der Völker anzuerkennen. Wenn Regierungen diesen Verpflichtungen nicht nachkommen, dann wird die Zivilgesellschaft sie dazu zwingen – durch rechtliche Schritte, anhaltenden Protest und Wahlen. Als Rechtsanwältin erhalte ich selbst Drohungen mit sexueller Gewalt und Gewalt gegen mich und meine Familie – von israelischen Staatsbürgern, allein weil ich meinem Beruf nachgehe. Auch das zeigt, wie sich Jahrzehnte der Straflosigkeit auf das Rechtsverständnis einer Gesellschaft auswirken.
Melanie Schweizer ist Rechtsanwältin und hat in Kooperation mit der Hind Rajab Foundation beim Generalbundesanwalt Strafanzeige gegen zwei israelische Soldaten und den ehemaligen Ministerpräsidenten Ehud Olmert eingereicht.
Hintergrund
Die Hind Rajab Founation (HRF) hat sich zum Ziel gesetzt, der Straflosigkeit israelischer Soldaten, Militärs und Politiker mit juristischen Mitteln entgegenzutreten. Die in Brüssel ansässige Organisation wurde 2024 gegründet und trägt den Namen der fünfjährigen Hind Rajab, die im Januar 2024 im nördlichen Gazastreifen gemeinsam mit sechs Familienmitgliedern getötet wurde. Bei der Flucht aus Gaza-Stadt feuerte ein israelischer Panzer 335 Schüsse auf den Minivan der Familie ab. In Zusammenarbeit mit internationalen Juristinnen, Menschenrechtsorganisationen und Journalistinnen sammelt und sichert die HRF Beweise für mutmaßliche Kriegsverbrechen israelischer Soldaten in Gaza. Sie hat beim Internationalen Strafgerichtshof sowie bei nationalen Gerichten in zahlreichen Ländern Klagen gegen mehr als tausend Personen eingereicht, darunter in Argentinien, Chile, Deutschland, Italien, Schweden, Sri Lanka, Thailand und Zypern. Im Mai 2025 gab die HRF bekannt, mit Oberstleutnant Beni Aharon den für Hind Rajabs Tod verantwortlichen Kommandeur identifiziert zu haben, und reichte beim IStGH Klage gegen ihn ein.
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