Gegründet 1947 Donnerstag, 6. November 2025, Nr. 258
Die junge Welt wird von 3054 GenossInnen herausgegeben
Aus: Ausgabe vom 06.11.2025, Seite 11 / Feuilleton
Kino

Über Dekonspiration

Furcht und Schrecken im Brasilien des Jahres 1977: Kleber Mendonça Filhos preisgekrönter Spielfilm »The Secret Agent«
Von Kai Köhler
11.jpg
Wagner Moura als Marcelo Alves

Die Eingangsszene setzt den Ton. Irgendwo im brasilianischen Nordosten, an einer staubigen Landstraße, gibt es eine Tankstelle, und vor der Tankstelle – notdürftig mit einer Pappe abgedeckt – liegt ein Toter. Was soll er denn tun? fragt der Tankwart den irritierten Kunden Marcelo (Wagner Moura). Man musste leider den Mann erschießen, vor ein paar Tagen bereits. Die Leiche stinkt zwar schon, aber wenn er weggeht, ist er seinen Job los, gerade eben, dass er die hungrigen Hunde vertreiben kann.

Endlich trifft die lang erwartete Polizei ein. Doch die beiden Offiziere haben nichts Besseres zu tun, als Marcelos Autos zu untersuchen und ihm dann eine Spende für den Polizeikarnevalfonds nahezulegen. Marcelo, der kein Geld mehr hat, findet es ratsam, wenigstens sein Päckchen Zigaretten wegzugeben, zumal er Blutflecke auf der Uniform eines der Polizisten sieht.

Die Ereignisse sind im Jahr 1977 angesiedelt, zur Zeit der brasilianischen Militärdiktatur. Gleichwohl spielen ideologische Gegensätze nur eine sehr untergeordnete Rolle. Marcelo ist kein Oppositioneller. Nur kam er als Wissenschaftler zu seinem Pech einem der Mächtigen ins Gehege. Nun will er in der Stadt Recife untertauchen, jedenfalls so lange, bis er die Pässe hat, um mit seinem kleinen Sohn auszureisen. Bald aber hat er nicht nur unfreiwillig die Bekanntschaft des bedrohlichen örtlichen Polizeichefs gemacht, sondern ist auch das Ziel von Auftragsmördern.

Nur wenige Tage umfasst die Handlung, doch vermittelt der mit 158 Minuten ziemlich lang geratene Film einen Eindruck großer Breite. Regisseur Kleber Mendonça Filho erzählt ruhig, auch die Nebenfiguren werden greifbar. Zu ihnen gehört Dona Sebastiana (Tânia Maria), die Unterkünfte für Leute organisiert, die sich aus irgendwelchen Gründen verbergen müssen. Auf der anderen Seite ist der jovial-sadistische Polizeichef (Robério Diógenes) zu nennen, den man bei seinem ersten Auftritt, solange man von seiner Funktion noch nichts weiß, eher für einen Gangsterboss hält. Er lässt sich seinem Rang entsprechend »Coronel« anreden und ist dem Militär ebenso eng verbunden wie sein Kumpan, der gänzlich brutalisierte Chef der Killertruppe Augusto (Roney Villela).

Mendonça Filho fängt in der ersten Filmhälfte die Atmosphäre der Bedrohung überzeugend ein. Der Karneval erscheint als blutiges Fest (eine Lokalzeitung vermeldet 91 Tote), die korrumpierte Polizei ist mehr Gefahr als Hilfe. Überhaupt ist die Gesellschaft von Gewalt fasziniert. In den Kinos läuft gerade Spielbergs »Der weiße Hai«, und Marcelos Sohn zeichnet nichts lieber als Haigebisse. Ein abgebissenes Bein, aus dem Magen eines toten Hais herausgezogen, wird zum schwarzhumorigen Leitmotiv und entwickelt in einer surrealen Szene sogar ein Eigenleben. Handelt es sich um das Bein eines Oppositionellen, dessen Leiche im Meer entsorgt wurde? Oder eines – wie im Fall von Marcelo – aus sonstigen Gründen missliebig Gewordenen? Immer wieder rückt Mendonça Filho ins Bild, wie in allen Amtsstuben das Bild des Diktators Ernesto Geisel würdig-ernst auf das Geschehen blickt. Die Gewalt geht längst über gezielte politische Unterdrückung hinaus und durchwuchert die ganze Gesellschaft.

Die Gewalt ist auch beängstigend ungreifbar, solange man nicht weiß, weshalb Marcelo in Gefahr ist und wer warum auf welcher Seite steht. Sobald die Erklärung nachgetragen wird, schwächt sich der Eindruck ab. Wer den Grund seiner Angst kennt, ist darum nicht angstfrei und schon gar nicht gerettet, besitzt aber einen Haltepunkt. Darum ist die letzte Stunde des Films, obwohl sie überraschende Wendungen und ein klug unspektakuläres Ende aufweist, die erholsamere.

Dazu trägt bei, dass zuletzt die Gegenwartsebene an Gewicht gewinnt: Junge Forscherinnen transkribieren auf Audiokassetten aufgenommene Interviews aus der Zeit der Militärdiktatur und werten sie aus. Seltsam scheint, dass damals die Verfolgten ihre Gespräche aufgenommen haben sollen; konspirative Arbeit sieht womöglich anders aus. Politisch ist es freilich ermutigend und wohl auch unverzichtbar, sogar unter schlimmen Bedingungen doch noch irgend jemandem trauen zu können. Wenn als retardierendes Moment kurz vor Ende die Mieter der Dona Sebastiana sich dekonspirieren und ihre wirklichen Namen nennen, bedeutet dies Erleichterung und neue Kraft.

Sind die Gefahren vorüber? Die Forscherinnen, die sich mit der Vergangenheit beschäftigen, wirken zunächst locker, so wie Bewohnerinnen einer besseren Welt. Doch leben sie in einem Brasilien, in dem 2022 eine Wiederwahl Jair Bolsonaros nur knapp vermieden wurde. Zuletzt sollen sie ihr Material abgeben, unter dem Vorwand, die Arbeit daran verletze die Privatsphäre der Sprecher. Die Konflikte der Vergangenheit sind längst noch nicht ausgekämpft.

»The Secret Agent«, Regie: Kleber Mendonça Filho, Brasilien/Frankreich u. a. 2025, 158 Min., Kinostart: heute

Tageszeitung junge Welt am Kiosk

Die besondere Berichterstattung der Tageszeitung junge Welt ist immer wieder interessant und von hohem Nutzwert für ihre Leserinnen und Leser. Eine gesicherte Verbreitung wollen wir so gut es geht gewährleisten: Digital, aber auch gedruckt. Deswegen liegt in vielen tausend Einzelhandelsgeschäften die Zeitung aus. Überzeugen Sie sich einmal von der Qualität der Printausgabe. 

links & bündig gegen rechte Bünde

Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.

Regio:

Mehr aus: Feuilleton

Die Veranstaltung und Ausstellungseröffnung zu 50 Jahre Besatzung der Westsahara findet MORGEN (Donnerstag, 6.11.) statt. Wir bitten den Fehler in der heutigen Printausgabe zu entschuldigen.