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Aus: Ausgabe vom 04.11.2025, Seite 12 / Thema
Musikgeschichte

Nicht nur Rowdytum

Die Mehrheit wollte nur Rock ’n’ Roll, Beat- und Rockmusik. Über Jugendbewegungen in der DDR am Beispiel Leipzig
Von Werner Fritz Winkler
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Konzert der Gitarreros in Halle-Neustadt, 1986

In der kleinen thüringischen Gemeinde Ponitz, nahe der damaligen Kreisstadt Schmölln, wurde am 15. Mai 1958 von sieben jungen Männern ein ca. ein Meter mal ein Meter großes Plakat mit der Aufschrift »Elvis Presley – das Idol! Wir wollen nur den Rock ’n’ Roll« durch den Ort getragen. Dieses Ereignis wurde von den DDR-Sicherheitsorganen ausführlich dokumentiert. Drei der »Übeltäter« wurden der Öffentlichkeit als Vorbestrafte präsentiert. In Polizeiberichten und Einschätzungen über den »politisch-ideologischen Zustand« der DDR-Jugend jener Zeit stößt man unweigerlich auf zwei Erscheinungen: die Begeisterung vieler Jugendlicher für die Rock-’n’-Roll-Musik und die Verehrung der englischsprachigen Beat- und Rockmusik. Beides wurde vielfach mit purem Rowdytum gleichgesetzt. Zum einem gab es bei großen Teilen der Jugend den Wunsch, sich diese Musik zu erschließen. Gleichzeitig gab es von Beginn an auch eine Vielzahl von kriminellen Begleiterscheinungen. Beide Entwicklungen wurden als hochbrisante politische Angelegenheit eingestuft und mit allen Mitteln der Staatsmacht bekämpft. Es gab keine Differenzierung in der Bewertung der beiden Erscheinungen. Einblicke in Akten der Bezirksbehörde Leipzig der Deutschen Volkspolizei (BdVP) zeigen die Entwicklungskurve und den wachsenden Dissens zwischen Teilen der Jugend und der Staatsmacht. Große Teile der DDR-Jugend gingen dem Projekt »Sozialismus« auch deshalb von der Stange.

Erste Tumulte

Laut den Akten der BdVP Leipzig gab es 1955/56 erste Anzeichen von organisiertem Rowdytum im Bezirk. Es ist zu lesen, dass sich auf dem Vorplatz des Leipziger Hauptbahnhofs und dessen Osthalle sowie vor einer öffentlichen Bedürfnisanstalt in der Richard-Wagner-Straße in den Abendstunden Gruppen von Jugendlichen versammelten. Zu Ereignissen, die den Tatbestand des Rowdytums erfüllt hätten, kam es laut Polizeiakten (noch) nicht. 1957 wurden während der Herbst-Kleinmesse, einem Volksfest, erstmals zwölf Jugendliche festgenommen, gegen sie wurde wegen Landfriedensbruch ermittelt. Ausgangspunkt war eine sogenannte provozierende Handlung von zwei Jugendlichen und deren darauf gründende polizeiliche Festnahme. Der banale Grund: Sie tanzten zu der von einem Karussellbesitzer abgespielten Rock-’n’-Roll-Musik. Nach dem Abführen der Jugendlichen zur VP-Wache versammelten sich auf dem Gelände der Kleinmesse rund 500 Jugendliche und forderten lautstark deren Freilassung. Es flogen Steine und es gab Versuche, die Wache zu stürmen.

Wenig später war der Weihnachtsmarkt auf dem Karl-Marx-Platz (heute Augustusplatz) Anziehungspunkt für mehrere Gruppen von Jugendlichen. Besonders stark waren laut VP die Jugendlichen vom »Adler« (gemeint ist der Leipziger Südwesten) vertreten. Es kam zu Zusammenstößen zwischen diesen Gruppen und Angehörigen der Transportpolizei, einer VP-Unterabteilung mit Zuständigkeit für die Sicherheit auf Bahnhöfen. Manche wurden auf die VP-Wache Nikolaistraße abgeführt. Daraufhin versammelte sich eine größere Anzahl von Jugendlichen vor der Wache. Es entwickelten sich tumultartige Szenen, auf die mit dem Einsatz des »Schnellkommandos« der VP reagiert wurde. Ermittlungsverfahren wurden jedoch nicht eingeleitet.

An der Berufsschule für Bau- und Holzberufe im Leipziger Osten sowie in einem Jugendwohnheim im Stadtzentrum entstanden ebenfalls Jugendgruppen. Deren vorrangiges Ziel war allerdings nicht die Rock-’n’-Roll-Musik. Wie die Polizeiakten belegen, begingen sie in den Abendstunden Straftaten, unter anderem in der Ernst-Thälmann-Straße (heute Eisenbahnstraße) und im Landkreis Leipzig. Sie verfolgten Mädchen und Frauen und belästigten sie sexuell (im damaligen Polizeideutsch »unsittlich«). In zwei Fällen setzten sie zur Betäubung ihrer Opfer Äther ein. Des Weiteren entrissen sie Frauen und Mädchen begehrte bunte Halstücher und verkauften diese für Geld oder tauschten sie gegen Zigaretten um. Gegen zehn der Täter wurden damals Ermittlungsverfahren eingeleitet und Freiheitsstrafen von bis zu zwei Jahren ausgesprochen.

Ein Jahr später berichtete die VP im Zusammenhang mit der »Capitol-Bande«, auch »Broadway-Meute« genannt, erstmals von einer Gruppe mit bandenmäßigem Charakter und mit einem Bandenchef. Ihr gehörten auch weibliche Jugendliche an. Die Mitglieder gaben sich Spitznamen. Zum Pressefest der Leipziger Volkszeitung (LVZ) im Juni wurden laut VP-Akten mit »wüstem Rock’n’Roll-Tanzen« ein »Aufruhr inszeniert« sowie »Gäste und Volkspolizei provoziert«. Die LVZ nahm eine Schlägerei dieser Bande mit Sportstudenten zum Anlass für ihren »Vogelscheuchen-Artikel« mit Illustrationen von Fritz Berger, auf welchen die Jugendlichen entsprechend verwildert dargestellt wurden.

Die derart öffentlich Kritisierten organisierten im Leipziger Stadtzentrum daraufhin einen Demonstrationszug. Es wurden Ermittlungsverfahren wegen Landfriedensbruch und Staatsverleumdung eingeleitet. Erstmals ging die VP in der Petersstraße gemeinsam mit »fortschrittlichen Bürgern« zur »Herstellung der Ruhe und Ordnung« gegen die Jugendlichen vor. Die aus dem Stadtzentrum vertriebenen Jugendlichen organisierten sich dann in der Ernst-Thälmann-Straße neu. Die dortigen Ansammlungen erreichten allabendlich einen Umfang von 500 bis 600 Jugendlichen, darunter erstmals auch unter 16jährige. Es wurden bis zu 60 Ermittlungsverfahren eingeleitet. Die Härte der damals üblichen Strafmaße zeigt das Beispiel eines 17jährigen, der Frauen belästigt und ihnen die Handtaschen geraubt sowie sich »homosexuell männlichen Personen« angenähert, diese niedergeschlagen und bestohlen hatte. Er wurde zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt.

Organisierte Jugend

1959 berichtete die VP über eine Gruppierung von etwa 70 Jugendlichen im Alter zwischen 17 und 20 Jahren, deren Treffpunkt das Rathaus in Leipzig-Wahren war. Die Gruppe wurde von zwei »Rückkehrern« angeführt (so wurden Personen, die nach einem Wohnortwechsel über die innerdeutsche Grenze in die DDR zurückgekehrt waren, klassifiziert. Die Sicherheitsorgane fertigten umfangreiche Statistiken zu dieser Zielgruppe an, weil einige von ihnen in der BRD straffällig geworden und zu Freiheitsstrafen verurteilt worden waren. Es wurde spekuliert, dass diese Personen mit dem Auftrag, strafbare Handlungen zu begehen, in die DDR »zurückgeschickt« wurden). Am 15. April fand ein sogenannter Aufklärungsmarsch von Leipzig-Wahren bis zur Lützowstraße statt. Im Bericht der Polizei ist zu lesen: »Bei dieser Provokation wurden auch antidemokratische Losungen gerufen, Hetze gegen unsere Gesellschaftsordnung (den Sozialismus) geführt und Elvis Presley verherrlicht.« Die Jugendlichen skandierten unter anderem: »Wir wollen keinen Lipsi (DDR-Modetanz) und keinen Alo Koll (Orchesterleiter und Komponist) wir wollen Elvis Presley mit seinem Rock ’n’ Roll« und »Hier ist der Freiheitssender 904, wir bringen 30 Minuten Jazz für die verwahrloste Jugend der Ostzone«.

Letzteres war eine ironische Anspielung auf den DFS 904, ein Geheimsender der DDR mit propagandistischem Auftrag, der als Reaktion auf das KPD-Verbot in der BRD vom 17. August 1956 bis zum 30. September 1971 existierte und von der DDR in Richtung BRD sendete. Die Rundfunkanstalten der BRD spielten in dieser Zeit nur wenig der vor allem bei jungen Menschen beliebten Musik. Diese Lücke nutzte der DFS 904 zum Teil erfolgreich aus. Er gewann dadurch auch viele junge Hörer in der DDR. Das half den Teilnehmern des »Aufklärungsmarsches« damals nicht. 22 der »Rowdys« wurden zu Strafen zwischen sechs Monaten und viereinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt. Danach schätzte die VP die »Bande« als »liquidiert« ein.

In den Berichten ist auch von handgreiflichen Auseinandersetzungen zwischen den einzelnen Gruppen sowie späteren Absprachen zu »gemeinsamen Aktionen« die Rede. So zum Beispiel die »Lindenfels-Meute« (Treffpunkt Kino Lindenfels und FDJ-Clubhaus »Junge Garde«) und die »Broadway-Meute«, die anlässlich der Feierlichkeiten zum 10. Jahrestag der DDR im Clara-Zetkin-Park gemeinsam als »Clubhaus-Meute« in Erscheinung traten. Laut Volkspolizei randalierten sie, belästigten Bürger und verherrlichten Elvis Presley. Aber auch selbstgefertigte Schlagringe und Todschläger sollen laut den Akten benutzt worden sein. Im Dezember kam es in Markleeberg zur Gründung der »Bahnhofs-Meute« nachdem der Jugendklubraum auf dem Gelände der Internationalen Garten- und Landwirtschaftsausstellung Agra wegen fehlender Aktivität der FDJ geschlossen und künftig durch die Ausstellung selbst genutzt werden sollte.

Die Entwicklungen unter den Jugendlichen wurden weitgehend einseitig als gegen die junge DDR gerichtet bewertet. Als Ursachen für das »Fehlverhalten« wurden verantwortlich gemacht: Westverbindungen/Westeinflüsse (Besuche, Verwandte, Radiohören und Fernsehen, Lesen von sogenannter Schundliteratur), Gaststätten mit negativem Ruf (zum Beispiel das »Riebeckbräu« in der Hainstraße und die »Pleißenburg« in der Schulstraße), unzureichender Einfluss der Elternhäuser und Massenorganisationen, vor allem der FDJ und des FDGB, sowie ungenügendes Entgegenwirken der Betriebe bei Arbeitsbummelei.

»Die richtige Orientierung«

Ab Mitte 1959 wurde unter Führung der Volkspolizei ein umfangreiches Maßnahmepaket zur »Bekämpfung des Rowdytums« entwickelt. Dabei ging es vor allem um ein koordiniertes Vorgehen aller Institutionen des Staates und eine deutliche Verbesserung der Jugendarbeit. Hier sollte insbesondere die FDJ aktiver werden. Die Presse und die Kultureinrichtungen wurden aufgefordert, durch geeignete Beiträge den Jugendlichen »die richtige Orientierung« zu geben. Von einer gewissen Hilflosigkeit im Umgang mit dieser, den Vorstellungen vom idealen sozialistischen Menschen entgegengesetzten Entwicklung zeugt auch der Vorschlag eines Mitarbeiters aus der Leipziger SED-Bezirksleitung. Er forderte vom Friseurhandwerk, dass in den Läden Schilder mit der Aufschrift »In diesem Geschäft werden keine übertriebenen Frisuren für Jugendliche hergestellt« aufgehängt werden.

Insgesamt wurden bis zum 16. Dezember 1959 im Einzugsbereich der BdVP Leipzig 141 Jugendliche im Rahmen der »Bekämpfung des Rowdytums« festgestellt, wovon Ende Januar 1960 bereits 100 abgeurteilt waren. Von den in der Jugendschutzkartei der Stadt Leipzig erfassten Jugendlichen waren interessanterweise 220 in der FDJ. Ab Mai 1960 wurde der Clara-Zetkin-Park zum Brennpunkt. Täglich beherrschten bis zu 500 Jugendliche den Tanzplatz. Im August hielt die VP in ihrer Lageeinschätzung fest: »Grundsätzlich bewegen sich auf der Tanzfläche ausschließlich Jugendliche (…), die sich (…) zu jedweder Musik in extremen Verrenkungen im Rock-’n’-Roll-Stil bewegen und auf alle älteren Parkbesucher belästigend und abstoßend wirken.« Am 30. Juli wollte ein bekanntes Tanzpaar »gepflegte Gesellschaftstänze vom Walzer bis zum Lipsi« vorführen und wurde dafür ausgepfiffen und ausgelacht. Auch bei den abendlichen Sommerfilmveranstaltungen kam es besonders bei Filmen aus DDR- und sowjetischer Produktion zu Missfallensbekundungen. Filme aus dem Westen erhielten dagegen offenen Beifall.

»Schluss mit dem Je-Je-Je«

Die weitere Entwicklung zeigt, der Wunsch nach englischsprachiger Musik und westlicher Mode ließ sich nicht unterdrücken oder durch »Eigenproduktionen« wie den Lipsi ersetzen. Auch in den 1960er Jahren setzten sich die Auseinandersetzungen zwischen Rock-’n’-Roll-begeisterten Jugendlichen und der Staatsmacht fort. Neu war, dass jetzt, ausgelöst durch die weltweite Beatles-Euphorie, der Sound der Liverpooler Pilzköpfe dominierte. Im Dezember 1965 beschäftigte sich mit diesem Thema auch das 11. Plenum des ZK der SED, das gravierende negative Auswirkungen auf die weitere Entwicklung von Kunst und Kultur in der DDR hatte. Kein Genre blieb davon verschont.

Paul Fröhlich, der 1. Sekretär der Leipziger Bezirksleitung der SED, sprach in seinem Redebeitrag von den »in widerwärtigster Weise dekadenten Lebensformen in Gestalt der Beatles und anderer«, die zu einer »Überschwemmung unserer Umgangssprache mit Anglizismen« geführt hätten. Wenige Wochen zuvor, am 31. Oktober, hatte es im Zentrum der Messestadt einen großen Protest von mehreren hundert Jugendlichen gegen das Auftrittsverbot von über 50 Beatgruppen gegeben. Unter das Verbot fielen auch die in Leipzig und Umgebung sehr populären »Butlers«. Es erschallten Sprechchöre wie »Es lebe der Beat« und »Wir wollen freien Beat«. Die Proteste wurden mit einem massiven Polizeiaufgebot unter Einsatz von Hundestaffeln und Wasserwerfern beendet. Über 250 Personen wurden festgenommen. Rund 100 von ihnen mussten für bis zu sechs Wochen zum »beaufsichtigten Arbeitseinsatz« in die Tagebaue des Bornaer Braunkohlereviers einrücken.

Auf dem 11. Plenum des ZK stellte Walter Ulbricht seine in die Geschichtsbücher eingegangene Frage: »Ist es wirklich so, dass wir jeden Dreck, der vom Westen kommt, nur kopieren müssen? Ich denke, Genossen, mit der Monotonie des Je-Je-Je und wie das alles heißt, ja, sollte man doch Schluss machen.« Mit der Inkraftsetzung des Strafgesetzbuches der DDR im Jahre 1968 erhielt auch der Straftatbestand des Rowdytums einen offiziellen Paragraphen, den § 215. Im Absatz 1 hieß es dort: »Wer sich an einer Gruppe beteiligt, die aus Missachtung der öffentlichen Ordnung oder der Regeln des sozialistischen Gemeinschaftslebens Gewalttätigkeiten, Drohungen oder grobe Belästigungen gegenüber Personen oder böswillige Beschädigungen von Sachen oder Einrichtungen begeht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren (…) bestraft.« Für Einzeltäter oder bei Tatbeteiligung von untergeordneter Bedeutung waren Freiheitsstrafen bis zu zwei Jahren, Bewährungsstrafen oder Geldstrafen vorgesehen. Für schwere Fälle (Rädelsführer oder bereits Vorbestrafte) sah der Paragraph 216 StGB Freiheitsstrafen bis zu acht Jahren vor.

Die Geschichte von drei Freunden aus dieser Zeit zeigt, dass die Realität vielschichtiger war und nicht nur aus Rowdys und harten Strafen bestand. Zum ersten Mal hörte ich über ihre Freundschaft im Herbst 2017 bei der Laudatio zur Vernissage der Ausstellung »Alles ist Rock ’n’ Roll« des Leipziger Karikaturisten Werner David in der Moritzbastei. Wenig später fand mit Hilfe des Wirts der Espenhainer Dorfkneipe »Aspe«, Peter Petters, der in seiner Jugend selbst Beatles-Fan und DJ gewesen war, ein Wiedersehen von Werner David mit seinem damals noch lebenden Jugendfreund, dem Fotografen Hans-Dieter Kluge, genannt »Ringo«, statt. Der Dritte im Bunde, »Tom Ei«, ein früher Sohn des langjährigen Chefs des Rundfunk-Tanzorchester Leipzig Walter Eichenberg, lebte zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr.

Werner David, der 1951 im Osten der Messestadt geboren wurde, war seit seiner frühesten Jugend ein großer Verehrer von englischsprachiger Rock- und Beatmusik. Er selbst schätzte seine Musiksammlung auf über 2.500 Tonträger. Aus seinem einstigen Spitznamen »Elvis« wurde später sein Künstlername »l.viss«. In sein Leben hat sich, wie er von sich behauptete, vor allem die Musik von Eric Clapton mit der Band Cream und dem 1968er Album »Wheels of Fire« eingebrannt. Er erinnerte bei dem Treffen daran, dass er trotz der Tatsache, dass der von ihm und seinen Freunden vergötterte Musikgeschmack nicht dem von Walter Ulbricht entsprach, die Erweiterte Oberschule besuchen und dort neben dem Abitur auch den Beruf eines Offsetdruckers erlernen konnte.

Bei dem Treffen wurden auch geschichtliche Wahrheiten nicht ausgespart. Zum Beispiel, dass in konservativen Kreisen der damaligen BRD ähnlich abwertend über die Rock- und Beatfans geurteilt wurde. Die Eroberung der Herzen der Jugend durch die Rock- und Beatmusik verlief in Ost und West trotz sehr unterschiedlicher politischer Rahmenbedingungen fast gleich. Im Osten war es die »Monotonie des Je-Je-Je« und im Westen die Angst vor der »Negermusik«, welche die Gegner auf den Plan rief. Man erinnerte sich an historische Filmaufnahmen, die zeigen, dass große Teile der westdeutschen Bevölkerung diese Auffassung teilten. Manche konnten vor der Kamera ihre tiefe Abneigung vor Fremdartigem und anders Aussehenden nur schwer bändigen. Bärte und lange Haare reichten bereits, um bei manchen Angst vor einem moralischen Verfall der Gesellschaft auszulösen.

Auch in Westdeutschland gingen Polizei und Justiz, wie in Heinrich Hannovers Erinnerungen eines unbequemen Rechtsanwaltes »Die Republik vor Gericht 1954 bis 1975« dokumentiert ist, nicht zimperlich mit Andersdenkenden und Protestierenden um. Werner David und seine Freunde hörten im Radio ab 1965 die von der Europawelle Saar auf Mittelwelle ausgestrahlte Kultsendung »Hallo Twen«. Montag bis Freitag 18.05 Uhr war Manfred Sexauer vorbehalten, der dort Beat-, Rock- und Bluestitel aus England und den USA präsentierte. Wenig später kam sonntags die Hitparade von Camillo Felgen auf Radio Luxemburg hinzu. Auf diese Weise war man zwar immer up-to-date, aber der Lieblingstitel oder Interpret konnte nicht auf Wunsch abgerufen werden. Tonbandgeräte und Tonbänder mit entsprechenden Mitschnitten waren deshalb sehr begehrt.

David und sein Freund »Tom Ei« fuhren des Öfteren am Wochenende vom Bayrischen Bahnhof nach Espenhain, um bei ihrem Kumpel »Ringo« die Tonkonserven von Clapton, Hendrix und Co. zu hören. »Ringo« hatte auf dem Dachboden des Elternhauses guten »Westempfang«, und sein Vater hatte ihm ein Tonbandgerät geschenkt. Nach einer langen Nacht mit viel Musik aus einer anderen Welt und sicher auch einigen alkoholischen Getränken ging es für »Elvis« und »Tom Ei« vom Bahnhof der Industriegemeinde wieder zurück in die Messestadt. Vor der Abfahrt des Zuges, so erinnerte sich Werner David, erzeugte »Tom Ei« auf dem Bahnsteig mit seiner Mundharmonikaversion des Songs »Traintime« von Cream jedes Mal eine Gänsehautatmosphäre.

Nach der Schul- und Lehrzeit arbeitete Werner David im Zentrag-Betrieb Interdruck als Offset-, Licht- und Buchdrucker. Später studierte er nebenbei an der Hochschule für Grafik und Buchkunst und entwickelte sich zu einem bekannten Karikaturisten der DDR. Hans-Dieter Klug machte die künstlerische Fotografie zu seinem Beruf. Seine Arbeiten fanden sich in Bildbänden und Ausstellungen wieder.

Späte Liberalisierung

Beginnend mit der Vorbereitung der in Berlin 1973 ausgerichteten X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten, dem Aufschwung des Ostrocks, der Aufwertung von Jugendradio DT 64 und der allmonatlichen Fernsehsendung »rund« setzte in der Honecker-Ära eine Liberalisierung im Umgang mit den Rockfans ein. 1977 erschien bei Amiga die erste LP von Santana. Die Erfolgssongs der Beatles der Jahre 1967 bis 1970 kamen 1980 auf den DDR-Markt. Eine Querschnitt-LP der Jahre 1965 bis 1967 von den Rolling Stones war 1982 für 16,10 Mark als »Bückware« kurzzeitig im Handel. Ein Jahr später brachte Amiga eine LP von Jimi Hendrix heraus. Erst 1983 veröffentlichte das gleiche Label eine Lizenz-LP von Werner Davids Lieblingsband Cream. Da gab es diese schon seit 15 Jahren nicht mehr.

Im Jahre 1986 schuf Werner David die Karikatur »Powerplay«. Sie wurde über den DDR-Kunsthandel als großes Poster für drei Mark verkauft. Seine Zeichnungen erschienen im Eulenspiegel, der Leipziger Volkszeitung und der Zeitschrift Neues Leben. Er wurde Mitglied im Verband der Bildenden Künstler der DDR und gehörte ihm bis zu seiner Auflösung im Jahre 1990 an. Bevor sich die DDR von der Weltbühne verabschiedete, durfte die FDJ 1988 noch einmal mit Konzerten internationaler Rockgrößen, wie Joe Cocker und Bruce Springsteen auf der Radrennbahn in Berlin-Weißensee ein letztes Rückgewinnungsangebot an die verlorengegangene Jugend starten. Zu spät.

Hässliche neue Welt

Für Werner David bedeutete die politische Wende von 1989/90 nicht nur den nunmehr uneingeschränkten Zugang zur Musikwelt des Rock und Beat. Als Mitglied einer Abteilungsgewerkschaftsleitung des FDGB beim VEB Interdruck Leipzig erlebte er auch die Kehrseite der gewonnenen Freiheit, die harte kapitalistische Realität. Die Treuhand wickelte den Betrieb ab und Hunderte seiner Kollegen verloren ihren Job. Anlass für ihn, sich bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand als Gewerkschaftssekretär für die Interessen von Arbeitern zu engagieren. Das »freche« Zeichnen hat er dabei nie vernachlässigt. Seine Arbeiten wurden noch brillanter und waren von hoher politischer Aktualität.

Als 1999 der Kosovokrieg mit den NATO-Luftangriffen unter deutscher Beteiligung weiter eskalierte und jeden Abend im TV schreckliche Bilder zu sehen waren, fertigte er ein Anti-Kriegs-Plakat an. Unter der Überschrift »täglich ab 20.00 Uhr« und einem angedeuteten Schlachtfeld war auf gelbem Untergrund unter anderem zu lesen: »Man kann das locker sehen. Mit Bier und Keksen. Sie finden bestimmt auch heute Abend wieder den Kanal, der Ihren Bedürfnissen am nächsten ist. Ab 20.00 gibt’s frische Tote«. Vor 35 Jahren entwarf er das Logo für Deutschlands größtes internationales Kabarett- und Kleinkunstfestival, die Leipziger Lachmesse. Das lachende Gesicht ist seitdem auf Plakaten, Programmheften, Webseiten und Urkunden zu sehen. David hat sich damit ein Denkmal gesetzt.

Nach dem Treffen in der Espenhainer »Aspe« resümierte ich: »Elvis«, »Ringo« und auch »Tom Ei« sowie Hunderttausende ihrer Generation haben ihre Jugend in einem Land gelebt, das es nicht mehr gibt. Sie waren voller Neugierde, Lebenslust und Tatendrang. Sie waren nicht unglücklich. Wie alle Jugendgenerationen vor ihnen, wollten sie sich von ihren Eltern unterscheiden und abheben. Sie waren keine Rowdys und auch nicht dekadent. Beides waren Minderheiten. Nicht alles, was ihrem Musikgeschmack und den Vorstellungen von der Länge ihrer Haare entsprach, wurde gutgeheißen. Das war nicht immer einfach und erzeugte Dissens. Den Sozialismus abschaffen war aber nie ihr Ziel. Wie die berufliche und künstlerische Entwicklung von »Elvis« und »Ringo« zeigt, haben ihnen weder die enge Verbundenheit mit der englischsprachigen Rock- und Beatmusik noch das Imitieren des Aussehens ihrer Idole geschadet. Die Auseinandersetzung mit dieser Musik hat sie vielmehr für soziale Gerechtigkeit und Frieden sensibilisiert.

Werner Fritz Winkler schrieb an dieser Stelle zuletzt am 18. September 2025 über Nazifunktionäre in der BRD und die Ausgrenzung von DDR-Athleten im Kalten Krieg: »Foul gespielt«

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  • Leserbrief von Norbert Schönfeld aus Lübeck (5. November 2025 um 11:33 Uhr)
    »Bitte nennt nicht meinen Namen, bitte sagt nicht meine Adresse, sonst bekomme ich Ärger in der Schule, in der Lehre oder auf Arbeit.« So moderierte Uschi Nerke in einer Beat-Club-Sendung von Radio Bremen in der zweiten Hälfte der 60er Jahre einen neuen Hit an. In einer vom Beat-Club organisierten Straßenumfrage fielen Sätze wie: »Adolf hätte schon gewusst, wie man mit diesen ungewaschenen renitenten aufmüpfigen langhaarigen Affen umgeht.« Originalzitate aus Briefen an den Beat-Club: »Was diese langhaarigen flegel sich (…) im beatclub leisten, ist der gipfel der geschmacklosigkeit. »Entweder besteht die Leitung ihres Senders aus Kommunisten oder Gesinnungslumpen.« Ein anderer schrieb, der Beat-Club gliche eher dem sinnlich-dummen Treiben eines sehr mäßigen Nachtlokals als einer profilierten Jugendsendung. Wortwörtlich schrieb ein Dritter: »Die widerlich schamlose Minitänzerin (…) war wohl in ihrer widerlichen Obszönität unübertrefflich. (…) Die vorgestellte Band mit ihrer Mischung von Urwald und Maschine konnte nur die niedersten Instinkte ansprechen.« (alle Zitate aus »The story of BEAT-CLUB; Volume1; Radio Bremen«). Das war das reale Leben noch nach 1966 in der ach so freiheitlich-demokratischen BRD. In den ländlichen Regionen – und hier vor allem in Süddeutschland – herrschte wirklich noch »die gute alte Zeit«. Möglichkeiten zur aktiven Gestaltung der Freizeit gab es äußerst wenig, und wenn überhaupt, dann meist nur im Rahmen und unter der Aufsicht der Kirche. Wir hörten in dieser Zeit Mitte und Ende der Sixties auch den von der DDR ausgestrahlten und wirklich pfiffig, bissig satirisch, gut moderierten rockigen »Deutschen Soldatensender 904« für die Soldaten der Bundeswehr und Infos aus dem Innenleben der Kasernen mit den aktuellsten britischen und amerikanischen Hits, die es auf den ARD-Radiostationen kaum gab, DT64, »Hallo - das Jugendjournal« von Stimme der DDR (ehem. Deutschlandsender) sowie auch die täglichen Beat-Sendungen von Danmarks Radio Kopenhagen.
    • Leserbrief von Onlineabonnent/in Marian R. (5. November 2025 um 15:33 Uhr)
      Eine sehr interessante Zuschrift, die einiges klarmacht. In den 80er Jahren wurden dann in der DDR Punks und z. T. auch Grufties bzw. Heavy-Metal-Fans als Nachfolger der Beatniks gegängelt – aber ebenso in der BRD, wo diese des Öfteren mit Gummiknüppeln usw. traktiert wurden. Auch die Rufe nach dem »Führer« und seiner »sauberen Zeit« waren in Westdeutschland oft zu hören – im Fernsehen! Nachzulesen und nachzuschauen sind diese Tatsachen aus der Alt-BRD heute aber selten bzw. nie im Staats-TV, dafür aber in Punkfanzines und auf den einschlägigen Videokanälen. Ansonsten gilt: Unterdrückung von Jugendsubkulturen gab es nur in der DDR.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (4. November 2025 um 13:17 Uhr)
    Ich habe einen zwiespältigen Eindruck von dem im Artikel Geschilderten. Ja, die Auseinandersetzung um die Westmusik gab es. Und ja, etwas mehr Gelassenheit hätte der DDR-Führung in dieser Zeit gutgetan. Andererseits hat die Gegenseite wirklich nicht wenig dafür getan, auch diese Musik zu nutzen, um Teile der DDR-Jugend für den Goldenen Westen zu begeistern. Anfangs stark über Radio Luxemburg, später übernahm der besser zu empfangende und gewiss nicht DDR-freundliche Rias-Berlin diese Rolle. Vom Rias ist gut bekannt, wer ihn finanzierte, um Unruhe in die DDR-Bevölkerung zu tragen. Wer Rias hörte, der hörte eben meistens doch nicht nur Musik. Man kann schlecht bestreiten, dass dort auch die Jugendmusik ein geschickt eingesetztes Mittel war, um in die DDR hineinwirken zu können. Ja, DT64 kam etwas zu spät zur Welt, um da ausreichend gegenhalten zu können. Aber der Sender war eben auch der lebendige Beweis dafür, dass in der DDR schon darüber nachgedacht wurde, wie der Kampf gegen die kulturelle Infiltration intelligenter zu führen wäre. Was Rowdytum und Musik angeht, ist es wohl wie bei Rowdytum und Fußball: Rowdys suchen sich eine Bühne, auf der sie sich austoben können. Ob man das zulässt oder nicht, wird in keinem Staat der Welt dem Zufall überlassen. Das ist in der heutigen BRD nicht anders als damals in der DDR. Und wer sich die Strafen ansieht, die da heute gern verhängt werden, wenn jemand politisch motivierten Rowdytums beschuldigt wird, wird die von damals vielleicht auch nicht mehr als ganz so abwegig betrachten.

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