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Aus: Ausgabe vom 04.11.2025, Seite 3 / Abgeschrieben

Offener Brief an das ZDF zur Stellungnahme zu einem in Gaza getöteten Mitarbeiter

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Ein zerstörtes Fahrzeug nach einem israelischen Angriff auf ein Krankenhaus in Gaza (13.4.2025)

Der Konzertmeister Michael Barenboim und die Wissenschaftlerinnen Christine Binzel und Hanna Kienzler haben sich in einem offenen Brief an das ZDF gewandt, um die Stellungnahme des Senders zu einem in Gaza getöteten Mitarbeiter zu kommentieren:

Mit großer Bestürzung haben wir die jüngste Stellungnahme des ZDF zur Tötung eines Mitarbeiters der Produktionsfirma Palestine Media Production (PMP) in Gaza zur Kenntnis genommen. Die Formulierung und Haltung Ihres Hauses werfen schwerwiegende ethische und journalistische Fragen auf, die einer dringenden Klärung bedürfen.

1. Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Quelle: Das ZDF beruft sich auf Angaben der israelischen Armee, wonach der getötete Ingenieur Mitglied der Hamas gewesen sei. Diese Behauptung soll durch ein »entsprechendes Dokument« belegt werden, dessen Herkunft, Echtheit und Kontext jedoch unklar bleiben. In der Vergangenheit haben israelische Militärstellen wiederholt nachweislich Falschinformationen verbreitet (…). Vor diesem Hintergrund ist es journalistisch unverantwortlich, solche Angaben ungeprüft zu übernehmen und zu verbreiten.

2. Kein Recht zur gezielten Tötung von Zivilisten: Selbst wenn der getötete Ingenieur Mitglied der Hamas gewesen wäre, rechtfertigt dies keinesfalls seine gezielte Tötung. Nach internationalem Recht bleibt ein Zivilist ein Zivilist, solange er nicht unmittelbar an Feindseligkeiten teilnimmt. Die Verbreitung solcher Narrative durch ein öffentlich-rechtliches Medium trägt zur weiteren Normalisierung extralegaler Tötungen bei und untergräbt damit das Völkerrecht.

3. Das getötete Kind: Bei dem Angriff wurde zudem der Sohn eines anderen Mitarbeiters getötet. Ein achtjähriges Kind. Diese Tatsache allein sollte Anlass genug sein, Trauer, Mitgefühl und Empörung zu äußern, nicht, die offizielle Version der Angreifer kritiklos zu übernehmen.

4. Diffamierung von Opfern und journalistische Verantwortung: Es ist zutiefst beunruhigend, dass das ZDF posthum die journalistische Tätigkeit eines getöteten Kollegen in Frage stellt – auf Grundlage unbelegter Behauptungen eines Staates, der sich derzeit schwerster Menschenrechtsverbrechen (…) schuldig macht. Eine solche Haltung stellt nicht nur die journalistische Unabhängigkeit Ihres Hauses in Frage, sondern steht auch im Widerspruch zu den Werten, die der öffentlich-rechtliche Rundfunk zu vertreten vorgibt: Menschlichkeit, Glaubwürdigkeit und Verantwortung.

Wir fordern das ZDF auf, die Quelle, Echtheit und den Kontext des genannten israelischen »Dokuments« offenzulegen oder andernfalls auf seine Verwendung zu verzichten. Eine redaktionelle Selbstüberprüfung einzuleiten, ob die Darstellung des Vorfalls im Einklang mit journalistischer Sorgfalt und dem Schutz der Menschenwürde steht, wie sie durch den Pressekodex (Ziffer 1–2) und internationale Medienethik gefordert wird. Die Darstellung des Falls zu korrigieren, falls keine unabhängige Bestätigung der Behauptungen vorliegt. (…)

Des weiteren fordern wir, öffentlich anzuerkennen, dass journalistische Berichterstattung, die unbelegte Behauptungen über getötete Zivilpersonen verbreitet, zur Normalisierung völkerrechtswidriger Gewalt beitragen kann und dass Medien ihrer daraus erwachsenden Verantwortung künftig gerecht werden müssen.

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