Muss man mit Toten bei Einsätzen der Polizei rechnen?
Von Hendrik Pachinger
Bundesweit steigen die Zahlen der tödlichen Polizeischüsse, so auch in Baden-Württemberg. Wurden dort 2024 noch neun Menschen durch Polizeiwaffen verletzt und drei getötet, dürften es in diesem Jahr deutlich mehr werden. So starben alleine im Raum Stuttgart innerhalb von vier Wochen drei Menschen. Muss damit mittlerweile bei Polizeieinsätzen gerechnet werden?
Das muss es. Tödliche Schüsse sind in Baden-Württemberg längst zur realen Option polizeilicher »Problemlösung« geworden. Der Mann, der in Stuttgart-Ost durch einen Schuss in den Rücken starb, war erkennbar unbewaffnet und auf der Flucht. Wer so schießt, will nicht stoppen, sondern töten. Und das ist keine Eskalation im Einzelfall, sondern Ausdruck einer Einsatzkultur. Diese Gewaltspirale entsteht auch, weil die Polizei zunehmend militärisch ausgerüstet wird. Diese Entwicklung wird politisch mitgetragen und administrativ abgesichert.
Wenn die Polizei tödliche Schüsse abgibt, stellen sich führende Politiker schützend vor die Beamten. Was kritisieren Sie an diesem Automatismus?
Minister und Polizeispitzen machen das, noch bevor Fakten auf dem Tisch liegen. Innenminister Thomas Strobl von der CDU hat die Messlatte selbst gesetzt: »Wer mit einem Messer einen Polizisten angreift, hat sich entschieden, nicht mehr zu leben.« Das ist kein Ausrutscher: Entmenschlichung, Feinderklärung, Freispruch im voraus. Wer so spricht und so ermitteln lässt, baut ein System, das tödliche Polizeigewalt normalisiert – und schützt es anschließend vor Kritik.
Einer der Getöteten war ein augenscheinlich unbewaffneter 29jähriger, der von hinten erschossen wurde. Sie hatten zu einer Kundgebung aufgerufen. Wie war die Resonanz?
Unsere Antwort auf den Tod des jungen Mannes war öffentlicher Druck: ein unangemeldetes Gedenken im Stadtteil und eine Demonstration in der Innenstadt. Die Resonanz war stark. Es war ein gut sichtbarer, lauter Protest; Redebeiträge gab es auch von migrantischen Initiativen. Beim Gedenken waren über 100 Menschen und über 200 auf der Demo. Behörden und große Medien haben im Vorfeld versucht, den Protest zu diffamieren, so durch einen Artikel, in dem das Gewaltpotential auf unserer Seite gesehen wurde. Dieser Artikel setzte bereits durch seine Überschrift den Ton: »Linksautonome rufen zu Demo in Stuttgart auf – Behörden sehen Gewaltpotential«. Wenig überraschend durfte die Demo nicht – wie im Grunde jede andere – an der Polizeiwache vorbeiziehen, und uns empfing ein enormes Polizeiaufgebot. Wie die Migrantifa auf der Demo treffend sagte: »So viel Polizei – man könnte fast glauben, wir hätten jemanden erschossen.« Wir haben uns dennoch davon nicht einschüchtern lassen, sind auf die Straße gegangen und haben viel Zuspruch aus der Bevölkerung erhalten.
Bleiben Sie am Thema tödliche Polizeigewalt dran? Wie geht es in diesem Fall weiter?
Bezeichnenderweise herrscht in diesem Fall Funkstille. Es verwundert uns nicht, denn die Medienstrategie ist wie üblich: Erstmal gingen die Behörden in die Offensive, und als es Gegenwind gab, wurde alles unter den Teppich gekehrt. Sicherlich begleitet uns das Thema Polizeigewalt weiterhin. Neue Fälle sind, gestützt durch Rückendeckung aus Politik und der Institution Polizei, bereits absehbar.
Bei vielen der Einsätze sind Migranten und Geflüchtete beteiligt. Können rechte Kräfte davon profitieren?
Ja, indem sie diese Menschen zum Sicherheitsrisiko erklären. Das schaffen sie zum Teil leider auch, um eine Law-and-Order-Politik durchzudrücken und zu legitimieren – die Stuttgarter Parteien bedienen das bereits mit den »Waffenverbotszonen« in der Innenstadt. Das Thema wird uns auch in den kommenden Landtagswahlen am 8. März begleiten, wenn in Merzscher rassistischer und sexistischer Manier gegen Migranten gehetzt werden wird – nicht nur von CDU und der AfD.
Dem setzen wir praktische Solidarität entgegen: Wir lassen uns nicht spalten, sondern verbinden Kämpfe – gegen Polizeigewalt, gegen Rassismus, gegen Sozialraub und soziale Verwüstung sowie gegen die Kriegstüchtigkeit.
Lisa Fetzer spricht für die Organisierte Autonomie Stuttgart
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