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Aus: Ausgabe vom 29.10.2025, Seite 9 / Schwerpunkt
Argentinien

Der Sieg der Kettensäge

Argentinien: Was bedeutet der Erfolg der Milei-Regierung bei den Zwischenwahlen? Wie ist er zu erklären? Und wie steht es um die Opposition? Eine Analyse
Von Frederic Schnatterer und Torge Löding, Buenos Aires
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Milei-Fans provozieren Gegendemonstranten während eines Auftritts des argentinischen Präsidenten in Buenos Aires (6.10.2025)

In seiner Deutlichkeit kam das Ergebnis überraschend. Auch wenn am Sonntag in Argentinien nicht der Präsident gewählt wurde, hat die Neuwahl der Hälfte des Abgeordnetenhauses und eines Drittels des Senats Auswirkungen auf die Regierungsfähigkeit von Javier Milei. Der Ultraliberale mit der symbolischen Kettensäge geht gestärkt aus der Zwischenwahl hervor. Der oppositionelle Peronismus muss sich dagegen fragen, wie es für ihn weitergeht.

Milei hatte die Parlamentswahl zum Referendum über sein wirtschaftsradikales und autoritäres Regierungsprojekt erklärt und sich an die Spitze des Wahlkampfs gestellt. Mit Erfolg: Landesweit kam seine Liste La Libertad Avanza (LLA, »Die Freiheit schreitet voran«) auf mehr als 40 Prozent der Stimmen. Da LLA bis zu Mileis Amtsantritt im Dezember 2023 über nahezu keine Parteistruktur verfügte, bedeutet das Ergebnis einen großen Sprung im Parlament. Vergleicht man das Ergebnis jedoch mit dem der Parlamentswahl 2023, ist es weniger beeindruckend. Damals erreichten LLA und die rechtskonservative Partei Pro von Expräsident Mauricio Macri zusammen fast 54 Prozent. Pro trat am Sonntag als Teil von LLA an.

Künftig verfügt die Regierung über ein Drittel der Abgeordneten und damit eine Sperrminorität. So kann sie Präsidialvetos gegen unliebsame Gesetzesvorhaben aufrechterhalten. Auch ein mögliches Amtsenthebungsverfahren gegen Milei kann sie verhindern. Eine eigene Mehrheit hat Milei im Parlament allerdings weiterhin nicht; dafür fehlen ihm 22 Stimmen. Er wird verhandlungsbereit sein müssen.

Noch am Sonntag abend erklärte ein euphorischer Milei die Zwischenwahl zu einem »Wendepunkt«. Zentrale Projekte der zweiten Phase seiner Regierungszeit werden ein neues Arbeitsgesetz, das die Rechte von Beschäftigten und Gewerkschaften weiter beschneiden soll, und eine Steuerreform, mit der die ohnehin geringe Steuerlast für Wohlhabende weiter reduziert wird.

Der Anwalt Luis Campos betont, die Milei-Regierung setze insbesondere beim Arbeitsrecht auf Initiativen, »welche die dominierenden Fraktionen der argentinischen Bourgeoisie seit mehreren Jahrzehnten fordern«. Campos, der am Institut für Studien und Ausbildung des Gewerkschaftsverbands CTA Autónoma arbeitet, erklärt: »Während der ersten zwei Jahre an der Macht hat die Regierung vor allem die Rechte der einzelnen Arbeiter attackiert. Jetzt macht sie sich daran, die Macht der Gewerkschaften als kollektive Interessensvertretungen einzuschränken.« Vorgesehen sind unter anderem ein Ende von Tarifverhandlungen, die Erleichterung betriebsbedingter Kündigungen und längere Arbeitszeiten.

»Bei seiner Wahl 2023 hatte Milei leichtes Spiel«, erklärt Hernán Ouviña. Der Dozent für Politikwissenschaften der Universität von Buenos Aires (UBA) führt aus: »Milei gab vor, ein Outsider mit radikalen Ideen für einen Systemwandel zu sein, und versprach Wohlstand für alle.« Zwar sind die versprochenen Wunder bisher ausgeblieben. Die Wahl vom Sonntag zeigt aber, dass ein bedeutender Teil der Argentinierinnen und Argentinien weiter der Regierungserzählung glaubt, es sei nur noch etwas Zeit nötig, um das Land auf den richtigen Weg zu bringen.

Dem konnten auch mehrere Korruptionsskandale nichts anhaben, in die Regierungsvertreter mutmaßlich direkt verwickelt sind – so auch die Präsidentenschwester Karina Milei, die als LLA-Vorsitzende und Generalsekretärin der Präsidentschaft äußerst mächtig ist. Die Behauptung, nicht zur vielgescholtenen »Kaste« zu gehören, die ihre Positionen zum persönlichen Vorteil ausnutzt, verfängt bei einigen noch immer. Andere blieben am Sonntag hingegen lieber zu Hause. Mit knapp 68 Prozent war die Wahlbeteiligung so niedrig wie nie seit dem Ende der Diktatur 1983 – trotz Wahlpflicht.

Die Regierung verweist darauf, den Haushalt ausgeglichen und die Inflationsrate stark reduziert zu haben. Der Preis für diese »Erfolge«, die als die einzigen der bisherigen Amtszeit gelten können, ist allerdings hoch. Die Inflation zügelte die Regierung einerseits mit ihrer Politik des öffentlichen Deinvestments. Andererseits hielt sie den Wert der Landeswährung Peso künstlich hoch. Heute ist Argentinien eines der teuersten Länder Lateinamerikas, große Teile der nationalen Industrie kämpfen ums Überleben. Während der Güterexport eingebrochen ist, boomt der Rohstoffsektor, und Spekulanten verdienen sich auf den Finanzmärkten eine goldene Nase.

Die Folge sind sinkende Reallöhne, Massenentlassungen und immer mehr Menschen, die in informellen Arbeitsverhältnissen ums Überleben kämpfen. Im September sank der Konsum von Nahrungsmitteln, Wasser und Hygieneartikeln laut dem Institut Scentia um 3,7 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat. Damals war er bereits um fast 15 Prozent gegenüber September 2023 abgestürzt. Während die Mehrheit der Bevölkerung darbt, reisen so viele gut betuchte Argentinier wie lange nicht mehr ins Ausland und konsumieren importierte Luxuswaren.

Ihr Wirtschaftsmodell konnte die argentinische Regierung nur aufrechterhalten, indem sie massenhaft US-Dollar in die Hand nahm, um den Argentinischen Peso zu stützen. Das ist besonders dramatisch, da es Argentinien chronisch an Devisen fehlt, während die Staatsverschuldung ins Unermessliche steigt. Nachdem im April der Internationale Währungsfonds (IWF) mit einem Kredit in Höhe von 20 Milliarden US-Dollar in die Bresche gesprungen war, war es Ende September die US-Regierung von Donald Trump, die das Land vor der Zahlungsunfähigkeit rettete. Die »Hilfen« in Höhe von insgesamt 40 Milliarden US-Dollar knüpfte Trump allerdings direkt an einen Wahlerfolg von Milei. Die Erpressung der argentinischen Wählerschaft, das zeigt der Sonntag, hat funktioniert.

Heute ist LLA die führende Kraft im rechten Lager. Expräsident Macri hatte bei der Stichwahl ums Präsidentenamt 2023 die Basis dafür geschaffen, indem er zur Stimmabgabe für Milei aufrief. Zwar versuchte Macri im Vorfeld der Abstimmung am Sonntag, sich bei der Regierung anzubiedern, und versprach, er werde als »konstruktive Opposition« mit Milei zusammenarbeiten. Seine Position ist durch das Ergebnis allerdings geschwächt. So konnte LLA das Gros der Stimmen jener vereinen, die sich in erster Linie als Antiperonisten verstehen. Sie machen in Argentinien verlässlich mindestens ein Drittel der Wähler aus. Der Peronismus geht zurück auf den Politiker, Militär und Expräsidenten Juan Domingo Perón (1895–1974). Über die Auslegung seines politischen Erbes wird bis heute leidenschaftlich diskutiert.

Zwar bleibt die Strömung mit 97 Mandaten im neuen Abgeordnetenhaus die größte Oppositionskraft. Trotzdem ist das Ergebnis vom Sonntag für den Peronismus, der nicht im ganzen Land als »Fuerza Patria« (FP) angetreten war, eine Katastrophe. Im Wahlkampf versuchte sich FP als Kraft für einen Neuanfang zu positionieren. Statt Vorschläge zu unterbreiten, verblieb die Führung allerdings dabei, Milei und seine Regierung zu kritisieren.

Obwohl auch die feministische Aktivistin Caren Tepp aus der Provinz Santa Fe sowie fünf weitere Vertreter eines »linken Peronismus von unten« ins neue Parlament gewählt wurden: Die wichtigste Oppositionskraft befindet sich augenscheinlich in einer Sackgasse. »Heute sind die Machtzentren innerhalb von Fuerza Patria der gescheiterte frühere Wirtschaftsminister Sergio Massa, der Sohn von Expräsidentin Cristina, Máximo Kirchner, sowie der charismatische Gouverneur der Provinz Buenos Aires, Axel Kicillof«, erklärt Hernán Ouviña. Auch im Parlament dominierten weiter ehemalige Funktionäre früherer Regierungen. »Diese haben aus den Fehlern der Vergangenheit nichts gelernt«, konstatiert der Politologe. Der Vorschlag der Peronisten, einfach zum alten Status quo zurückzukehren, verfange in Argentinien nicht mehr.

Ouviña ist sich sicher: In Argentinien gäbe es Potential für eine »neue Kraft des Widerstands, in der marxistische Ideen populär werden«. Eine Rolle beim Aufbau einer solchen Kraft hätte der »Frente Patria Grande« (Front des großen Vaterlandes) um Juan Grabois, den Sprecher der Bewegung der prekär Beschäftigten (MTE), spielen können. Er entschied sich letztlich jedoch für eine Kandidatur mit »Fuerza Patria«.

Der andere relevante Akteur in der Linken ist das trotzkistische Bündnis »Frente de Izquierda y de Trabajadores – Unidad« (FIT-U, Front der Linken und der Arbeiter – Einheit), das laut Ouviña »bei den Sozialprotesten eine wichtige Rolle spielt und in vorderster Reihe steht«. FIT-U gelinge es, »den harten Kern für eine linksradikale Politik zu mobilisieren«. »Durch Sektierertum und den Egoismus einzelner Mitgliedsorganisationen stehen sie sich allerdings leider oft selbst im Weg«, schränkt der Politologe ein. Am Sonntag erreichte FIT-U landesweit 4,7 Prozent und verfügt künftig über vier Mitglieder im Abgeordnetenhaus. In der Hauptstadt sowie in der Provinz Buenos Aires konnte sich das Bündnis als drittstärkste Kraft etablieren.

Die Zwischenwahlen gelten in Argentinien als Stimmungstest. Meist werden sie von den Wählern dazu genutzt, die amtierende Regierung abzustrafen. Dass das zwar oft, aber nicht immer gilt, zeigt die Parlamentswahl 2017. Damals gewann Macri im Vergleich zur Präsidentenwahl zwei Jahre zuvor sogar noch Stimmen hinzu. In der Folge intensivierte er sein neoliberales Programm. Der Ausgang ist bekannt: Nur wenige Monate später schlitterte seine Regierung in eine tiefe Krise. 2019 wurde sie an den Urnen abgestraft.

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