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Aus: Ausgabe vom 18.10.2025, Seite 2 / Kapital & Arbeit
Klassenkampf in Belgien

»Es hat den Bossen richtig wehgetan«

Belgien: Landesweiter Streik und Großdemonstration in der Hauptstadt gegen Austeritätspolitik der Regierung. Ein Gespräch mit Peter Mertens
Interview: Marc Bebenroth
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Nach Gewerkschaftsangaben haben rund 140.000 Menschen in Brüssel gegen die Erhöhung des Renteneintrittsalters protestiert (14.10.2025)

In Belgien wurde am Dienstag landesweit gestreikt. In der Hauptstadt haben rund 140.000 Menschen gegen eine Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre protestiert. Hat die Regierung von Sozialdemokraten und Christdemokraten das mittlerweile zur Kenntnis genommen?

Nein, das glaube ich nicht. Noch immer will diese rechte Regierung Milliarden ausgeben für das Militär und kürzt zugleich beim Rentensystem. Sie wollen, dass die Leute bis 67 arbeiten, und diejenigen finanziell bestrafen, die früher in Rente gehen. Die Regierung ist seit Februar im Amt und es ist die zehnte Kundgebung gegen sie sowie die dritte dieser Größenordnung.

Das war Dienstag einer der größten sozialpolitischen Streiks in fast 40 Jahren. Es dürften sich daran rund eine Million Menschen beteiligt haben. Die Flughäfen, die Seehäfen, aber auch Schulen und soziale Einrichtungen standen still. Die Bosse und Großunternehmen waren richtig sauer. 150 Schiffe allein in Antwerpen wurden nicht entladen. Es hat ihnen richtig wehgetan.

Wie ist es gelungen, so stark zu mobilisieren?

Hauptsächlich haben die Gewerkschaften mobilisiert. Alle Debatten der vergangenen drei Monate wurden in den Betrieben geführt. Die Arbeiterklasse im gesamten Land und Zehntausende junge Menschen haben am Dienstag teilgenommen. Mit den Studentenvereinigungen und Jugendorganisationen aller Art war eine neue Generation auf der Straßen. Aber in der Presse und auch im Parlament verschließen sie die Augen davor.

Was treibt die Menschen an?

Vor allem Wut auf die Austeritätsmaßnahmen. So hat die Regierung neu definiert, dass eine Schicht erst ab Mitternacht eine Nachtschicht ist, damit Unternehmen weniger Zuschläge zahlen müssen. Und das belgische Indexlohnsystem verhindert, dass die Löhne über ein bestimmtes Niveau hinaus steigen. Hinzu kommen Sozialkürzungen und Kürzungen im Kultursektor.

Und die Jugend?

Zwar gingen sie auch in Solidarität mit Palästina auf die Straße, aber so wie die Alten sich von der Rente keinen Platz in einem Altenheim leisten können, gehen die Jungen gegen steigende Studiengebühren und unbezahlbare Wohnungen auf die Straße. Sie sind wirklich wütend über diese Mischung aus rechter Austeritätspolitik, dem Beschneiden demokratischer Rechte und dem Nichtstun gegenüber Israel.

Hat das Klassenbewusstsein ein neues Niveau erreicht?

Es wächst, ist jedoch noch nicht so ausgeprägt, wie wir uns das erhoffen. Aber: Was wir am Dienstag am meisten gehört haben, ist, dass viele Leute zum ersten Mal in ihrem Leben bei einer Kundgebung waren. Auf sich allein gestellt, wird man depressiv, ein leichtes Ziel für Verschwörungstheorien und rechte Demagogie. Wenn man Teil der Dynamik einer Bewegung ist, Mitglied einer Gewerkschaft oder Jugendvereinigung, dann sieht man den Emanzipationsprozess mit anderen Menschen und wird stärker. Darum geht’s!

Unter welchem Druck steht die Regierung?

Sie sagen, sie werden den Haushalt in Ordnung bringen. Aber das ist überhaupt nicht möglich. Mit dem defizitären Budget sind sie nach den europäischen Regeln schlechte Schüler, müssen aber der EU-Kommission ihren Haushalt für 2026 vorlegen. So suchen sie jetzt nach zehn Milliarden Euro, die sie zum Stopfen der Lücken auftreiben müssen. Sie lassen einen politischen Testballon nach dem anderen steigen, während sie Unsummen ins Militär geben. Ohne die Streiks und Proteste hätten sie mit Sicherheit schon die nächste Kürzungsrunde gestartet.

Was die Regierung tut, ähnelt dem, was die Koalition in der BRD macht. Nur fehlt es hierzulande an vergleichbarer Mobilisierung. Was raten Sie?

Ich weiß, dass es in Deutschland viel schwieriger ist, einen politischen Streik zu organisieren. Aber die Widersprüche nehmen auch in der BRD zu. Der Punkt ist, mittelfristig einen Plan zu haben für eine größere Bewegung. Dabei gilt die Dialektik zwischen Geduld und Ungeduld: Ungeduld, weil man selbstverständlich handeln muss. Aber Geduld, etwas aufzubauen und alles zu vereinen. Wenn wir diesen berechtigten Zorn über die Ungerechtigkeit nicht aufgreifen, überlassen wir die Leute den falschen »Alternativen«.

Peter Mertens ist Generalsekretär der Partei der Arbeit Belgiens (PVDA/PTB)

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