Profit vor Personal bei Nestlé
Von Dominic Iten
Mehr Tempo, härtere Schnitte, strengere Disziplin: Der neue CEO Philipp Navratil muss liefern – und tut es, für die Aktionäre selbstredend. Zwar kann Nestlé fürs letzte Quartal bei einem Umsatz von 65,9 Milliarden Franken ein organisches Wachstum von 3,3 Prozent ausweisen – doch dieses ist vorwiegend auf Preissteigerungen zurückzuführen. Die Inflation hat in einigen Märkten zu zweistelligen prozentualen Zuwächsen geführt, das Umsatzwachstum wird in erster Linie von verteuertem Kaffee und Süßwaren getragen. Deutlich weniger beeindruckt die Anleger das Volumenwachstum von 0,6 Prozent, das die tatsächlich verkaufte Menge an Produkten misst.
Dabei dürften die Geschäftszahlen des laufenden Jahres noch Navratils kleinste Sorge sein. Schwerer wiegt der Vertrauensverlust, mit dem der Nahrungsmittelkonzern in der jüngsten Zeit zu kämpfen hat. Angesichts einer vergleichsweise schwachen Börsenperformance hatte Nestlé vor rund einem Jahr seine Führung ausgewechselt. Es übernahm Laurent Freixe – und in dessen Plänen zur Wiederbelebung des Aktienkurses deutete sich die heutige Rationalisierung bereits an: Neben massiver Erhöhung des Marketingbudgets und der Überführung des Wassergeschäfts in einen eigenständigen Geschäftsbereich wurde eine Kostenreduktion um 2,5 Milliarden Franken angepeilt, die ohne Stellenabbau nicht zu erreichen war.
Inzwischen musste Freixe seinen Posten räumen – allerdings nicht, weil nach enttäuschenden Halbjahreszahlen der Börsenkurs weiter einbrach, sondern wegen einer nicht offengelegten Beziehung mit einer direkt unterstellten Mitarbeiterin. Wegen »Verstoßes gegen den Nestlé-Verhaltenskodex« wurde Freixe fristlos freigestellt, nur wenige Tage später trat auch Verwaltungsratspräsident Paul Bulcke zurück, nachdem ihm von den Aktionären mangelndes Fingerspitzengefühl bei den Personalentscheiden vorgeworfen worden war.
Das Vertrauen ist weiter angeschlagen, Freixe und Bulcke sind weg, doch die Strategie bleibt dieselbe – so viel hat Navratil bei der Präsentation der vorläufigen Umsatzentwicklung am Donnerstag deutlich gemacht. Seit 2001 im Konzern, haben ihn seine Stationen in Zentralamerika, die Leitung des Kaffee- und Getränkegeschäfts in Mexiko, der globalen Coffee-SBU und seine Rolle als CEO von Nespresso gelehrt: Wenn die Welt sich verändere, müsse Nestlé sich »noch schneller verändern«. Nestlé müsse jetzt »noch mehr leisten, schneller handeln« und die »Wachstumsdynamik beschleunigen«.
Konkret bedeutet das, nicht nur »bei großen Investitionen entschlossener« vorzugehen, die Innovationskraft zu erhöhen, »Wachstum und Wertschöpfung zu beschleunigen«, sondern auch innerhalb der nächsten zwei Jahre 16.000 Stellen abzubauen. Der Stellenabbau trifft Beschäftigte in allen Ländern; betroffen sind 12.000 Büroangestellte in verschiedensten Funktionen sowie 4.000 Arbeiter in den Bereichen Produktion und Vertrieb. Vor diesem Hintergrund hat Navratil das neue Kürzungsziel auf drei Milliarden Franken bis Ende 2027 veranschlagt – das entspricht einer Verdoppelung der bisher angestrebten Einsparungen. So werde Nestlés führende Position in der Branche gesichert und »Mehrwert für unsere Aktionäre« geschaffen.
Nestlés Krisenstrategie ist simpel. Nach den schmerzhaften Governance-Pannen bleibt der Ton technokratisch: Effizienz, Tempo, Kennzahlen. Damit setzt Navratil den Kurs seiner Vorgänger entschieden fort. Wachstum wird über Preiserhöhungen, Portfoliodisziplin und harte Kostenschnitte organisiert – inklusive massivem Stellenabbau. Profit vor Personal lautet die Prioritätensetzung, Ziel ist die maximale Rendite für die Aktionäre, nicht etwa die Entlastung der Kunden oder die Sicherheit der Arbeiter. Die Anleger dankten es ihm mit einem zeitweiligen Börsenplus von neun Prozent – dem größten Tagesgewinn seit der Finanzkrise.
Kurzfristig dürfte der Konzern seine Marge stabilisieren – doch der soziale Preis ist hoch. Zwar versichert Navratil, beim Stellenabbau »mit Respekt und Transparenz« vorzugehen – aber was soll das bedeuten? Tausende Arbeiter stehen auf der Straße – und für die Verbleibenden verschlechtert sich infolge der Rationalisierungsschritte die Lage: Die Löhne geraten unter Druck, Aufwand und Unsicherheiten nehmen zu. Mittel- bis langfristig ist entscheidend, ob echtes Mengenwachstum zurückkehrt; wenn nicht, drohen weitere Runden von Rationalisieren, Schrumpfen und Rechtfertigen – bei denen jeweils die Aktionäre gewinnen und die Arbeiter verlieren.
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