Das falsche Primat
Von Burkhard Garweg
Wir dokumentieren im folgenden einen Brief Burkhard Garwegs an Caroline Braunmühl. Die Tochter des 1986 von der Roten Armee Fraktion (RAF) erschossenen Diplomaten Gerold von Braunmühl hatte im Januar 2025 auf eine Stellungnahme des ehemaligen RAF-Militanten zur Verhaftung Daniela Klettes (Taz, 21.12.2024) reagiert. Darin distanzierte sie sich von Äußerungen ihres Bruders Patrick und anderer Angehöriger von RAF-Opfern, die die Attentate der RAF entpolitisierten und lediglich aus einer strafrechtlichen Perspektive betrachteten. Obwohl sie um ihren Vater trauere, erkenne sie an, dass die Motivation der RAF »radikale(r) Widerstand gegen soziale Ungleichheit, Ausbeutung und Unterdrückung« gewesen sei (ND, 17.1.2025). Garweg antwortete darauf öffentlich und kritisierte die Geschichte der RAF, die sich nach dem sogenannten Deutschen Herbst 1977 zu sehr auf eine militärische Konfrontation eingelassen und sozialrevolutionäre Kämpfe vernachlässigt habe (ND, 24.3.2025). Eine Reaktion Braunmühls darauf erschien in Analyse & Kritik (AK, 20.5.2025). Bei dem folgenden Brief handelt es sich um eine gekürzte Version. Der gesamte Brief findet sich online unter www.jungewelt.de. (jW)
Liebe Caroline,
ich habe mich sehr über Deinen Brief im AK des 20.5.25 gefreut.
Dein Leben, wie Du schreibst, ist durch das Attentat der RAF auf Deinen Vater mit dieser verbunden.
Es stellen sich Fragen nach dem Sinn oder der Legitimation solcher »Akte des Äußersten« als Teil einer politischen Geschichte und als Teil eines Revolutionsversuches. Es ergeben sich Fragen nach einer politischen Erklärung und historischen Einordnung.
Ich finde es bemerkenswert und interessant, dass Wera Figner, eine Sozialrevolutionärin aus Russland, die 1881 am Attentat auf den Zaren beteiligt war, bereits 1922 zum Teil ähnliche Fragen, wie die, mit denen wir uns auseinandersetzen, thematisierte. So sagt sie über ihre Zeit: »Der Terror (was in der heutigen Begrifflichkeit in einem emanzipatorischen Kontext dem militanten oder bewaffneten Kampf entsprechen würde, B. G.) war niemals ihr Selbstzweck. Es war ein Mittel der Verteidigung, des Selbstschutzes, mächtiges Instrument der Agitation, und wurde nur angewandt, wenn organisatorische Ziele erreicht werden sollten, (…) die alleine eine Umwälzung zwecks Übergabe der Macht an das Volk ermöglichen sollten. Im Herbst 1881 wurde die Zarentötung zu einer Notwendigkeit, zu einer brennenden Tagesfrage (…). Es gab einigen von uns den Anlass, Zarenmord und terroristische Tätigkeit fälschlich für unseren wesentlichen Programmpunkt zu halten.«
Revolutionär*innen setzen sich seit mindestens 130 Jahren mit zum Teil gleichen Fragen, die sich in ihrem Kampf ergeben hatten, auseinander. Destruktive Entwicklungen, die sich im Kampf der RAF ergaben, sind gewissermaßen ein alter Hut.
Revolutionäre Gewalt
Ich sprach von revolutionärer Gegengewalt und damit von revolutionärer Selbstverteidigung, weil ich davon ausgehe, dass revolutionäre Gewalt erst durch die Gewaltverhältnisse des Herrschaftssystems, die grundsätzlich gewaltförmigen Antworten des Herrschaftssystems auf Bewegungen, die dessen Aufhebung einfordern, und die Gewalt vielfältiger, innergesellschaftlicher Unterdrückungsverhältnisse notwendig wird. Revolutionäre Gewalt muss in einem gesellschaftlichen Verhältnis stehen. (…)
Meines Erachtens kam es durch eine eher militaristische Sichtweise in der Konzeption der 80er Jahre der RAF zu der Verselbständigung des Mittels bzw. seiner Form. Die Form dominierte vor dem Inhalt, der selbst abstrakt wurde und sich nicht mehr (selbst) erklärte.
Es ist eben auch eine Frage der Strategie und der Herangehensweise an Phasen des Befreiungskampfes auf dem Terrain der Metropole, ob man – wie die RAF der 80er Jahre – nur im militärischen Angriff das Primat der Praxis sieht, was in meinen Augen die Tendenz zum Militarismus von vornherein beinhaltet, oder in einer Propaganda der Tat – wie wir sie aus der Geschichte der anarchistischen Bewegungen kennen – eine mögliche Praxis sieht, mit der vor allem eine politische Wirkung erzielt werden soll. Auch die Kaufhausbrandlegung der späteren RAF‑Militanten am Ende der 60er Jahre als militanter Ausdruck, eine Gesellschaft in Frage zu stellen, in der alles – auch das Leben selbst – zur Ware wird, oder die Aktionen der RAF 1972 gegen Polizeigebäude und Springer-Konzern sind Ausdruck einer Propaganda der Tat. Hingegen zeigt der Angriff auf das Headquarter der US-Armee in Heidelberg 1972 als Teil einer weltweiten politischen und militärischen Gegenwehr und als Teil des weltweiten Befreiungskampfes, dass ein Moment der militärischen Initiative einer Metropolenguerilla in einer konkreten Kriegssituation nichts mit Militarismus zu tun haben muss. (…)
Die RAF entstand 1970 im Kontext weltweiter, antikolonialer, antiimperialistischer, antirassistischer und antipatriarchaler Aufstände und Revolutionsversuche. Sie entstand aus der Erkenntnis, dass Widerstand an der Seite der Kolonialisierten und um Befreiung Kämpfenden gegen die kolonialen und imperialistischen Verbrechen des westlichen Staatensystems gerechtfertigt, notwendig und richtig sei. (…)
Die Elite Deutschlands, die politische Führung, sowie deren militärische und polizeiliche Führung standen in der Mehrheit fest an der Seite der Mörder aus den Reihen westlicher Regierungen und Geheimdienste, der Polizei, der Militärs, der Diktaturen und Faschisten, die Patrice Lumumba, Salvador Allende, Steve Biko, Martin Luther King, Fred Hampton und unzählige weitere ermordeten.
Die Revolte von 1968 und die RAF stellten sich unmissverständlich auf die Seite der Mehrheit in der Welt, die sich aus Kolonialismus und Sklaverei zu befreien versuchte.
Die RAF entstand aus dem innergesellschaftlichen Aufstand der 68er-Revolte, der gegen die auch personifizierte Kontinuität des NS-Faschismus in der postfaschistischen BRD revoltierte. Die Macht und der Besitz der Klasse der Kapitalist*innen und NS-Täter*innen, z. B. der Krupps, hatten Bestand im NS-Staat wie auch im BRD-Staat – was diesen grundlegend von der DDR unterschied. (…)
Die Diskussionen relevanter Teile der Bevölkerung in der BRD und in allen westlichen Metropolen um eine revolutionäre Transformation und die Frage der Notwendigkeit bewaffnet und militant kämpfender Organisationen war eine Diskussion um revolutionäre Selbstverteidigung und Gegengewalt. Sie wurden als Notwendigkeit und Antwort auf die Brutalität und Gewalttätigkeit der Herrschenden in den westlichen Metropolen auf die protestierenden und revoltierenden Bewegungen und im Hinblick auf die Gewalt des westlichen Imperialismus und Kolonialismus diskutiert.
Ausufernde Repression
Die Feststellung, der erste Schuss wurde durch den westdeutschen Staat aus der Waffe der Polizei abgefeuert und ermordete Benno Ohnesorg, spricht über viel mehr als diesen Akt des 2. Juni 1967. Es erzählt vom Lauf der Geschichte der Revolte von 68 und der Entstehung des bewaffneten Kampfes im postfaschistischen BRD-Staat seit dem Ende der 60er Jahre. (…)
Ihre Hoffnungen verknüpften sich mit den Kämpfen des Vietcong, der Tupamaros in Uruguay, wie auch der Black Panther und des Weather Underground in den USA, des ANC in Südafrika oder der PFLP Palästinas. Die, die sie erreichen wollten, waren die Reste der 68er-Revolte: die, die sich für den Weg in die kommunistischen Gruppen entschieden hatten. Die, die als Anarchist*innen, radikale Feminist*innen oder Spontis von der Bewegung übriggeblieben waren. Die an den Rand der Gesellschaft Gedrängten und subproletarisch Genannten. Die, die erkannt hatten, dass die kapitalistischen Verhältnisse sie krank gemacht hatten. Die, die in den Niederungen westdeutscher Heime der damaligen Zeit aufzuwachsen gezwungen waren, und die sich in dieser Zeit der Revolte zuwendenden Lehrlinge und Jugend. Die RAF suchte in dieser Zeit nach einem antiimperialistischen und klassenkämpferischen Konzept, die Ausgebeuteten zu erreichen. Von diesen zeichnete sich gesellschaftlich ab, dass sie der Revolte entfernt bleiben würden. Historisch ist für diesen Umstand die Zerschlagung des proletarischen Widerstandes durch den Nationalsozialismus in den 30er Jahren ein Faktor. Die RAF führte dies in den Auseinandersetzungen ab Mitte der 70er Jahre in das strategische und folgenschwere Dilemma, sich vom sozialrevolutionären Aspekt des Kampfes zu lösen und den Befreiungskampf im Antiimperialismus zu verengen.
1973 war die RAF zerschlagen. Das Projekt RAF war damit faktisch beendet.
Es war der Staat, der, trotzdem die RAF zerschlagen war, den Krieg in den Gefängnissen führte und dort ein Element des Faschismus, eine auf Vernichtung des Gegners angelegte Haft innerhalb der bürgerlichen Demokratie zur Anwendung brachte. Es war faschistoid, was der Staat mit den Gefangenen vollzog – ohne dass diese seit 1973 noch Geiseln gegen eine existierende, revolutionäre Gruppe draußen gewesen wären. Es existierte ein von der regierenden Elite gewolltes und angeordnetes Haftregime, das auf Vernichtung – sei es psychisch oder physisch – oder Unterwerfung setzte.
Es war genau diese Repression, die ja überhaupt zur Neuentstehung der RAF führte. Die RAF hatte 1975 und 1977 kein Konzept für einen revolutionären, bewaffneten Kampf. Die Bedingungen hatten sich gesellschaftlich bereits stark verändert. 77 war kaum noch etwas übrig von den revolutionären Ideen der Revolte von 68. (…)
Stockholm 1975 war ein Versuch, Gefangene zu befreien, deren Leben nicht nur in der Wahrnehmung der neu formierten RAF, sondern der gesamten Linken und der linksliberalen Öffentlichkeit bedroht schien.
1975 wäre es für die Regierung möglich gewesen, in Verhandlungen mit dem »Kommando Holger Meins« der RAF zu treten, um Menschenleben in der Botschaft von Stockholm zu schützen. Schmidt setzte auf Härte, die militärische Logik und den starken Staat, was ihm wichtiger und näher war und ihm und einer autoritären Form des Regierens entsprach – wichtiger auch als das Überleben der Botschaftsangehörigen. Die Diplomaten der Stockholmer Botschaft wären nicht gestorben, so falsch und bedauerlich deren Tötung durch die RAF war, wenn Schmidt und sein Krisenstab nicht besessen davon gewesen wären, den militarisierten Konflikt Stockholm 75 militärisch zu lösen (…).
Schleyer und Buback
1977 wäre es für den Staat natürlich möglich gewesen, trotz des fatalen Verlaufs der Offensive 77 zur Befreiung der Gefangenen das Leben von Schleyer zu priorisieren und zu schützen und mit den Stammheimern oder der RAF in Verhandlungen zu treten. Sie – der Krisenstab – opferten einen der Ihren, »nur« weil sie von vornherein auf eine rein militärische Lösung zu setzen gewillt war und diese erzwingen wollte. Der RAF wird es kaum bewusst gewesen sein, dass Schleyer der Elite, seinen politischen Freunden als Gefangener der RAF nichts mehr wert sein würde.
Als Ausdruck eines historischen Momentes politischer und ethischer Schwäche, in dem das Militärische das Politische dominierte, sehe ich von heute aus auch die Erschießung Schleyers als Gefangenen der RAF, trotzdem er Mitglied der NSDAP, Mitglied der SS war und es dessen Job war, 60 Kilometer entfernt vom KZ Theresienstadt die Industrie des von den Nazis besetzten Tschechien in die deutsche Kriegswirtschaft zu integrieren. Der mitverantwortlich war für die Überführung Zehntausender Menschen in Zwangsarbeit und Vernichtung in den KZ – auch Auschwitz – und schließlich oberste Instanz des Ausbeutungsregimes der BRD und Boss der Bosse. Falsch, weil er Gefangener der RAF war. (…)
Siegfried Buback war auf militärisch-justizieller Ebene der Exekutor mit NSDAP-Vergangenheit einer faschistoiden Methodik der Aufstandsbekämpfung. Er war sozusagen der General einer Elite, die einen staatsterroristischen Umgang gegen die Gefangenen praktizierte.
Die RAF wollte dem eine Grenze setzen, so sagten es die, die das Attentat gegen Buback zu verantworten hatten. Sie wollten zudem mit der Grenze, die sie mit dem Attentat gegen Buback zu erreichen suchten, der faschistoiden Aufstandsbekämpfung und der Kill-Fahndung der 70er Jahre, der Tötung der teilweise nicht mal Bewaffneten und auch Wehrlosen während der Fahndung der 70er Jahre und der Realität des faschistoiden Haftregimes in den westdeutschen Knästen – ein Kräfteverhältnis für die weitere Offensive zur Befreiung der Gefangenen aufbauen. Es ging darum, eine staatsterroristische Logik zu durchbrechen. Nichtsdestotrotz machte die RAF dabei politische Fehler, die sie ihrer Legitimation beraubten. Sie setzte das Militärische vor das Politische, was zu ihrer Niederlage führte.
Ich kann mich mit dem Kontext, in dem die RAF Buback tötete, nur auseinandersetzen und erkenne, dass die Frage der Legitimation kaum allgemeingültig beantwortet werden kann. Ich sage nicht mehr – das ist eine Konsequenz aus Deinem Brief –, es war legitim. Ich möchte die Frage der Legitimation weder bejahen noch verneinen. Es wäre ohnehin eine Frage der Perspektive. Ich kann mich nur damit auseinandersetzen, wie sich das Attentat gegen Buback im historischen und gesellschaftlichen Kontext erklärt, und stelle dabei fest, dass es aus der gesellschaftlichen Realität der damaligen Zeit und in einem gesellschaftlichen Verhältnis dazu entstand und aus dem Versuch einer Perspektive der Selbstverteidigung erwuchs. Das unterscheidet meines Erachtens diesen Akt des Äußersten von dem Attentat gegen Deinen Vater.
Tragische Begleiter
Ich möchte mich auch nicht vor die Familien seiner im Attentat getöteten Begleiter stellen und ihnen sagen, es war legitim. Es würde der politischen und ethischen Komplexität dieses Aktes nicht entsprechen. Ich denke, dass es ein großes Problem aller Revolutionsversuche gewesen ist und immer bleiben würde. Im Attentat gegen den Zaren im ausgehenden 19. Jahrhundert starb mit dem Zaren der Kutscher des Zaren. Der Fahrer des SS-Führers Heydrich überlebte das Attentat auf seinen Chef verletzt und nur durch Glück. Der Fahrer des spanischen Faschistenführers Carrero Blanco starb mit diesem zusammen. Bei jedem der beiden Attentatsversuche auf Hitler wäre im Falle des Gelingens eine Reihe Menschen gestorben. Ich weiß dafür keine Lösung, die ich als richtig ansehen könnte. Es ist bedauerlich – und das meine ich nicht als hohle Phrase –, dass auch die Begleitung Bubacks ums Leben kam. (…)
Das Attentat auf Buback kann ich nur in den historischen Kontext einzuordnen versuchen. Die Tötung seiner Begleiter ist per se ein Moment des Falschen und bleibt als nicht aufzulösender Widerspruch zurück. Es war – und ist – am Ende immer auch ein Moment des Tragischen im Tod eines jeden Menschen und auf allen Seiten, die/der* in diesem und in einem solchen Konflikt umkam.
Die Frage, die Du thematisierst, ab wann hätte erkannt werden können, dass Attentate in der zurückliegenden Geschichte aus linksradikaler Perspektive kein Fortkommen bringen würden – ich würde dazu sagen: Auch wenn die Attentate von 1979 bis 1991 unterschiedlich zu bewerten und einzuordnen sind, waren sie ab 1979 Ausdruck der Fortführung strategischer Fehler von 1977. Eine Analyse der Niederlage von 1977 hätte zu einer anderen Strategie und damit zu einer anderen Praxis führen müssen. Insofern würde ich sagen, dass die RAF nach ihrer Niederlage von 1977 hätte erkennen müssen, dass das, was dann ab 1979 zur »Attentatspolitik« der 80er Jahre wurde, für die Metropolensituation keine Perspektive der Befreiung beinhalten würde und ein Fortkommen damit nicht zu erwarten gewesen wäre. (…)
Dein Vater war Mitarbeiter bzw. Diplomat des Außenministeriums dieser Zeit und in dieser Funktion in politischen und internationalen Gremien für das Auswärtige Amt tätig. Da die RAF jegliche Politik auf dieser Ebene der »imperialistischen Kriegsstrategie« subsumierte, war in dieser Sichtweise jede/r*, der/die* darin arbeitete, Teil der imperialistischen Kriegführung und konnte somit zum Ziel eines Angriffs der RAF werden.
Die RAF der 1980er Jahre verortete sich und ihr Handeln im Krieg und Befreiungskrieg, was mit der Situation der Metropolengesellschaft aus meiner Sicht zu dieser Zeit kaum etwas zu tun hatte. Sie übertrug die Kriegssituation der Befreiungsbewegungen des Trikonts auf die Metropole. (…)
Sie sah auch höhere Angestellte bzw. Diplomaten der Verwaltungs- und der nachgeordneten Regierungsebene als Kriegsbeteiligte. Also auch jene, die in den politischen Prozessen arbeiteten, aber nicht ihre eigentlichen – zumindest nicht strategischen – Entscheider*innen oder primären Profiteur*innen davon waren. Durch die Verortung dieser Ebene als politische Ebene, die in der Kriegsoffensive gegen die Seite der Befreiung eingebunden gewesen sei, sah sich die RAF zu dem Attentat gegen Deinen Vater legitimiert.
Ihre – von heute aus gesehen – wenig treffende Analyse über den Zustand der ökonomischen Entwicklung und der angeblichen politischen Instabilität des imperialistischen Systems, das sie zu jener Zeit ins Wanken hat kommen sehen, führte sie an, um sich auf militärische Schläge und Attentate zu konzentrieren, und blieb dabei ohne Konsequenz aus der Niederlage von 77, in der die RAF das Militärische vor dem Politischen geführt hatte. Sie begriff die ökonomische Entwicklung des Übergangs vom Keynesianismus zum Neoliberalismus als Kriegsökonomie eines instabilen Systems. In der historischen Realität hingegen gelang dem sich globalisierenden Kapital der Prozess der Umstrukturierung ganz vortrefflich. Es rüstete zudem die Sowjetunion in den Exitus. Kohl und Herrhausen besiegelten schließlich mit Gorbatschow in der zweiten Hälfte der 80er Jahre das Ende des 1917 begonnenen sozialistischen und im »Realsozialismus« geendeten Versuchs.
Die falsche Wahrnehmung der Entwicklung des Imperialismus als instabil und die Interpretation der systemischen Strategie als reine Kriegsstrategie, als »Gegenoffensive« und als »Krieg« verleitete sie, dort weiterzumachen, wo die RAF bereits 77 einen strategischen Fehler gemacht hatte. (…)
Keine revolutionäre Legitimation
Dabei thematisierte sie mit ihrem Frontkonzept keinen Weg, keine Praxis und kein Konzept, wie andere Teile der Gesellschaft erreicht werden könnten. Sie griff keine gesellschaftlichen Widersprüche auf, um diese zum Bruchpunkt zu machen oder auch um Beziehungen jenseits der Frontvorstellung herzustellen. Gesellschaftliche Widersprüche wie das Ausbeutungsverhältnis oder andere Widersprüche waren jenseits der Abstraktion kein Thema mehr. Sie beschritt keinen Weg, der danach suchte, einen Keil zwischen Beherrschte und Herrschende zu treiben. Sie hatte kein gesellschaftliches nicht abstraktes Gegenüber. Weder das Proletariat anderer Stadtguerillas Europas noch ein anderes. Sie richtete sich jenseits der Abstraktion ausschließlich an die, die mit ihr kämpften oder mit der Frontvorstellung sympathisierten. Sie setzte vollständig auf Polarisierung innerhalb der radikalen Linken. Sie blieb mit ihrer Frontkonzeption gesellschaftlich vollständig und innerhalb der Linken weitgehendst isoliert. (…)
Die RAF neigte im Laufe der 80er Jahre dazu, das oder den Angegriffene/n maßlos zu überhöhen. Dein Vater wurde vom Diplomaten des Auswärtigen Amtes und hohen Beamten des politischen Verwaltungsapparates in der Darstellung der RAF von 1986 zu einer der »zentralen Figuren der Vereinheitlichung der westeuropäischen Politik im imperialistischen Gesamtsystem« stilisiert. Ich sehe in dieser die Bedeutung des Angegriffenen übertreibenden Darstellung deutliche Zeichen des Kaschierens der eigenen politischen Schwäche und der ihrer Praxis. (…)
Ich möchte Dir sagen, dass in allen Diskussionen über die Geschichte der 1980er Jahre, die ich kenne oder von denen ich gehört habe, niemand an dem Attentat gegen Deinen Vater irgend etwas richtig fand, nichts oder nichts mehr darin sah, was rückblickend für den Befreiungskampf hätte einen Sinn haben können, und es niemanden gab, der es legitim fand.
Ich sehe, dass die Ermordung Deines Vaters Trauma und Schmerz in Dein Leben gebracht hat. Dem steht keine revolutionäre Legitimation gegenüber. Keine, die ich von heute aus nach Kriterien einer Sinnhaftigkeit für die Geschichte des Befreiungskampfes sehen könnte. (…)
Die RAF der 90er Jahre brauchte – im Moment des Epochenbruchs ab 1989: einer Zeit großer Unwägbarkeiten, des aufkommenden Nationalismus der Eliten und der Massen der Bevölkerung in Ost und West – noch bis 1992, um zu entscheiden, dass Attentate in der gesellschaftlichen Realität dieser Zeit Prozesse nicht voranbringen würden. Sie entschied 1992, dass es Zeit für eine Transformation der Stadtguerilla sei.
Zuvor hatte sie das Jahrzehnt 1990 mit einem politisch abwegigen und subjektivistischen Attentatsversuch begonnen. Sie fand danach zurück zu der Möglichkeit einer den gesellschaftlichen Verhältnissen entsprungenen, politischen und militanten Praxis einer Stadtguerilla. Sie richtete sich im gesellschaftlichen Kontext gegen den imperialistischen Krieg, zerstörte ein Instrument der Repression und Disziplinierung und suchte das erste Mal seit ihrer Entstehung am Anfang der 70er Jahre wieder nach einem Weg, der die ökonomischen Produktions- und Ausbeutungsverhältnisse im Kapitalismus thematisierte und andere in der Gesellschaft, die von diesen Verhältnissen betroffen waren, erreichen sollte. Die RAF als Beitrag zum Versuch der Befreiung endete nach ihrer Rückkehr zur notwendigen Einheit des Sozialrevolutionären und des Internationalismus wieder im gesellschaftlichen Verhältnis jenseits des Subjektivismus.
Am Ende erschöpfte die RAF an sich selbst.
Nachhaltige Niederlage
Sie kam zum Ende ihrer Zeit in einer Zeit der tiefgreifenden und nachhaltigen Niederlage der gesamten, radikalen Linken, deren politisches Versagen es meines Erachtens in dieser Zeit war, ab 1989 keinen radikalen und praktischen Widerspruch zur Einverleibung des realsozialistischen Staates in die Welt der vollkommenen Verwertung des Menschen durch das Kapital gesucht zu haben. (…)
Du siehst in der Möglichkeit, dass man Irrtümer erst nachträglich erkennt, einen Grund, der bewaffnet Kämpfende zum Zögern vor dem äußersten Akt bringen sollte? Dass es sie vor dem äußersten Akt – einer Auslöschung von Menschenleben – zurückschrecken lassen sollte?
Ich bin entschieden Deiner Meinung und ganz bei Dir, dass auch ein Zögern und Zurückschrecken davor in revolutionären Zeiten eine mögliche Konsequenz aus der Geschichte wäre. Attentate in nichtrevolutionären Zeiten sind für mich von heute aus nicht vorstellbar. Auch das sehe ich als Konsequenz der geschichtlichen Erfahrung.
Historisch kommen wir und schreiben wir uns aus unterschiedlichen und sich überschneidenden Perspektiven, und ich kann mir vorstellen – oder es ist das, was ich sehen möchte –, wir können dabei in der Hoffnung auf eine Perspektive der Befreiung und in der Gewissheit der Notwendigkeit des Zögerns und des Zurückschreckens vor dem Akt des Äußersten einen Weg gemeinsam gehen.
Ich danke Dir sehr für Deinen Brief und die Auseinandersetzung – auch mit dem Wunsch unserer Freiheit.
Es ist außerordentlich schade, dass Daniela Klette heute nicht direkter Teil unserer Auseinandersetzung sein kann, weil die staatliche Repression entschlossen ist, ihre Teilnahme an politischen Diskussionen nicht zuzulassen. Die deutsche Justiz praktiziert damit fortgesetzt eine Form der Isolations- und Sonderhaft. Auch daraus ergibt sich für mich die Forderung nach Freilassung von Daniela und allen anderen politischen Gefangenen sowie der Abschaffung des gesamten Gefängnissystems. Damit verbindet sich auch die Möglichkeit und Perspektive von kollektiver Diskussion der Widerstandsgeschichte durch die, die das möchten, und die, die mit dieser Geschichte aus unterschiedlichen Perspektiven Berührung hatten.
Ich bin mir sicher, dass Daniela unsere Auseinandersetzung wichtig ist und mir – und ich sage in Gewissheit: uns – unsere Auseinandersetzung, die Diskussion mit Dir viel bedeutet.
Ich verbleibe mit den besten Wünschen für Dich und herzlichen Grüßen – in der Hoffnung, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse sich ändern und es dann möglich sein wird, mit Dir auch auf einer persönlichen Ebene zu sprechen. Ich würde dann sehr gerne über vieles – auch das Erlebte, das, was die RAF mit Dir gemacht hat, und über das durch innergesellschaftliche Gewaltverhältnisse Erfahrene und diese selbst – sprechen wollen.
Burkhard Garweg
Tageszeitung junge Welt am Kiosk
Die besonderen Berichterstattung der Tageszeitung junge Welt ist immer wieder interessant und von hohem Nutzwert für ihre Leserinnen und Leser. Eine gesicherte Verbreitung wollen wir so gut es geht gewährleisten: Digital, aber auch gedruckt. Deswegen liegt in vielen tausend Einzelhandelsgeschäften die Zeitung aus. Überzeugen Sie sich einmal von der Qualität der Printausgabe.
links & bündig gegen rechte Bünde
Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.
Dieser Artikel gehört zu folgenden Dossiers:
Ähnliche:
- Odelyn Joseph/AP Photo/dpa04.10.2025
Mandat für US-Imperialismus
- Karl Schnörrer/Picture Alliance14.10.2017
Herbst und Frühling
- TT News Agency/Reuters08.10.2016
Nebulöse Angst vor Russland