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17.10.2025, 19:54:32 / Inland
Rote Armee Fraktion

Das falsche Primat

Die Rote Armee Fraktion setzte in den 1980er Jahren in Reaktion auf die Niederlage im »Deutschen Herbst« fälschlicherweise auf die militärische Konfrontation mit dem Staat. Über Attentatspolitik und nicht aufzulösende Widersprüche
Von Burkhard Garweg
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Mit ihrem letzten Anschlag, der Sprengung der JVA Weiterstadt, einem der modernsten Gefängnisbauten der BRD, der auch als Abschiebegefängnis genutzt werden sollte, suchte die RAF wieder einen Schritt zu den sozialen Bewegungen hin zu machen (Weiterstadt bei Darmstadt, 28.3.1993)

Wir dokumentieren im folgenden einen Brief Burkhard Garwegs an Caroline Braunmühl. Die Tochter des 1986 von der Roten Armee Fraktion (RAF) erschossenen Diplomaten Gerold von Braunmühl hatte im Januar 2025 auf eine Stellungnahme des ehemaligen RAF-Militanten zur Verhaftung Daniela Klettes (Taz, 21.12.2024) reagiert. Darin distanzierte sie sich von Äußerungen ihres Bruders Patrick und anderer Angehöriger von RAF-Opfern, die die Attentate der RAF entpolitisierten und lediglich aus einer strafrechtlichen Perspektive betrachteten. Obwohl sie um ihren Vater trauere, erkenne sie an, dass die Motivation der RAF »radikale(r) Widerstand gegen soziale Ungleichheit, Ausbeutung und Unterdrückung« gewesen sei (ND, 17.1.2025). Garweg antwortete darauf öffentlich und kritisierte die Geschichte der RAF, die sich nach dem sogenannten Deutschen Herbst 1977 zu sehr auf eine militärische Konfrontation eingelassen und sozialrevolutionäre Kämpfe vernachlässigt habe (ND, 24.3.2025). Eine Reaktion Braunmühls darauf erschien in Analyse & Kritik (AK, 20.5.2025). (jW)

Liebe Caroline,

ich habe mich sehr über Deinen Brief im AK des 20.5.25 gefreut.

Dein Leben, wie Du schreibst, ist durch das Attentat der RAF auf Deinen Vater mit dieser verbunden.

Es stellen sich Fragen nach dem Sinn oder der Legitimation solcher »Akte des Äußersten« als Teil einer politischen Geschichte und als Teil eines Revolutionsversuches. Es ergeben sich Fragen nach einer politischen Erklärung und historischen Einordnung.

Ich finde es bemerkenswert und interessant, dass Wera Figner, eine Sozialrevolutionärin aus Russland, die 1881 am Attentat auf den Zaren beteiligt war, bereits 1922 zum Teil ähnliche Fragen, wie die, mit denen wir uns auseinandersetzen, thematisierte. So sagt sie über ihre Zeit: »Der Terror (was in der heutigen Begrifflichkeit in einem emanzipatorischen Kontext dem militanten oder bewaffneten Kampf entsprechen würde, B. G.) war niemals ihr Selbstzweck. Es war ein Mittel der Verteidigung, des Selbstschutzes, mächtiges Instrument der Agitation, und wurde nur angewandt, wenn organisatorische Ziele erreicht werden sollten, (…) die alleine eine Umwälzung zwecks Übergabe der Macht an das Volk ermöglichen sollten. Im Herbst 1881 wurde die Zarentötung zu einer Notwendigkeit, zu einer brennenden Tagesfrage (…) Es gab einigen von uns den Anlass, Zarenmord und terroristische Tätigkeit fälschlich für unseren wesentlichen Programmpunkt zu halten.«

Revolutionär*innen setzen sich seit mindestens 130 Jahren mit zum Teil gleichen Fragen, die sich in ihrem Kampf ergeben hatten, auseinander. Destruktive Entwicklungen, die sich im Kampf der RAF ergaben, sind gewissermaßen ein alter Hut.

Revolutionäre Gewalt

Ich sprach von revolutionärer Gegengewalt und damit von revolutionärer Selbstverteidigung, weil ich davon ausgehe, dass revolutionäre Gewalt erst durch die Gewaltverhältnisse des Herrschaftssystems, die grundsätzlich gewaltförmigen Antworten des Herrschaftssystems auf Bewegungen, die dessen Aufhebung einfordern, und die Gewalt vielfältiger, innergesellschaftlicher Unterdrückungsverhältnisse notwendig wird. Revolutionäre Gewalt muss in einem gesellschaftlichen Verhältnis stehen.

Militante Aktionen, welcher Form auch immer, können eine mögliche Antwort auf Gewaltverhältnisse sein. Zugleich sind sie eine Möglichkeit kollektiver Subjektwerdung und der Selbstermächtigung der von Gewaltverhältnissen Betroffenen und gegen solche Verhältnisse Kämpfenden. Es könnte eine Möglichkeit sein, einen Keil zwischen Beherrschte und Herrschende zu treiben. Der Ausgangspunkt kann doch nur sein, etwas an den gesellschaftlichen Bruchpunkten und Unterdrückungsverhältnissen aufreißen zu wollen und andere mitzunehmen in dem Versuch, die Verhältnisse revolutionär umzuwälzen. Daran misst sich eine Praxis der Versuche emanzipatorischer Befreiung.

Meines Erachtens kam es durch eine eher militaristische Sichtweise in der Konzeption der 80er Jahre der RAF zu der Verselbständigung des Mittels bzw. seiner Form. Die Form dominierte vor dem Inhalt, der selbst abstrakt wurde und sich nicht mehr (selbst) erklärte.

Es ist eben auch eine Frage der Strategie und der Herangehensweise an Phasen des Befreiungskampfes auf dem Terrain der Metropole, ob man – wie die RAF der 80er Jahre – nur im militärischen Angriff das Primat der Praxis sieht, was in meinen Augen die Tendenz zum Militarismus von vornherein beinhaltet, oder in einer Propaganda der Tat – wie wir sie aus der Geschichte der anarchistischen Bewegungen kennen – eine mögliche Praxis sieht, mit der vor allem eine politische Wirkung erzielt werden soll. Auch die Kaufhausbrandlegung der späteren RAF-Militanten am Ende der 60er Jahre als militanter Ausdruck, eine Gesellschaft in Frage zu stellen, in der alles – auch das Leben selbst – zur Ware wird, oder die Aktionen der RAF 1972 gegen Polizeigebäude und Springer-Konzern sind Ausdruck einer Propaganda der Tat. Hingegen zeigt der Angriff auf das Headquarter der US-Armee in Heidelberg 1972 als Teil einer weltweiten politischen und militärischen Gegenwehr und als Teil des weltweiten Befreiungskampfes, dass ein Moment der militärischen Initiative einer Metropolenguerilla in einer konkreten Kriegssituation nichts mit Militarismus zu tun haben muss.

Es spricht doch für sich, dass wir noch 40 Jahre nach den Aktionen der RAF der 80er Jahre über deren politischen Sinn sprechen. Hingegen wenige diskutieren noch heute über das Warum und suchen nach einer politischen Erklärung der Aktionen der RAF von 1970 bis 1972. Warum griff die RAF während des Vietnamkrieges das Headquarter der US-Armee und den dortigen für den Vietnamkrieg wichtigen Computer an? Wieso griff die RAF den Springer-Konzern an, der die Revolte attackiert hatte, der mit seinen publizistischen Erzeugnissen bei der Ermordung von Benno Ohnesorg und dem Attentat auf Rudi Dutschke mitgeschossen hatte und der versuchte, eine ganze Gesellschaft ganz im Sinne einer noch vom Faschismus geprägten Mentalität und Elite zu manipulieren. Wieso attackierte die RAF Gebäude der Polizei, die mit harter Repression – auch mit Mord – gegen die Bewegung vorgegangen war? Alle diese Aktionen erklärten sich im historischen Kontext selbst. Das unterscheidet die Praxis der Anfänge der RAF und die der 80er Jahre grundlegend.

Es ist bei allem auch eine Frage der Plausibilität einer politischen Praxis im Kontext der Revolutionsversuche.

Attentate in der Geschichte des Feudalismus oder Faschismus waren natürlich plausibel und angesichts der offenen Gewaltverhältnisse ein legitimer Versuch, diese zu beenden und der Selbstverteidigung gegen Regime, die den fundamentalen Widerspruch gewalttätig zu unterdrücken und zu vernichten trachteten.

Feudalismus und Faschismus sind Systeme, die Herrschaft stark konzentrieren. Da können Attentate eine Notwendigkeit sein, im Versuch eine Form der Gewaltherrschaft zu beenden.

Du schreibst und ich sehe es genauso: »Ein politisch begründeter Mord kann aus meiner Sicht nur über seine absehbare Wirkung gerechtfertigt werden – so berechnend, so kalt das klingt – jedenfalls dort, wo es sich um politisch (Mit-)Verantwortliche für den Tod anderer Menschen handelt oder für die Gewaltsamkeit der Lebensbedingungen für die meisten Menschen auf der Welt. Dieses Aufrechnen darf sich aber meines Erachtens nur auf die Zukunft beziehen, das Verhindern oder Herbeiführen einer politischen Entwicklung.«

Die RAF begann mit dem, was in den 80er Jahren durch Dogmatismus zur »Attentatspolitik« wurde, 1977 mit dem Attentat auf Buback. Ich schrieb dazu: »Aus der Perspektive derer, die sich der Gewaltverhältnisse im Kapitalismus bewusst waren und die extreme, staatliche Gewalt der damaligen Zeit wahrnahmen oder davon betroffen waren, war dieser Akt eine Form legitimer Gegengewalt und Selbstverteidigung. Eine Negierung dieses Zusammenhangs kann die historische Realität keinesfalls erfassen.« Du fragst mich, wieso ich im Gegensatz zu meiner Kritik an der »Attentatspolitik« der RAF der 80er Jahre das Attentat auf Buback aus der Perspektive derer, die die staatliche Gewalt erfahren hatten, als einen Moment legitimer Selbstverteidigung beschrieb.

Was Du dazu sagst – ich denke, ich verstehe das sehr gut und bin ganz mit Dir –, Rache als Motiv wäre »viel zu nah an der individualisierenden Straflogik des Systems«, zeigt mir, dass eine größere Genauigkeit meinerseits notwendig ist, da ein Attentat eine gravierende und existenzielle, ja auch düstere Entscheidung ist.

Es ist notwendig, über den historischen Kontext zu reden und darüber, ob es eine Erklärung oder Absicht für ein Attentat gab, die plausibel erscheint oder eben nicht. Rache wäre kein plausibler Grund, wenn auch in der Perspektive auf die, die die Gewalt des Staates erfahren hatten, verständlich.

Attentate, wenn sie denn eine Berechtigung haben könnten, sollten eine Entwicklung in der Zukunft verhindern oder eine herbeiführen, wie Du sagst. Letzterem, dem Herbeiführen einer Entwicklung, würde ich hinzufügen, sie könnten das möglicherweise und von heute aus betrachtet nur in gesellschaftlich revolutionären Situationen und Entwicklungen. Es wäre dann eine Frage der absoluten und unausweichlichen Notwendigkeit einzelner Momente, in denen es die einzige Möglichkeit wäre, entscheidende Schritte im vorangeschrittenen Prozess gesellschaftlicher Befreiung zu erreichen.

Die RAF entstand 1970 im Kontext weltweiter, antikolonialer, antiimperialistischer, antirassistischer und antipatriarchaler Aufstände und Revolutionsversuche. Sie entstand aus der Erkenntnis, dass Widerstand an der Seite der Kolonialisierten und um Befreiung Kämpfenden gegen die kolonialen und imperialistischen Verbrechen des westlichen Staatensystems gerechtfertigt, notwendig und richtig sei.

Für einen großen Teil privilegierter, weißer Metropolenbewohner*innen und für die dortigen Eliten sind die historischen Abschnitte der 50er, 60er, und 70er Jahre Zeiten der »Demokratie«. Für die Kolonialisierten der Erde, die Kolonialismus mit Formen der Sklaverei und mit Millionen Menschenleben bezahlen mussten, und für die von Rassismus in den Metropolen Betroffenen – wie z. B. in den USA –, die von Staat und Mehrheitsgesellschaft angegriffen und unterdrückt wurden (und werden), war es eine historische Epoche (auch) von Faschismus und Kolonialismus. Ein Dualismus, der entgegen der Sichtweise der Privilegierten oder diesen Akzeptierenden die gesamte Epoche der bürgerlichen Demokratie bis zum heutigen Tag beschreibt. So ist heute z. B. das israelische Gesellschaftssystem der Gegenwart für einen großen Teil der privilegierten Bevölkerung westlicher Metropolen und deren Eliten die einzige Demokratie des Nahen Ostens. Die Bevölkerung in Gaza, die Mehrheit der Bevölkerung der Westbank, der Flüchtlingslager im Libanon, Syrien und Jordanien, die in alle Welt geflohene Palästinenser*innen, die palästinensische Bevölkerung Israels sowie eine Minderheit jüdischer Israelis nehmen ihre Lebensrealität der durch die israelische Regierung praktizierten Form der Herrschaft auch vermittelt durch deren Militär sowie durch die Ungleichbehandlung nach ethnischen Prinzipien als Faschismus, Kolonialismus und Apartheid wahr. Sie nehmen folglich die Eliten der NATO-Staaten – allen voran der Deutschlands – als Mittäter*innen, Kompliz*innen, Waffenlieferanten, bedingungslose Unterstützer*innen und Profiteure des Genozids wahr.

Dieser Dualismus der »kreuz und quer zueinander liegenden Achsen« der Unterdrückungs- und Machtverhältnisse ist Teil des zugrunde liegenden Wesens der bürgerlichen Demokratie.

Die Elite Deutschlands, die politische Führung, sowie deren militärische und polizeiliche Führung standen in der Mehrheit fest an der Seite der Mörder aus den Reihen westlicher Regierungen und Geheimdienste, der Polizei, der Militärs, der Diktaturen und Faschisten, die Patrice Lumumba, Salvador Allende, Steve Biko, Martin Luther King, Fred Hampton und unzählige weitere ermordeten.

Die Revolte von 1968 und die RAF stellten sich unmissverständlich auf die Seite der Mehrheit in der Welt, die sich aus Kolonialismus und Sklaverei zu befreien versuchte.

Die RAF entstand aus dem innergesellschaftlichen Aufstand der 68er-Revolte, der gegen die auch personifizierte Kontinuität des NS-Faschismus in der postfaschistischen BRD revoltierte. Die Macht und der Besitz der Klasse der Kapitalist*innen und NS-Täter*innen, z. B, der Krupps, hatten Bestand im NS-Staat wie auch im BRD-Staat – was diesen grundlegend von der DDR unterschied.

Es war auch ein kulturrevolutionärer Aufstand gegen eine vom Nationalsozialismus geprägte Gesellschaft, in der Anpassung, Gehorsam und Einfügen in ein auch autoritäres System der Verwertung der Menschen für Kapitalinteressen die einzige mögliche Form zu Leben sein sollte. Gesellschaftlich waren in den 50er, 60er und 70er Jahren ein »Mit euch hätte Adolf kurzen Prozess gemacht« in vielen Orten mehrheitsfähig und virulent wie auf der anderen Seite die Infragestellung von Kapitalismus und die Vorstellung revolutionärer Transformation.

Die Ermordung Benno Ohnesorgs 1967 durch die Polizei war Ausdruck der Repression eines Staates, dessen Repräsentanten in großen Teilen in Kapital und Politik und auf allen Ebenen der Institutionen der Justiz, der Geheimdienste, der Polizei und der Regierung ihr Handwerk im NS-Faschismus gelernt hatten und in der BRD nahtlos und reibungslos fortführten. Faktisch waren es in großen Teilen alte Nazis, die das Sagen hatten oder den Polizeiknüppel schwangen. Wer sich nicht integrieren wollte, wurde niedergeknüppelt, zu Tausenden inhaftiert oder mit Berufsverboten belegt. Der Staat bekämpfte die Revolte sowohl mit Repression als auch mit Integrationsangeboten, was zu ihrem Rückzug und ihrer Auflösung führte.

Die »Bewegung 2. Juni« und die RAF versuchten diesen Niedergang zu Gunsten einer revolutionären Entwicklung aufzuhalten. An eine nur legal oder unbewaffnet zu erreichende Transformation der Verhältnisse war auch angesichts der Brutalität und des Grades der Repression des postfaschistischen BRD-Staates nicht zu denken.

Die Diskussionen relevanter Teile der Bevölkerung in der BRD und in allen westlichen Metropolen über eine revolutionäre Transformation und die Frage der Notwendigkeit bewaffnet und militant kämpfender Organisationen war eine Diskussion um revolutionäre Selbstverteidigung und Gegengewalt. Sie wurden als Notwendigkeit und Antwort auf die Brutalität und Gewalttätigkeit der Herrschenden in den westlichen Metropolen auf die protestierenden und revoltierenden Bewegungen und im Hinblick auf die Gewalt des westlichen Imperialismus und Kolonialismus diskutiert.

Ausufernde Repression

Die Feststellung, der erste Schuss wurde durch den westdeutschen Staat aus der Waffe der Polizei abgefeuert und ermordete Benno Ohnesorg, spricht über viel mehr als diesen Akt des 2. Juni 1967. Es erzählt vom Lauf der Geschichte der Revolte von 68 und der Entstehung des bewaffneten Kampfes im postfaschistischen BRD-Staat seit dem Ende der 60er Jahre.

Erst Gewalt in den gesellschaftlichen und systemischen Verhältnissen wie auch die Gewalt der Repression hat Menschen über Jahrhunderte zu Gegengewalt gebracht. Sie, die revolutionäre Gewalt, kann nur als Notwendigkeit der Gegengewalt existent sein und ist immer auch eine Reaktion auf Gewaltverhältnisse.

Es war ein historischer Moment am Ende der 60er und Beginn der 70er Jahre, als aus der Revolte bewaffnet und militant kämpfende Gruppen entstanden. Es gab unterschiedliche Vorstellungen von bewaffnetem Kampf. Wohl keiner dieser Versuche revolutionärer Strategien war fertig entwickelt, was sie zu dieser Zeit auch nicht hätten sein können. Sie waren angemessen offen, suchend, internationalistisch und sozialrevolutionär.

Ihre Hoffnungen verknüpften sich mit den Kämpfen des Vietcong, der Tupamaros in Uruguay, wie auch der Black Panther und des Weather Underground in den USA, des ANC in Südafrika oder der PFLP Palästinas. Die, die sie erreichen wollten, waren die Reste der 68er-Revolte: die, die sich für den Weg in die kommunistischen Gruppen entschieden hatten. Die, die als Anarchist*innen, radikale Feminist*innen oder Spontis von der Bewegung übriggeblieben waren. Die an den Rand der Gesellschaft Gedrängten und subproletarisch Genannten. Die, die erkannt hatten, dass die kapitalistischen Verhältnisse sie krank gemacht hatten. Die, die in den Niederungen westdeutscher Heime der damaligen Zeit aufzuwachsen gezwungen waren, und die sich in dieser Zeit der Revolte zuwendenden Lehrlinge und Jugend. Die RAF suchte in dieser Zeit nach einem antiimperialistischen und klassenkämpferischen Konzept, die Ausgebeuteten zu erreichen. Von diesen zeichnete sich gesellschaftlich ab, dass sie der Revolte entfernt bleiben würden. Historisch ist für diesen Umstand die Zerschlagung des proletarischen Widerstandes durch den Nationalsozialismus in den 30er Jahren ein Faktor. Die RAF führte dies in den Auseinandersetzungen ab Mitte der 70er Jahre in das strategische und folgenschwere Dilemma, sich vom sozialrevolutionären Aspekt des Kampfes zu lösen und den Befreiungskampf im Antiimperialismus zu verengen.

1973 war die RAF zerschlagen. Das Projekt RAF war damit faktisch beendet.

Es war der Staat, der, trotzdem die RAF zerschlagen war, den Krieg in den Gefängnissen führte und dort ein Element des Faschismus, eine auf Vernichtung des Gegners angelegte Haft innerhalb der bürgerlichen Demokratie zur Anwendung brachte. Es war faschistoid, was der Staat mit den Gefangenen vollzog – ohne dass diese seit 1973 noch Geiseln gegen eine existierende, revolutionäre Gruppe draußen gewesen wären. Es existierte ein von der regierenden Elite gewolltes und angeordnetes Haftregime, das auf Vernichtung – sei es psychisch oder physisch – oder Unterwerfung setzte.

Es war genau diese Repression, die ja überhaupt zur Neuentstehung der RAF führte. Die RAF hatte 1975 und 1977 kein Konzept für einen revolutionären, bewaffneten Kampf. Die Bedingungen hatten sich gesellschaftlich bereits stark verändert. 77 war kaum noch etwas übrig von den revolutionären Ideen der Revolte von 68.

Die gezielte Ermordungen von Holger Meins 1974 und Siegfried Hausner 1975 durch die Repression des BRD Staates, der Tod von Ulrike Meinhof, die Tatsache, dass der BRD-Staat nach dem NS-Faschismus wieder Gefangene zu liquidieren bereit war, die auf Vernichtung angelegten »Sonderhaft«-Bedingungen und die Erkenntnis, dass die Möglichkeiten eines legalen Protestes und Widerstands an eine Grenze gelangt waren, d. h. eine Änderung der staatlichen Haltung mit legalen Mitteln zu erzwingen aussichtslos war, führten 1975 und 1977 zu einer RAF, die die Befreiung der Gefangenen zum Ziel hatte. Der westdeutsche Staat trägt auch mit dem damaligen Staatsterrorismus eine offensichtliche Verantwortung für die Situation 1975–77.

Es war der Staat, seine Polizei und Justiz, der seit dem 2. Juni 1967 begonnen hatte, Menschen umzubringen, die wehrlos waren, die zum Teil unbewaffnet waren oder nicht mal hätten wissen können, wieso sie ins staatliche Feuer gerieten. Sie nannten das in faschistischer Tradition »Putativnotwehr«. Es war nicht die RAF, die diese Form der Auseinandersetzung – die gezielte Tötung von Menschen – 1970 in die Realität brachte.

Der staatlichen Elite seit den beginnenden 1970er Jahren, den Entscheidern der Regierung Schmidt und den Entscheidern in den Repressionsapparaten – auch Buback – wird bewusst gewesen sein, dass sie mit der gesamten Repression gegen Revoltierende und mit ihrem staatsterroristischen Gebaren in Fahndung und Knästen eine existenzielle und bedrohliche Herausforderung für die, die sie in vielen gesellschaftlichen Bereichen angriffen, sein würden. Sie hatten Mitte der 70er Jahre – wofür der Tod von Holger Meins für viele stand – eine Situation zu verantworten, in der eine Änderung der lebensbedrohlichen Situation der Gefangenen legal zu erwirken aussichtslos erscheinen musste.

Stockholm 1975 war ein Versuch, Gefangene zu befreien, deren Leben nicht nur in der Wahrnehmung der neu formierten RAF, sondern der gesamten Linken und der linksliberalen Öffentlichkeit bedroht schien.

1975 wäre es für die Regierung möglich gewesen, in Verhandlungen mit dem »Kommando Holger Meins« der RAF zu treten, um Menschenleben in der Botschaft von Stockholm zu schützen. Schmidt setzte auf Härte, die militärische Logik und den starken Staat, was ihm wichtiger und näher war und ihm und einer autoritären Form des Regierens entsprach – wichtiger auch als das Überleben der Botschaftsangehörigen.

Die Diplomaten der Stockholmer Botschaft wären nicht gestorben, so falsch und bedauerlich deren Tötung durch die RAF war, wenn Schmidt und sein Krisenstab nicht besessen davon gewesen wären, den militarisierten Konflikt Stockholm 75 militärisch zu lösen – auch mit der Bereitschaft, Angehörige der deutschen Botschaft für die deutsche Staatsräson zu opfern.

Schleyer und Buback

1977 wäre es für den Staat natürlich möglich gewesen, trotz des fatalen Verlaufs der Offensive 77 zur Befreiung der Gefangenen das Leben von Schleyer zu priorisieren und zu schützen und mit den Stammheimern oder der RAF in Verhandlungen zu treten. Sie – der Krisenstab – opferten einen der Ihren, »nur« weil sie von vornherein auf eine rein militärische Lösung zu setzen gewillt war und diese erzwingen wollte. Der RAF wird es kaum bewusst gewesen sein, dass Schleyer der Elite, seinen politischen Freunden als Gefangener der RAF nichts mehr wert sein würde.

Als Ausdruck eines historischen Momentes politischer und ethischer Schwäche, in dem das Militärische das Politische dominierte, sehe ich von heute aus auch die Erschießung Schleyers als Gefangenen der RAF, trotzdem er Mitglied der NSDAP, Mitglied der SS war und es dessen Job war, 60 Kilometer entfernt vom KZ Theresienstadt die Industrie des von den Nazis besetzten Tschechien in die deutsche Kriegswirtschaft zu integrieren. Der mitverantwortlich war für die Überführung Zehntausender Menschen in Zwangsarbeit und Vernichtung in den KZ – auch Auschwitz – und schließlich oberste Instanz des Ausbeutungsregimes der BRD und Boss der Bosse. Falsch, weil er Gefangener der RAF war.

Jahrzehnte später ist es natürlich leicht zu sagen, es wäre richtig gewesen, die damaligen Militanten der RAF hätten die Situation nach der Erstürmung der »Landshut« und dem Tod von drei Gefangenen am 18. Oktober 1977 aus einer politischen und ethischen Sicht anders bewertet und anders entschieden. In der Gegenwart einer Realität und der Dynamik einer zugespitzten Situation ist immer alles anders. Heute gibt es die geschichtliche Erfahrung.

Schleyer starb als einer, der wie viele andere seiner Generation die Kontinuität der Elite des NS-Faschismus in der BRD verkörperte. Er starb in einem Konflikt, in dem ab 1967/68 die Revoltierenden die Legitimation dieser Kontinuität in Frage gestellt hatten und nicht bereit waren, diese als legitim anzuerkennen.

Schleyer starb stellvertretend für die aus dem Faschismus kommende Elite als überaus tragische Figur, der von seiner Klasse und seinen Freunden verraten und verkauft worden war.

Schleyer hätte überleben können, wenn der Staat nicht – seit 70 – auf eine rein militärische Lösung im Ansinnen der Vernichtung seines Gegners gesetzt hätte. Dafür stehen Schmidt und sein Ausnahmezustandsinstrument des Krisenstabes. Das ist historisch evident, auch wenn die Geschichtsschreibung von oben davon nichts wissen will. Natürlich hätten sie mit der RAF verhandeln können. Man hätte vieles verhandeln können, nicht nur die Freilassung, sondern auch die Haftbedingungen oder eine internationale Untersuchungskommission der selbigen. Andreas Baader hatte der Regierung mitteilen lassen, sie würden im Falle einer Einigung und ihrer Freilassung nicht zum bewaffneten Kampf in die BRD zurückkehren. Eine Einigung hätte für eine Fortexistenz oder mögliche Neubestimmung des Kampfes natürlich Folgen gehabt. Eine RAF, wie sie dann in den 80er Jahren mit allen Konsequenzen fortgelebt hat, wäre es jedenfalls mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht geworden. Bei allen Fehlern der RAF und ihrem Teil der Verantwortung für ihre Entscheidungen: Ich finde es auch heute noch Ausdruck der staatlichen Brutalität und ihrer faschistischen Kontinuität, dass sie Schleyer opferten, um »die Sache« militärisch zu lösen, so wie sie, die meisten Personen des Krisenstabes und des Großteils der Elite, es im Faschismus gelernt hatten.

Von der Mentalität der politischen und exekutiven Elite des Krisenstabes erzählt die Diskussion in ihrem Kreis um die Möglichkeit standrechtlicher und stündlicher Erschießungen von Gefangenen aus der RAF.

Dies alles war Ausdruck einer Politik des Auslöschungsverhältnisses gegen den inneren Feind, einer aus dem Faschismus transferierten Mentalität der militärisch gedrillten Härte, Ausdruck einer auch patriarchalen Form der Herrschaft und der Kontinuität der faschistischen Option innerhalb der bürgerlichen Demokratie.

Der staatliche Vernichtungswille gegen eine fundamentale Opposition seit 1967 setzte die Saat für Stockholm. Die fortgesetzte und auf militärische Lösungen zielende Härte der Regierung Schmidt, die 1975 ihre Botschaftsangehörigen für die deutsche Staatsräson zu opfern bereit war, setzte die Saat für den Versuch, die Gefangenen aus dem Haftregime 1977 zu befreien. Die Härte des temporären Ausnahmeregimes des Herbstes 1977, das beschlossen hatte, das Leben der Zivilist*innen in der »Landshut« zu gefährden und schließlich einen der Ihren – Schleyer – opferte, setzte das Verhältnis und die Voraussetzung für die RAF der 80er Jahre.

Bei allem wohl unvermeidlichem Hass auf die RAF der Angehörigen der von der RAF Getöteten und zugleich von staatlichen Institutionen für die Staatsräson geopferten Menschen der 70er Jahre – der Angehörigen des erschossenen Flugkapitäns der »Landshut«, Jürgen Schumann, der Angehörigen der in Stockholm erschossenen Diplomaten Heinz Hillegaart und Andreas von Mirbach, sowie der Angehörigen Schleyers –, vielleicht wäre in einer Sicht, die von einem gesellschaftlich offenen und ehrlichen Diskurs des Geschehenen geprägt gewesen wäre, nicht nur der Hass und die Abscheu jener Angehöriger auf die RAF eine naheliegende Reaktion gewesen, sondern auch das Bedürfnis jener Angehöriger, auf den jeweiligen staatlichen Trauerfeiern einem heuchlerischen und für die staatliche Gewalt verantwortlichen ExwWehrmachtsoffizier und Bundeskanzler Schmidt und Seinesgleichen die Augen auszukratzen. Aber eine dieser Hypothese zugrundeliegende Gesellschaft wäre nicht die BRD gewesen.

Siegfried Buback war auf militärisch-justizieller Ebene der Exekutor mit NSDAP-Vergangenheit einer faschistoiden Methodik der Aufstandsbekämpfung. Er war sozusagen der General einer Elite, die einen staatsterroristischen Umgang gegen die Gefangenen praktizierte.

Die RAF wollte dem eine Grenze setzen, so sagten es die, die das Attentat gegen Buback zu verantworten hatten. Sie wollten zudem mit der Grenze, die sie mit dem Attentat gegen Buback zu erreichen suchten, der faschistoiden Aufstandsbekämpfung und der Kill-Fahndung der 70er Jahre, der Tötung der teilweise nicht mal Bewaffneten und auch Wehrlosen während der Fahndung der 70er Jahre und der Realität des faschistoiden Haftregimes in den westdeutschen Knästen – ein Kräfteverhältnis für die weitere Offensive zur Befreiung der Gefangenen aufbauen. Es ging darum, eine staatsterroristische Logik zu durchbrechen.Nichtsdestotrotz machte die RAF dabei politische Fehler, die sie ihrer Legitimation beraubten. Sie setzte das Militärische vor das Politische, was zu ihrer Niederlage führte.

Ich kann mich mit dem Kontext, in dem die RAF Buback tötete, nur auseinandersetzen und erkenne, dass die Frage der Legitimation kaum allgemeingültig beantwortet werden kann. Ich sage nicht mehr – das ist eine Konsequenz aus Deinem Brief –, es war legitim. Ich möchte die Frage der Legitimation weder bejahen noch verneinen. Es wäre ohnehin eine Frage der Perspektive. Ich kann mich nur damit auseinandersetzen, wie sich das Attentat gegen Buback im historischen und gesellschaftlichen Kontext erklärt, und stelle dabei fest, dass es aus der gesellschaftlichen Realität der damaligen Zeit und in einem gesellschaftlichen Verhältnis dazu entstand und aus dem Versuch einer Perspektive der Selbstverteidigung erwuchs. Das unterscheidet meines Erachtens diesen Akt des Äußersten von dem Attentat gegen Deinen Vater.

Tragische Begleiter

Ich möchte mich auch nicht vor die Familien seiner im Attentat getöteten Begleiter stellen und ihnen sagen, es war legitim. Es würde der politischen und ethischen Komplexität dieses Aktes nicht entsprechen. Ich denke, dass es ein großes Problem aller Revolutionsversuche gewesen ist und immer bleiben würde. Im Attentat gegen den Zaren im ausgehenden 19. Jahrhundert starb mit dem Zaren der Kutscher des Zaren. Der Fahrer des SS-Führers Heydrich überlebte das Attentat auf seinen Chef verletzt und nur durch Glück. Der Fahrer des spanischen Faschistenführers Carrero Blanco starb mit diesem zusammen. Bei jedem der beiden Attentatsversuche auf Hitler wäre im Falle des Gelingens eine Reihe Menschen gestorben. Ich weiß dafür keine Lösung, die ich als richtig ansehen könnte. Es ist bedauerlich – und das meine ich nicht als hohle Phrase –, dass auch die Begleitung Bubacks ums Leben kam.

Ich bin mir sicher – und das zeigt mir auch Dein Brief –, es ist elementar für Prozesse der Befreiung, die Tötung von Begleiter*innen nicht zu begehen, wenn es irgendwie möglich ist, und es im Zweifel auch zu lassen. Es würde – bei rein theoretischer Betrachtung – immer darum gehen, keine weiteren Personen zu töten und auch unter größtem Druck, wie ihn die Militanten 1977 in Sorge um die Gefangenen hatten, solange zu warten, bis sie ihr Ziel erreichen könnten, ohne dass andere dabei zu Tode kommen. In der Geschichte durch die Jahrhunderte war es offensichtlich nicht immer möglich – sei es bei den leider fehlgeschlagenen Attentaten auf Hitler, der Tötung des Zaren oder dem Attentats gegen Carrero Blanco.

Es würde ein Problem in revolutionären Zeiten bleiben. Es bliebe ein nicht gänzlich zu lösende Frage.

Das Attentat auf Buback kann ich nur in den historischen Kontext einzuordnen versuchen. Die Tötung seiner Begleiter ist per se ein Moment des Falschen und bleibt als nicht aufzulösender Widerspruch zurück.

Es war – und ist – am Ende immer auch ein Moment des Tragischen im Tod eines jeden Menschen und auf allen Seiten, die/der* in diesem und in einem solchen Konflikt umkam.

Die Frage, die Du thematisierst, ab wann hätte erkannt werden können, dass Attentate in der zurückliegenden Geschichte aus linksradikaler Perspektive kein Fortkommen bringen würden – ich würde dazu sagen: Auch wenn die Attentate von 1979 bis 1991 unterschiedlich zu bewerten und einzuordnen sind, waren sie ab 1979 Ausdruck der Fortführung strategischer Fehler von 1977. Eine Analyse der Niederlage von 1977 hätte zu einer anderen Strategie und damit zu einer anderen Praxis führen müssen. Insofern würde ich sagen, dass die RAF nach ihrer Niederlage von 1977 hätte erkennen müssen, dass das, was dann ab 1979 zur »Attentatspolitik« der 80er Jahre wurde, für die Metropolensituation keine Perspektive der Befreiung beinhalten würde und ein Fortkommen damit nicht zu erwarten gewesen wäre.

Du schreibst, dass ich die Ermordung Deines Vaters 1986 in meiner Antwort auf Dich nur kurz thematisierte. Es stimmt: In meiner Antwort auf Dich habe ich das Attentat gegen Deinen Vater als nicht gerechtfertigt benannt, bin aber nicht weiter darauf eingegangen. Es hat den Grund, dass unsere Auseinandersetzung in einem öffentlichen Raum stattfindet, und ich fürchte darin nicht eine Kriminalisierung – von wem auch immer –, sondern eine propagandistische Instrumentalisierung durch staatliche Institutionen und mediale, interessengeleitete Geschichtsschreibung von oben.

Ich würde Dir einiges sagen oder Dich fragen und mit Dir darüber reden wollen, was persönlich wäre, das Innere und Deine oder meine Lebenswirklichkeit beträfe und hier draußen bleiben muss, und natürlich auch Fragen der Ethik und der Moral beträfe oder eine persönliche Empfindung zu den geschichtlichen Ereignissen.

Ich versuche Dir meine persönliche Sicht auf die politische Entscheidung und deren Gründe für das Attentat gegen Deinen Vater 1986 durch die RAF zu erklären und lande dabei unweigerlich in der Politik der RAF der 80er Jahre und dem gesellschaftlichen Kontext dieser Zeit.

Vorweg möchte ich Dir sagen, fortwährend meinerseits von Tötung statt Ermordung zu sprechen, wie Du zu Recht angemerkt hast – ich denke, es ist eine Form, distanzierter darüber zu reden, die ich nicht verteidigen möchte, es nur feststellen kann.

Du verbindest mit der Bezeichnung »Mord« in diesem Kontext als ein »dazustehen, dass es ein blutiger Akt ist – mit Konsequenzen nicht nur für die Ermordeten sondern auch für deren Umfeld. Der Gewaltcharakter von Gegengewalt darf nicht geleugnet und beschönigt werden.«

Ich denke, ich ziehe es vor, die Bewertung nicht so sehr durch den Begriff selbst zu vermitteln, sondern auf Grund seiner Vernutzung durch die bürgerliche Geschichtsschreibung und die Klassenjustiz durch eine Bewertung unabhängig von der Begrifflichkeit.

Mir ist wichtig, oder es ist auch etwas, worauf es mir ankommt: bewerten, möchte ich die Attentate, diese gravierenden, politischen Entscheidungen, wenn wir denn über sie reden, und nicht in einer Neutralität verbleiben. Ich sehe die Blutigkeit einer solchen Tat, berechtigt oder nicht und unabhängig von der geschichtlichen Epoche – die Brutalität und auch einen ethischen Widerspruch zu Befreiung, die in der politischen Entscheidung über Leben und Tod einer/s* anderen liegt, die grausame Unabänderlichkeit der Lebensauslöschung einer/s* anderen, das Trauma und den Schmerz, das sie in die Welt und in die der Angehörigen bringt. Deswegen ist es schlüssig und naheliegend, was Du von der RAF 1998 zitierst: »Unser Kampf – die Gewalt, mit der wir uns gegen die Verhältnisse stellten – hat eine schwerwiegende Seite. Auch der Befreiungskrieg hat seine Schatten. Menschen in ihren Funktionen für das System anzugreifen ist für alle Revolutionäre auf der Welt ein Widerspruch zu ihrem Denken und Fühlen – zu ihrer Vorstellung von Befreiung. Auch wenn es Phasen gibt, in denen das als etwas Notwendiges gesehen wird (…) Revolutionäre sehnen sich nach einer Welt, in der niemand darüber entscheidet, wer ein Recht auf Leben hat und wer es nicht hat.« Revolutionär*innen verabscheuen Gewaltverhältnisse und jede Gewalt und wollen nichts anderes als die Gewaltlosigkeit aller Verhältnisse. Wenn sie dennoch Akte der Gewalt vollziehen, kann es nur – im Bewusstsein eines elementaren Widerspruchs – Gegengewalt und Selbstverteidigung sein im Angesicht einer Unmöglichkeit, der Gewalt der Verhältnisse mit friedlichen Mitteln beizukommen.

Dein Vater war Mitarbeiter bzw. Diplomat des Außenministeriums dieser Zeit und in dieser Funktion in politischen und internationalen Gremien für das Auswärtige Amt tätig. Da die RAF jegliche Politik auf dieser Ebene der »imperialistischen Kriegsstrategie« subsumierte, war in dieser Sichtweise jede/r*, der/die* darin arbeitete, Teil der imperialistischen Kriegsführung und konnte somit zum Ziel eines Angriffs der RAF werden.

Die RAF der 1980er Jahre verortete sich und ihr Handeln im Krieg und Befreiungskrieg, was mit der Situation der Metropolengesellschaft aus meiner Sicht zu dieser Zeit kaum etwas zu tun hatte. Sie übertrug die Kriegssituation der Befreiungsbewegungen des Trikonts auf die Metropole.

Sie bezog sich z. B. auf die Situation in El Salvador, in der sich militärische Formationen gegenüberstanden, um zu begründen, dass es »konkrete Figuren, egal ob Soldaten oder Offiziere«, seien, die die Aufgabe hätten, »Revolutionäre zu vernichten« – »in El Salvador, Naher Osten oder der BRD«. Sie sah auch höhere Angestellte bzw. Diplomaten der Verwaltungs- und der nachgeordneten Regierungsebene als Kriegsbeteiligte. Also auch jene, die in den politischen Prozessen arbeiteten, aber nicht ihre eigentlichen – zumindest nicht strategischen – Entscheider*innen oder primären Profiteur*innen davon waren. Durch die Verortung dieser Ebene als politische Ebene, die in der Kriegsoffensive gegen die Seite der Befreiung eingebunden gewesen sei, sah sich die RAF zu dem Attentat gegen Deinen Vater legitimiert.

Ihre – von heute aus gesehen – wenig treffende Analyse über den Zustand der ökonomischen Entwicklung und der angeblichen politischen Instabilität des imperialistischen Systems, das sie zu jener Zeit ins Wanken hat kommen sehen, führte sie an, um sich auf militärische Schläge und Attentate zu konzentrieren, und blieb dabei ohne Konsequenz aus der Niederlage von 77, in der die RAF das Militärische vor dem Politischen geführt hatte. Sie begriff die ökonomische Entwicklung des Übergangs vom Keynesianismus zum Neoliberalismus als Kriegsökonomie eines instabilen Systems. In der historischen Realität hingegen gelang dem sich globalisierenden Kapital der Prozess der Umstrukturierung ganz vortrefflich. Es rüstete zudem die Sowjetunion in den Exitus. Kohl und Herrhausen besiegelten schließlich mit Gorbatschow in der zweiten Hälfte der 80er Jahre das Ende des 1917 begonnenen sozialistischen und im »Realsozialismus« geendeten Versuchs.

Die falsche Wahrnehmung der Entwicklung des Imperialismus als instabil und die Interpretation der systemischen Strategie als reine Kriegsstrategie, als »Gegenoffensive« und als »Krieg« verleitete sie, dort weiterzumachen, wo die RAF bereits 77 einen strategischen Fehler gemacht hatte.

Die Defensive der Befreiungsbewegungen in den voranschreitenden 80er Jahren und der sich seit Mitte der 80er Jahre abzeichnende Niedergang der Sowjetunion und damit der nunmehr drohende Durchbruch des Imperialismus verleitete sie, um so mehr an einer militaristischen Strategie festzuhalten.

Die RAF machte meines Erachtens nicht die Realität der gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern in den 80er Jahren Abstraktionen davon zur Grundlage ihrer Praxis.

Keine revolutionäre Legitimation

Dabei thematisierte sie mit ihrem Frontkonzept keinen Weg, keine Praxis und kein Konzept, wie andere Teile der Gesellschaft erreicht werden könnten. Sie griff keine gesellschaftlichen Widersprüche auf, um diese zum Bruchpunkt zu machen oder auch um Beziehungen jenseits der Frontvorstellung herzustellen. Gesellschaftliche Widersprüche wie das Ausbeutungsverhältnis oder andere Widersprüche waren jenseits der Abstraktion kein Thema mehr. Sie beschritt keinen Weg, der danach suchte, einen Keil zwischen Beherrschte und Herrschende zu treiben. Sie hatte kein gesellschaftliches nicht abstraktes Gegenüber. Weder das Proletariat anderer Stadtguerillas Europas noch ein anderes. Sie richtete sich jenseits der Abstraktion ausschließlich an die, die mit ihr kämpften oder mit der Frontvorstellung sympathisierten. Sie setzte vollständig auf Polarisierung innerhalb der radikalen Linken. Sie blieb mit ihrer Frontkonzeption gesellschaftlich vollständig und innerhalb der Linken weitgehendst isoliert.

Der Subjektivismus, der sich selbst – das heißt: alle (weltweit) antiimperialistisch Kämpfenden – in den Mittelpunkt stellte – nebst einem abstrakt gebliebenen internationalem Proletariat – führte sie dazu, keinen nachvollziehbaren Wert auf die Vermittelbarkeit ihrer Attentate und anderer Aktionen zu legen. Auch davon ist das Attentat gegen Deinen Vater geprägt.

Die Praxis der Stadtguerilla war auf militärische Schläge gegen die US-Armee, die als militärzentriert wahrgenommene Politik des BRD-Staates der damaligen Zeit bzw. den militärisch-industriellen Komplex konzentriert. Man wollte dem Feind – dem System und seinen Institutionen – schaden, es »zerrütten« oder »zersplittern«.

Sie hatte mit dem Frontkonzept jeden Ansatz aus der Hand gelegt, dass das wesentliche Ziel aller revolutionären Wege in der Metropole nur sein kann, jenseits der ohnehin Sympathisierenden andere mitzunehmen auf den Weg des radikalen und fundamentalen Widerspruchs, und daher ein Kampf um das Bewusstsein ist. Der revolutionäre und möglicherweise daraus folgende militante Kampf für Befreiung war und ist primär politisch. Das Militärische ist nur eine Möglichkeit, die dem Politischen folgen kann und nicht umgekehrt – ganz sicher in nichtrevolutionären Zeiten. Zeiten, in denen eine revolutionäre Umwälzung nicht möglich ist. Von einer anderen Sichtweise erzählt das folgende Zitat, was die RAF-Politik der 80er Jahre auf den Punkt bringt und zusammenfasst:

»Zwischen uns und ihnen ist Krieg! Das ist die Realität und unser Verhältnis, das Verhältnis des internationalen Proletariats zu ihnen«, erklärte die RAF 1986 – ganz im Sinne des Frontkonzepts vom Mai 1982.

Die RAF neigte im Laufe der 80er Jahre dazu, das oder den Angegriffene/n maßlos zu überhöhen. Dein Vater wurde vom Diplomaten des Auswärtigen Amtes und hohen Beamten des politischen Verwaltungsapparates in der Darstellung der RAF von 1986 zu einer der »zentralen Figuren der Vereinheitlichung der westeuropäischen Politik im imperialistischen Gesamtsystem« stilisiert. Ich sehe in dieser die Bedeutung des Angegriffenen übertreibenden Darstellung deutliche Zeichen des Kaschierens der eigenen politischen Schwäche und der ihrer Praxis.

Der Angriff gegen Deinen Vater war faktisch Ausdruck davon, dass sich die RAF legitimiert sah, im Rahmen der von ihr wahrgenommenen Konfrontation in einem Krieg nachgeordnete und nicht als strategische Entscheider*innen auftretende hohe Beamte des politischen Apparates anzugreifen, die als Diplomat*innen an den NATO-Strategien der Niederschlagung gegen Revolutionäre und Befreiungsbewegungen beteiligt gewesen seien. Das hätte dann theoretisch bedeutet, in einer nichtrevolutionären Situation breitere Teile der führenden Angestellten des Verwaltungs- und Politikbetriebs angreifen zu können. Das wären nicht wenige gewesen. Eine abwegige Vorstellung, die ganz einer Kriegslogik geschuldet war. Diese in großen Teilen abstrakte Kriegslogik einer voluntaristischen Wahrnehmung der Verhältnisse ist in meinen Augen ein wesentlicher Punkt, der zur Praxis der 80er Jahre und zu dem Attentat gegen Deinen Vater führte.

Das Attentat auf Deinen Vater war nicht Ausdruck davon, revolutionäre Verhältnisse gesellschaftlich voranbringen zu können. Es hätte keine gesellschaftlichen Widersprüche verschärfen können. Es ignorierte die Realität der gesellschaftlichen Verhältnisse.

Es konnte sich nicht selbst erklären, weswegen es außer der RAF und weniger anderer niemand verstand, die Möglichkeit einer Vermittelbarkeit zu keinem Zeitpunkt bestand und dadurch faktisch als Willkürakt zurückbleiben musste. Es erfüllte auch nicht die Bedingung einer revolutionären Selbstverteidigung, weil diese von der RAF seit 1982 nur auf einer abstrakten Ebene und im Gegenüber eines abstrakten Weltproletariats gedacht war.

Es war Ausdruck dessen, nicht zu berücksichtigen, dass Menschen zu töten, weil sie eine höhere Position im Verwaltungsapparat haben, falsch ist, weil diese Personen sich in revolutionären Zeiten erst noch werden entscheiden können müssen, auf welcher Seite der Barrikade sie dann stehen werden.

Ulrike Meinhof sagte: »Der Bulle, der uns laufen lässt, den lassen auch wir laufen.« Sie sagte das, weil es in einem revolutionären Prozess jenseits einer möglichen Selbstverteidigung nicht darum geht, Polizist*innen zu töten. Das wäre eine militärische Auseinandersetzung, die wir von vornherein nur verlieren können.

Es geht in den Prozessen der Befreiung nicht primär um Personen, sondern um Bedingungen wie die kapitalistischen Produktionsverhältnisse als eine Ursache für Unterdrückungsverhältnisse.

Das Ende des kapitalistischen Systems wird nicht über die Tötung der Kapitalist*innen erreicht werden können, sondern primär, indem gesellschaftliche Verhältnisse erkämpft werden, in denen sich gesellschaftlich die Verweigerung, sich diesen Verhältnissen freiwillig zu unterwerfen, durchsetzt. Dies ist ein strategische Ziel einer auf Befreiung ausgerichteten Politik. Das wurde der Politik der 80er Jahre nicht zu Grunde gelegt.

Revolution ist auch ein Kampf der Revolutionär*innen mit sich selbst – ein Kampf gegen die Akzeptanz und für die Verweigerung der Verwertungs- und Ausbeutungsmaschinerie des Kapitalismus. Ein Kampf auch um und für kollektive Prozesse der Verweigerung, Verweigerung zu kollektivieren und gesellschaftlich durchzusetzen – am Ende – dann hätten wir deutlich revolutionäre Zeiten – auch der Verweigerung, Kapital zu produzieren. Erst sekundär könnte es auch um Fragen einer wie auch immer aussehenden revolutionären Notwehr oder Selbstverteidigung gehen gegen jene, die das zu verhindern suchen. Das ist auch das strategische Primat des Politischen vor dem Militärischen der Befreiungskämpfe. Ich sehe das Attentat der RAF gegen Deinen Vater dazu in einem Widerspruch. Ich sehe die gesamte Konzeption und Politik der RAF der 1980er Jahre dazu in einem strategischem Widerspruch.

Der revolutionäre Kampf ist bei aller notwendigen Militanz, bei aller Widrigkeit, bei aller systemischen Gewalt und bei allen auch bei sich selbst zu überwindenden, innergesellschaftlichen Machtgefällen und Gewaltverhältnissen ein Kampf für das Leben.

Ich möchte Dir sagen, dass in allen Diskussionen über die Geschichte der 1980er Jahre, die ich kenne oder von denen ich gehört habe, niemand an dem Attentat gegen Deinen Vater irgendetwas richtig fand, nichts oder nichts mehr darin sah, was rückblickend für den Befreiungskampf hätte einen Sinn haben können, und es niemanden gab, der es legitim fand.

Ich sehe, dass die Ermordung Deines Vaters Trauma und Schmerz in Dein Leben gebracht hat. Dem steht keine revolutionäre Legitimation gegenüber. Keine, die ich von heute aus nach Kriterien einer Sinnhaftigkeit für die Geschichte des Befreiungskampfes sehen könnte.

Das Jahrzehnt der 80er Jahre war gesellschaftlich durch die RAF, die Rote Zora, die RZ, die Kämpfenden Einheiten und die radikale Linke ein überaus militantes und widerständiges Jahrzehnt. Zugleich fehlte diesem Jahrzehnt und dieser Linken die revolutionäre Perspektive einer nicht nur militanten sondern auch revolutionären Bewegung in einer historischen Phase nicht- bzw. vorrevolutionärer Momente. Im nachhinein betrachtet waren die 80er Jahre in Westdeutschland ein Jahrzehnt der Revolten, in dem das Fenster der Revolution verschlossen war. Auch das waren prägende Kampfbedingungen für die RAF der 80er Jahre. Das unterschied die 80er Jahre grundlegend von den Jahren der Revolte 67 bis in die beginnenden 70er Jahre.

Die RAF war dabei historisch geleitet von einem Konfrontationsverhältnis mit einem Staat, der ihr gegenüberstand, der seit der Revolte der 68er klargemacht hatte, dass er eine fundamentale Opposition nicht akzeptieren würde und Wege zu deren Auslöschung zu seinem Wesen und seiner repressiven Praxis gehörte.

Die RAF war auch davon geprägt, dass sie ein staatliches Gegenüber hatte, dass die staatsterroristische Gewalt in den Knästen nach 1977 in den 80er Jahren nur noch weiter verschärft hatte, und das Elend der »Sonderhaft« der gefangenen Opposition war endlos.

Große Teile der BRD-Eliten, die bereits in der Nazizeit Verbrechen begangen hatten, waren in den 1980er Jahren im Aussterben oder altersbedingten Ausscheiden aus der Führung der Institutionen. Ihre maßgebliche Teilnahme am Aufbau der BRD nach 1945 und deren Transformation in das Zeitalter des Neoliberalismus war jenseits der Revolte, der radikalen Linken und des bewaffneten Dissens auch bis in die 1980er Jahre hinein gesellschaftlich nicht in Frage gestellt worden. Das Kampfterrain der RAF – auch der 80er Jahre – war von einer Gesellschaft geprägt, die es einst widerspruchsfrei zugelassen hatte, einen Filbinger zum Ministerpräsidenten gekürt zu haben und diesen akzeptiert hatte – jenen NS-Täter, der – wie viele – Teil der NS- und BRD-Eliten war und der noch am letzten Tag des NS-Regimes als NS-Richter einen Wehrmachtsdeserteur zum Tode verurteilte und das Erschießungskommando persönlich leitete. Die gesellschaftliche Akzeptanz gegenüber diesem bedeutsamen historischen Lauf und der bundesrepublikanischen Normalität und das Ansinnen der Geschichtsschreibung von oben brachte der Welt den – im übertragenen Sinn – Kniefall Ronald Reagans und Helmut Kohls an den Gräbern der SS-Verbrecher in Bitburg in der ersten Hälfte der 1980er Jahre. Auch dieses gesellschaftliche Verhältnis war prägende Kampfbedingung der RAF der 80er Jahre.

Die RAF war geprägt von Verhältnissen, die in der Tat eine fortschreitende große Tragödie für die Mehrheit der Weltbevölkerung darstellten. Die Welt der 1980er Jahre war geprägt von der globalisierten Durchdringung der Verwertung des Menschen für das Kapital und von der militärischen, politischen, ökonomischen und globalen Niederringung aller Versuche, eine Gegenwirklichkeit gegen Gewaltverhältnisse, Armut, Hunger, und Ausbeutung zu erreichen.

Trotz aller auch gravierender Fehler bleibt zurück, dass die Militanten der RAF der 80er Jahre versuchten, sich mit ihrer ganzen Existenz auf der Seite der weltweit Hungernden, Ausgebeuteten und Unterdrückten gegen den Prozess der fortschreitenden Gewaltförmigkeit und Brutalisierung der Verhältnisse im globalisierten Kapitalismus zu stellen.

Die RAF der 90er Jahre brauchte – im Moment des Epochenbruchs ab 1989: einer Zeit großer Unwägbarkeiten, des aufkommenden Nationalismus der Eliten und der Massen der Bevölkerung in Ost und West – noch bis 1992, um zu entscheiden, dass Attentate in der gesellschaftlichen Realität dieser Zeit Prozesse nicht voranbringen würden. Sie entschied 1992, dass es Zeit für eine Transformation der Stadtguerilla sei.

Zuvor hatte sie das Jahrzehnt 1990 mit einem politisch abwegigen und subjektivistischen Attentatsversuch begonnen.

Sie fand danach zurück zu der Möglichkeit einer den gesellschaftlichen Verhältnissen entsprungenen, politischen und militanten Praxis einer Stadtguerilla. Sie richtete sich im gesellschaftlichen Kontext gegen den imperialistischen Krieg, zerstörte ein Instrument der Repression und Disziplinierung und suchte das erste Mal seit ihrer Entstehung am Anfang der 70er Jahre wieder nach einem Weg, der die ökonomischen Produktions- und Ausbeutungsverhältnisse im Kapitalismus thematisierte und andere in der Gesellschaft, die von diesen Verhältnissen betroffen waren, erreichen sollte. Die RAF als Beitrag zum Versuch der Befreiung endete nach ihrer Rückkehr zur notwendigen Einheit des Sozialrevolutionären und des Internationalismus wieder im gesellschaftlichen Verhältnis jenseits des Subjektivismus.

Am Ende erschöpfte die RAF an sich selbst.

Nachhaltige Niederlage

Sie kam zum Ende ihrer Zeit in einer Zeit der tiefgreifenden und nachhaltigen Niederlage der gesamten, radikalen Linken, deren politisches Versagen es meines Erachtens in dieser Zeit war, ab 1989 keinen radikalen und praktischen Widerspruch zur Einverleibung des realsozialistischen Staates in die Welt der vollkommenen Verwertung des Menschen durch das Kapital gesucht zu haben. Distanziert, vor allem aber ohnmächtig, stellte diese Linke – damit ihrerseits insgesamt in Vollkommenheit subjektivistisch – kaum einen Bezug zu jenen Menschen in der sich im Untergang befindenden DDR her, die als große dortige Minderheit keineswegs dem Nationalismus verfallen waren, auf die D-Mark gerne verzichtet hätten und – wenn auch pessimistisch – noch auf eine Zukunft jenseits von Realsozialismus und Kapitalismus hofften. Die radikale Westlinke nahm vor allem die durch Realsozialismus geprägten, Deutschland-Fahnen schwingende Massen wahr. Die Kehrseite derselben Medaille wurde kaum beachtet: die proletarischen Massen, Akademiker*innen, Intellektuellen, Deklassierten und Verunsicherten, die als große Minderheit auf einen demokratischen oder libertären Sozialismus oder andere Vorstellungen der Emanzipation gehofft hatten. So konnte in dieser historisch einmaligen Situation die in Defensive und Bedeutungslosigkeit entschwindende Linke keine Alternative zu jener Einverleibung durch den Kapitalismus und den neuen deutschen Nationalismus aufzeigen. Eine Alternative, die wohl nur in einer antikapitalistischen, sozialrevolutionären, radikalen und zu Kämpfen bereiten Konfrontation mit den Verhältnissen und den Herrschenden hätte entstehen können. Die vergangene Epoche seit 1945 endete mit dieser tiefgreifenden Niederlage und dem Niedergang der gesamten radikalen Linken. Auch dies war eine – äußere, gesellschaftliche – Bedingung der damaligen Stadtguerilla und ihres Endes.

Heute sind wir erneut inmitten eines Epochenbruchs, der die Welt verändern wird. Es bleibt zu hoffen, dass im Angesicht dieses Epochenbruchs, der durch Kriege um Rohstoffe und Neuverteilung der Macht, Genozid, Klima-Overkill, Verarmung weiterer Teile der Weltbevölkerung – auch der reichen Metropolen – sowie die Erosion der westlichen Hegemonie gekennzeichnet ist, sich aus den Ruinen der Bedeutungslosigkeit eine sozialrevolutionäre, antipatriarchale, antikapitalistische, antimilitaristische und internationalistische Bewegung eines fundamentalen Widerspruchs neu formieren wird.

Für mich bleibt zusammenfassend zurück:

Fundamentaler Widerstand, der sich aus der Revolte von 1968 auch in Form der RAF entwickelt hatte, war eine plausible Reaktion auf die gesellschaftlichen Gewaltverhältnisse und die Verbrechen des Kolonialismus und Imperialismus.

Zugleich war dies historisch eine objektive Notwendigkeit im Rückblick auf das Versagen der Arbeiter*innenbewegung der 30er Jahre, die dem NS-Faschismus entwaffnet und weitgehendst wehrlos gegenübergestanden war.

Es war der Dissens zu einer gesellschaftlichen Mentalität, die vom Faschismus geprägt war, und eine Konsequenz im Kontext der Kontinuität der faschistischen Eliten in der BRD nach 1945.

Die Konfrontation der RAF von 1970 bis 1977 mit einer braun/schwarz/rot/goldenen vom NS-Faschismus in die BRD Demokratie transferierten Elite ist Spiegel dieses historischen Konfliktes.

»Sie werden uns umbringen«, schrieb Gudrun Ensslin nach der Ermordung von Benno Ohnesorg 1967. »Ihr wisst doch, mit was für Schweinen wir es zu tun haben – das ist die Generation Auschwitz, mit denen wir es zu tun haben. Man kann mit Leuten, die Auschwitz gemacht haben, nicht diskutieren. Die haben Waffen, und wir haben keine. Wir müssen uns bewaffnen.«

Die globalen, gefährlichen, bedrückenden und gewaltvollen Verhältnisse, die wir heute haben, zeigen, dass der Gedanke an eine Notwendigkeit fundamentalen Widerstandes seit 1967 bis in die 90er Jahre hinein von heute aus nachvollziehbar ist – angesichts der vom Kapitalismus ausgehenden Zerstörung und Gefahr für die Menschheit, der Tragweite der Gewaltverhältnisse und der daraus resultierenden Gewalttragödie für die Mehrheit weltweit, die das heutige Resultat der Geschichte und der systemischen und gesellschaftlichen Entwicklungen vergangener Jahrzehnte ist. Trotzdem wären – hypothetisch rückblickend – natürlich auch andere Konzepte fundamentaler Opposition für oder statt der RAF nach 1973, nach 1977 und nach 1989 möglich gewesen.

Fundamentaler Widerstand, der sich aus Revolte von 1968 entwickelte, bleibt als notwendiger Aufbruch und legitimer Bezugspunkt der weltweiten Widerstandsgeschichte zurück.

Es bleiben zugleich Lasten der revolutionären Geschichte und ihrer Protagonist*innen zurück. Diese Lasten zeigen die Tiefe der Bedeutung eines Bewusstseins historischer Fehler und der Einsicht in die politische, menschliche und ethische Tragweite eben dieser. Dies zu reflektieren ist ein wichtiger Bestandteil unserer Auseinandersetzung und der Versuch, der Geschichte habhaft zu werden – für die Verarbeitung des Vergangenen, auch im Hinblick auf zukünftige Prozesse der Befreiung. Denn die einzige Hoffnung auf ein Ende von Gewaltverhältnissen, Nationalismus, Krieg und Klimavernichtung liegt in der doch noch Entstehung eines geeigneten, fundamentalen, gesellschaftlichen Widerspruchs, in dem die Protagonist*innen befähigt sein werden, die notwendigen Konsequenzen aus den historischen Erfahrungen zu ziehen.

Eine Form der Wiederholung dieser Widerstandsgeschichte halte ich für ausgeschlossen. Sie gehört in die Koordinaten einer zurückliegenden Zeit. Geschichte wiederholt sich wohl ohnehin nicht – wenigstens nicht in den gleichen Formen.

Eine »Attentatspolitik« ist darüber hinaus meines Erachtens generell vollkommen abwegig, weil dies von einer strukturellen »Attentatspolitik« sprechen würde. Das wäre auch in revolutionären Zeiten abwegig, denn sie wäre dann nicht Ausdruck notwendiger und unabdingbarer einzelner Momente (oder eines einzelnen Momentes), die das Ergebnis aller Abwägungen wären und ein allerletztes Mittel des Äußersten als Selbstverteidigung eines Revolutionsversuches oder dessen Voranbringen.

Du siehst in der Möglichkeit, dass man Irrtümer erst nachträglich erkennt, einen Grund, der bewaffnet Kämpfende zum Zögern vor dem äußersten Akt bringen sollte? Dass es sie vor dem äußersten Akt – einer Auslöschung von Menschenleben – zurückschrecken lassen sollte?

Ich bin entschieden Deiner Meinung und ganz bei Dir, dass auch ein Zögern und Zurückschrecken davor in revolutionären Zeiten eine mögliche Konsequenz aus der Geschichte wäre. Attentate in nichtrevolutionären Zeiten sind für mich von heute aus nicht vorstellbar. Auch das sehe ich als Konsequenz der geschichtlichen Erfahrung.

Historisch kommen wir und schreiben wir uns aus unterschiedlichen und sich überschneidenden Perspektiven, und ich kann mir vorstellen – oder es ist das, was ich sehen möchte –, wir können dabei in der Hoffnung auf eine Perspektive der Befreiung und in der Gewissheit der Notwendigkeit des Zögerns und des Zurückschreckens vor dem Akt des Äußersten einen Weg gemeinsam gehen.

Ich danke Dir sehr für Deinen Brief und die Auseinandersetzung – auch mit dem Wunsch unserer Freiheit.

Es ist außerordentlich schade, dass Daniela Klette heute nicht direkter Teil unserer Auseinandersetzung sein kann, weil die staatliche Repression entschlossen ist, ihre Teilnahme an politischen Diskussionen nicht zuzulassen. Die deutsche Justiz praktiziert damit fortgesetzt eine Form der Isolations- und Sonderhaft. Auch daraus ergibt sich für mich die Forderung nach Freilassung von Daniela und allen anderen politischen Gefangenen sowie der Abschaffung des gesamten Gefängnissystems. Damit verbindet sich auch die Möglichkeit und Perspektive von kollektiver Diskussion der Widerstandsgeschichte durch die, die das möchten, und die, die mit dieser Geschichte aus unterschiedlichen Perspektiven Berührung hatten.

Ich bin mir sicher, dass Daniela unsere Auseinandersetzung wichtig ist und mir – und ich sage in Gewissheit: uns – unsere Auseinandersetzung, die Diskussion mit Dir viel bedeutet.

Ich verbleibe mit den besten Wünschen für Dich und herzlichen Grüßen –

in der Hoffnung, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse sich ändern und es dann möglich sein wird, mit Dir auch auf einer persönlichen Ebene zu sprechen. Ich würde dann sehr gerne über vieles – auch das Erlebte, das, was die RAF mit Dir gemacht hat, und über das durch innergesellschaftliche Gewaltverhältnisse Erfahrene und diese selbst – sprechen wollen.

Burkhard Garweg

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