Eiserne Sätze
Von Felix Bartels
Ding Dong, the witch is dead. Am 10. April 2013, zwei Tage nach dem Tod der eisernen Lady, gab die Official Charts Company in Großbritannien bekannt, dass sich ein 74 Jahre alter Song anschickt, die Top ten zu kapern. Komponiert war er bereits 1939 für »The Wizard of Oz«, gesungen von Judy Garland und Billie Burke. Margaret Thatcher, geboren am 13. Oktober 1925, zählte da 14 Jahre, der Ruf als »wicked witch« hing ihr, die zu dieser Zeit noch nicht mit Erlenmeyerkolben hantierte, geschweige denn einen Staat leitete, erst später an.
Der Zusammenhang zwischen dem Märchensong und der Premierministerin wurde indessen nicht erst nach ihrem Tod hergestellt. Die britische Popband Hefner besorgte das noch zu Lebzeiten. »The Day That Thatcher Dies« erschien im Jahr 2000, mit der sich wiederholenden Zeile »Ding Dong, the witch is dead« klingt er aus. Auch Hefners Song ging in den Tagen nach Thatchers Tod viral. »I was blind in 1979, / By ’82 I had clues, / By 1986 I was mad as hell« – die Band beschrieb den zähen Erkenntnisweg junger Menschen in einem politischen Klima, worin die Regierung, ihre höchst eigentümlichen Entscheidungen als alternativlos hinstellend, jegliche Diskussion über ihren Kurs abzustellen suchte. »The teachers at school, / They took us for fools, / They never taught us what we should do, / But Christ we were strong, / We knew all along, / We taught ourselves the right from wrong.« So »we will laugh the day that Thatcher dies, / Even though we know it’s not right«.
Worst of both worlds
Es gibt sympathischere Haltungen als Häme und Hass. Indessen wird man kaum leugnen können, dass Thatcher sich die Abneigung, die ihr zuteil wurde, hart erarbeitet hatte. Nicht allein durch den Charakter ihrer Klassenpolitik, die für große Teile der Bevölkerung schmerzhaft genug gewesen ist. Auch durch die apodiktische Rhetorik, mittels der jeder Anflug sozialer Gedanken als weltfremde Spinnerei weggewischt wurde, aufgehoben in jenem Satz, der uns hier, anlässlich Thatchers 100. Geburtstags, beschäftigen soll und in dem der innere Widerspruch des Thatcherismus, rücksichtslos partikulare Interessen zu vertreten nämlich und die zugleich als Konsequenz eines universellen, nachgerade objektiven Ansatzes hinzustellen, auf den Punkt gebracht war: There is no such thing as society, so etwas wie Gesellschaft gibt es nicht.
In der ersten Phase ihrer Regierung hatte Thatcher vor allem interne Kämpfe des Tory-Kosmos zu bewältigen. Als Frau in einem von Männern geprägten Milieu war das reichlich schwer. Jüngere Darstellungen, etwa das Biopic »The Iron Lady« von 2011, konzentrieren sich jetztzeitgemäß auf diese Facette. In den besten Biopics dagegen kommt Thatcher gar nicht vor. So in »Pride« von 2014, worin der homosexuelle Kommunist Mark Ashton im heteronormativ geprägten Milieu der Gewerkschaften um 1984 Bündnisse gegen Thatchers Politik schmiedet. Das Bündnis von recognition und redistribution steht komplementär zum Thatcherismus, der in wirtschaftlichen und sozialen Fragen liberal, in Fragen der persönlichen Lebensführung aber rigide war. Deregulierung, Steuersenkungen und Privatisierung verbunden mit christlich-konservativ-nationalistischer Kultur, worst of both worlds also. Der disparate Charakter dieser Ideologie zeigt sich denn auch in der Verknüpfung einer partikular motivierten Umverteilung zugunsten der als tüchtige Unternehmer und Leistungsträger inszenierten besitzenden Klasse mit dem beharrlichen Beschwören eines nationalen Gesamtinteresses. Einerseits sei jeder seines Glückes Schmied, andererseits müsse sich jeder strecken für den nationalen Reichtum der Gesellschaft (von der zugleich gesagt wird, es gebe sie gar nicht).
Zugegeben, wer von Ideologie erwartet, dass sie Sinn ergibt, operiert nicht in dieser Welt. Andererseits gehört zum Handwerk jeder Ideologie, dass sie für sich in Anspruch nimmt, aufzugehen. Handgreiflich stellt sich Thatchers Politik als monetaristisch dar. Staatlicher Eingriff zur Steuerung der Nachfrage wird vermieden, die Geldmenge soll dem Wachstum entsprechen, die Inflationsrate damit gesenkt werden, staatliche Ausgaben ebenfalls. Die im Prozess des sich selbst regelnden Marktes entstehenden Schwankungen, Widersprüche und Kollateralschäden hofft man durch ein hohes Wachstum abzufedern, vermittelt durch Privatisierung und Steuersenkungen, was geschichtlich nur dann jemals funktioniert hat, wenn Reichtum rein statistisch gefasst wird. Wächst er insgesamt, ist man zufrieden. Wie er dabei verteilt ist, wer also was von ihm hat, bleibt außer Betracht.
Monetarismus
Tatsächlich sank unter Thatcher die Inflationsrate. 1979 lag sie bei 13,4 Prozent, 1980 stieg sie zunächst auf 18, zwischen 1983 und 1986 näherte sie sich mit 3,4 Prozent dem damaligen Durchschnitt der OECD-Länder an. In Thatchers letzten Jahren stieg sie wieder leicht. Die Wachstumsrate stieg in der Ära, 1987 erreichte sie mit 4,5 Prozent einen Höhepunkt, wobei auch hier die Verteilung interessant ist. Während der Bank- und Finanzsektor unter Thatcher boomte, schrumpfte der Bereich der verarbeitenden Industrie erheblich, 1983 hatte Großbritannien erstmals ein Defizit bei der Handelsbilanz im Sektor des verarbeitenden Gewerbes. Mithin wirkte die Deindustrialisierung sich auf die Erwerbsquote aus. Zwischen 1979 und 1985 wuchs die Arbeitslosigkeit von 5,3 auf 13,5 Prozent. Privatisierung staatseigener Unternehmen wurde systematisch getrieben. Bis 1990, dem letzten Jahr der Thatcher-Regierung, war das vormals staatliche Kapitaleigentum um mehr als zwei Drittel geschrumpft. Die Differenz bei den Haushaltseinkommen nahm zu. 1979 hatte das einkommensstärkste Fünftel der Bevölkerung einen Anteil von 34,4 Prozent am Gesamteinkommen, 1987 lag der Anteil bei 39,1, während die Anteile der anderen vier Fünftel sanken. Das Fünftel mit den niedrigsten Einkommen hatte 1979 einen Anteil von 10,1 Prozent, 1987 lag er bei 8,9. Praktisch bedeuteten diese 1,2 Prozent, dass zahllose Menschen der Armutsgrenze zugetrieben wurden, denn die Lebenshaltungskosten stiegen, nicht zuletzt infolge des intensiven Wachstums, beträchtlich.
Großbritannien unter Thatcher, das ist die Story von aufwärts und hinab zugleich. Das miefende alte England wurde ersetzt durch ein Hochglanzprodukt, wie man es heute in den besseren Teilen Londons erkennen kann. Zum Preis allerdings, dass ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung an diesem Aufschwung nicht teilhaben kann. Das Kalkül dahinter ist offensichtlich: Wenn eine hinreichend breite Oberschicht vom Wachstum profitiert und flankiert wird von einer leidlich zurechtkommenden Mittelschicht, die mehr oder weniger zufrieden ist, wenigstens etwas Anteil am Reichtum zu haben, kann die Unterschicht quasi vernachlässigt werden. Das politische System bleibt letztlich stabil.
Dämonisierung der Gewerkschaften
Eine weitere Zutat ist die systematische Diskreditierung von Arbeiterklasse und Gewerkschaft, nicht auf der politischen Ebene, sondern auf der kulturellen. Owen Jones hat diesen Prozess 2011 in »Chavs« untersucht. Berühmte Episoden der jüngeren Geschichte Britanniens, der Bergarbeiterstreik von 1984 zum Beispiel mitsamt Zerschlagung der Gewerkschaftsmacht oder die medial orchestrierte Diskreditierung der »Chavs« nach dem Unglück in Hillsborough 1989, werden dort ausführlich beschrieben. Die Unterschicht wurde dämonisiert. Auch die Folgen von Thatchers 1980 ins Werk gesetzter Right-to-buy-Kampagne, die mittellose Mieter animierte, ihre Sozialwohnungen dem Staat abzukaufen, beschreibt Jones ausführlich. Durch den Kauf ihrer winzigen Wohnungen wurde der Arbeiterklasse eine Ideologie angetragen, die ihrer objektiven Lage widersprach. Wer sich vermöge Besitzes einer schäbigen Wohnung wie ein Eigentümer fühlt, wählt und agiert womöglich anders. Finanziell macht es für einen Geringverdiener keinen Unterschied, ob er lebenslang eine Miete bezahlt oder quasi lebenslang eine Rate abzahlt. Das Zwei-Zimmer-Eigenheim aber wurde der Unterschicht zur Fessel. Es nahm vielen Menschen die Möglichkeit, ihrer von Kriminalität und Armut geprägten Wohngegend zu entfliehen.
Der Trick des Thatcherismus besteht darin, das partikulare Interesse des Kapitals als Gesamtinteresse zu inszenieren und das soziale Interesse der Gewerkschaften (in dem sich das Gesamtinteresse der Gesellschaft als Forderung gerechter Verteilung verbirgt) als partikulares zu diskreditieren. Diese Paradoxie kann nur dürftig verdeckt werden, es sei denn, man hebt sie zum Preis der Scham in einem apodiktischen Ideologem auf. Thatchers berühmtes »There is no such thing as society« ist kein beiläufig geäußertes Zeugnis disparater Denkart. Es hat zentrale Bedeutung für den Thatcherismus, als stabilisierendes Element. Es gibt Sätze, auf die kommt man nicht, wenn kein dringendes Interesse dazu zwingt.
Thatcher dürfte gewusst haben, was folgt, als sie am 23. September 1987 jenen Satz sprach, der eine Woche später im Woman’s Own publiziert wurde.¹ Derart wider das Offensichtliche redet man zumeist doch um der Wirkung willen. Es steht damit nicht anders als mit dem heutigen Georgel der damals noch unvorhandenen Social-Media-Sphäre. Gerade Unzureichendes taugt zum innersten Bekenntnis. Der wahre Held fühlt seinen Mut erst, wenn er es nicht bloß mit dem politischen Gegner, sondern gleich mit der ganzen Wirklichkeit aufnimmt.
Was hatte sie gesagt? »Wir haben eine Zeit durchlebt, in der zu vielen Kindern und Menschen zu verstehen gegeben wurde: ›Ich habe ein Problem, es ist die Aufgabe der Regierung, damit fertig zu werden!‹ oder ›Ich habe ein Problem, ich werde hingehen und einen Zuschuss bekommen, um damit fertig zu werden!‹ ›Ich bin obdachlos, die Regierung muss mich unterbringen!‹ So schieben sie ihre Probleme auf die Gesellschaft, und wer ist die Gesellschaft? So etwas gibt es nicht!«
Thatcher sagt ferner, dass es keine Ansprüche ohne Pflichten gebe. Auch da begegnet man der für sie typischen There-is-no-Figur. Routiniert spielt sie Verlierer am Arbeitsmarkt gegen die Nochärmeren aus: Wer soziale Leistung fordere, ohne zu arbeiten, nehme den tatsächlich Bedürftigen die Zuwendung. Von Unternehmen, die Steuersenkungen fordern, dem Staat also die Mittel, jene tatsächlich Bedürftigen zu stützen, verwehren wollen, spricht Thatcher selbstverständlich nicht. Menschen, sagt sie weiter, erwarten zu oft, dass die Gesellschaft ihnen die Probleme löse. Aber so etwas wie Gesellschaft gebe es nicht, nur Männer, Frauen, Familien. Die Regierung könne bloß durch Menschen handeln, und die denken zuerst an sich.
Die gewiefteste Form des Populismus ist, wenn falsche Aussagen auf dem Trittbrett zutreffender Aussagen fahren. Gewiss hat der Staat bloß so weit Mittel, als seine Bürger ihn finanzieren. Doch die müssen Steuern wohl oder übel zahlen. Sozial sein bedeutet, Absicherung nicht von gutem Betragen der jeweiligen Menschen abhängig zu machen. Soziale Fürsorge, verstanden als Grundsicherung (nicht als Luxus), ist keine Leistung, die man sich verdienen muss, sie ist ein Recht, das jedem zusteht, gleich wie bemüht er ist und was er leisten kann.
Etwas wie Gesellschaft aber, wiederholt Thatcher mehrfach, existiere nicht, allenfalls eine Art lebendiger Teppich, der in dem Maße schöner werde, in dem die Leute sich selbst helfen. Hiernach läuft ihre Antwort in einem Pathos um unsere wunderbaren Kinder und die Schuld mittelloser Eltern aus, die durch ihre Armut und Trägheit den Kindern Schlimmes antun. Wie üblich sind Produktionsverhältnisse außer Betracht, denn gleich wie groß die Anstrengung jeglicher Eltern wäre, es blieben stets viele Haushalte, die den Anschluss an den Arbeitsmarkt verlieren oder in den Niedriglohnbereich gedrängt werden. Armut ist ein strukturelles Problem, und die Frage nach dem Einzelnen klärt höchstens, ob der oder der in Armut fällt. Bedenkt man, dass Thatcher die soziale Hilfe für genau diese nicht vermeidbare Masse rigoros zusammenstreichen ließ, wird ihre Verschiebung des gesellschaftlichen Problems auf den Einzelnen als Schuldabwehr erkennbar. Eben das ist ja die Pointe am von libertärer Seite beharrlich bemühten Ideologem der Eigenverantwortung. Dass sie bezogen auf die einzelnen Bürger gefordert wird von politischen Akteuren, die ihrer eigenen Verantwortung nicht nachkommen.
There is no …
Sätze haben Strukturen, sprachliche, mithin logische. There is no such thing as society – let’s start deconstructing this rubbish.
»There is no«. Man kennt das bei Thatcher. Wie kaum was drückt es ihr intellektuelles Profil aus, das kenntlich ist an apodiktischer Rede, einspurigem Denken und blankem Trotz. Gesellschaft, das gibt es einfach nicht, auch wenn jeder sieht, dass es das gibt. Wenig zuvor heißt es analog: »There is no such thing as an entitlement unless someone has first met an obligation.« Selbst Thatcher muss klargewesen sein, dass Ansprüche zu haben im Menschlichen selbst liegt und nicht von vorheriger Pflichterfüllung abhängt. Das gilt auch für die Berechtigung der Ansprüche, denn soziale Hilfe ist, was auch dann greift, wenn keine persönliche Verpflichtung vorliegt. Was sie sagen will, ist, dass es anders sein sollte. Sagte sie das aber so, ließe sich schon wieder Streit führen. Ein Streit, den die apodiktische Form verunmöglichen soll.
Traurige Berühmtheit erlangte ihr TINA: »There is no alternative«, mit dem sie, die nicht müde wurde, persönliche Verantwortung zu fordern, die Verantwortung für ihre eigenen Entscheidungen abschob. Was ich tue, tue ich nicht, weil ich mich dazu entschieden habe, es ist gewissermaßen der Weltlauf selbst, dessen verlängerter Arm ich allenfalls bin. In TINA greifen ein rigider Antiutopismus und eine Distanzierung vom eigenen Handeln ineinander. »There is no such thing as society« ist das TINSTAS zu TINA. Distanzierung wird begleitet von selbstbewusst herausgestellter philosophischer Beschränktheit: Reduktion gesellschaftlicher Verantwortung auf die persönliche, gedeckt durch Verleugnung gesellschaftlicher Strukturen. Mehr Zusammenhang als das bloße Aggregat eines »living tapestry« wird nicht geduldet. Denn:
»such thing«. Eine gängige Phrase, doch sie korrespondiert auf intime Weise Thatchers Ideologie, der man noch schmeichelte, wenn man sie als atomistisch bezeichnet. Natürlich ist die Gesellschaft kein Ding, sondern ein Verhältnis. Eines zudem, das ebenso Dynamisches (Ökonomie, Gesittung, Ideologie, Kunst etc.) wie Statisches (Milieus, Klassen, Korporationen usf.) enthält. Struktur unterscheidet sich vom bloßen Aggregat durch Ungleichverteilung der Elemente, die innere Anordnung erst macht die Besonderheit einer Sache. Thatcher untertrifft nicht allein Hegel, sondern sämtliche Theorie vor und nach ihm, indem sie aus der klassischen Stufung Familie – Gesellschaft – Staat das mittlere Glied entfernt. Ausdrücklich stellt sie die einzelnen Subjekte, deren Beziehungen allenfalls familiär oder nachbarschaftlich seien, dem Staat gegenüber. Der erscheint als abgesondertes Ding, zu dem jeder Bürger eine eigene Beziehung unterhält. Das ist weniger als atomistisch, genauer seine platteste Spielart, ein materialer Monismus.
Materialer Monismus
Der so wenig haltbar ist, dass er unter den Spezialisten fürs Allgemeine kaum je Anhänger gefunden hat. Mitunter sagt man ihn Thales nach, doch dazu muss man dessen Götterfragment ignorieren. Blanker Atomismus tritt auf, wo ein Unbehagen am Begriff der Form empfunden wird. Form lebt durch das Greifbare, ohne selbst greifbar zu sein. Das ist paradox, und also entsteht das Bedürfnis, Wirklichkeit ganz aufs Material zurückzuführen. Auch der Atomist jedoch weiß, dass jedes Ding mehr sein muss als die Summe seiner Teile. So wird er die Paradoxie von Stoff und Form, die er im Stofflichen liquidieren wollte, auch dort nicht los und rettet die Form, die er als Verhältnis zwischen stofflichen Objekten nicht gefasst bekommt, indem er sie in die einzelnen Atome verlegt. Demokrit gab den kleinsten unteilbaren Teilchen bestimmte Gestalten, Leibniz entwickelte ein gewieftes Konzept, in dem jede Monade die Gesamtheit der Weltbeziehungen in sich aufnimmt. Von all dem ist Thatcher weit entfernt. Wo Atomisten an der Konsistenz ihrer Modelle basteln, hilft sie sich mit einem »Basta!« aus. Folgerichtig hat Leibniz heute kaum noch Anhänger, während Thatcher zum Rockstar liberaler Publizisten wurde. Materialer Monismus ist das Konterprogramm zum Idealismus, nur ohne Programm halt. Alle Gründe und Beziehungen sind darin liquidiert, und wo buchstäblich nichts mehr ist, gilt auch nichts mehr. Denn:
»as society«. Im Begriff der Gesellschaft liegt, dass ihre Existenz bereits einen Anspruch befördert, den der Solidarität. Diesen Anspruch in »etwas wie Gesellschaft« gilt es zu liquidieren, indem »etwas wie Gesellschaft« liquidiert wird. Thatcher sagt nicht: »There is no society«, sie tilgt alles aus, was den Anspruch des Gesellschaftlichen möglich macht. Möglich, dass sie wirklich daran glaubte. Als Politikerin jedoch stellte sie theoretische Fragen nicht aus Erkenntnisgründen. Ihre Äußerungen hatten den Zweck, ihren Rezepten zum Durchbruch zu verhelfen. Wenn sie das Vorhandensein gesellschaftlicher Formen leugnet, attackiert sie in Wahrheit den nicht zwingenden, doch intuitiven Schluss, dass gesellschaftliche Wesen sich auch gesellschaftlich verhalten sollten. »Gleichwie ein Leib ist, und hat doch viele Glieder, alle Glieder aber des Leibes, wiewohl ihrer viel sind, doch ein Leib sind. (…) So aber der Fuß spräche: Ich bin keine Hand, darum bin ich des Leibes Glied nicht, sollte er um deswillen nicht des Leibes Glied sein?« Klingt wie Yoda, ist aber Paulus. Und recht hatte der alte Mann.
Tragendes Gewölbe
Man kann finden, dass Thatchers längst historischer Satz den Aufwand nicht wert ist. Offenkundig ist er es dennoch. Thatcherismus ist bis heute virulent geblieben. Sein Manöver liegt in der Verschiebung gesellschaftlicher Verantwortung auf den Einzelnen. Jeder suche sein Glück, die Gesellschaft kann für gar nix niemals nich. Dabei muss verdrängt werden, dass ein Missverhältnis zwischen Arbeitskräften und Arbeitsplätzen bei hohem Stand der Produktivkräfte unvermeidlich wird. Nur dann lässt sich behaupten, jeder könne Erfolg haben, sobald er sich bloß mühe, nur so ausblenden, dass selbst eine Gesellschaft, die restlos aus tüchtigen Individuen bestünde, Massenarbeitslosigkeit oder durch niedrige Löhne bedingte Bedürftigkeit hervorbrächte. Thatcherismus heißt, die Frage nach Gesellschaft nicht zu beantworten, indem man sie gar nicht erst zulässt. Die rigide Einengung des Denkens auf Imperative gegen den Einzelnen lässt nicht bloß keinen Raum für freie Erkenntnis, sondern dieser äußerste Subjektivismus ist am besten als äußerster Objektivismus servierbar.
In der Tat rationalisiert »there is no such thing as society« höchst willkürliche Vorstellungen, die den Kapitalismus als ein Naturverhältnis behaupten, an dem – there is no alternative – nicht gerüttelt werden darf. Der Satz ist ganz zu Recht berühmt und das tragende Gewölbe eines Bauwerks, das andernfalls nicht erst Sturm und Beben fürchten müsste, sondern von selbst schon in sich fiele.
Anmerkungen:
¹ Am 31. Oktober 1987 unter dem Titel »Aids, education and the year 2000!« (S. 8–10). Es existiert ein Transkript des von Downing Street routinemäßig aufgezeichneten Gesprächs, online verfügbar: http://www.margaretthatcher.org/document/106689.
Felix Bartels schrieb an dieser Stelle zuletzt am 6. September 2025 über den Regisseur Christopher Nolan: »Die Prämisse ist alles«.
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Leserbrief von Rayan aus Unterschleißheim (13. Oktober 2025 um 04:34 Uhr)Zufällig hatte ich mir den erwähnten und sehr sehenswerten Film »Pride« nach einigen Jahren und kurz vor der Lektüre des Artikels mal wieder reingezogen. Thatcher kommt darin m. E. schon vor, nämlich genau als das asoziale, hassenswerte Ding-Dong-Witch-Subjekt, das streikende Bergleute widerrechtlich von seinen Cops einknasten lässt, sie aushungern lassen will oder Homosexuelle mittels Dreckspresse, von dieser aufgehetzten Homophoben und auch wieder ihren Cops zusammenknüppeln lässt. (»Was ist besser für's Demo-Schild: «Leck mich, Thatcher» oder «Fick dich, Thatcher»?«) Außerdem ist der auf realen Vorkommnissen basierende Film ja insgesamt quasi der Gegenbeweis zu Thatchers TINSTAS-Blödfug.
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