Rechenlektion für Merz
Von Ralf Wurzbacher
Der Sozialstaat sei zu teuer, sagt der Bundeskanzler, und beklagt »überbordende« Kosten. Vorsicht Täuschung! Gewerkschaftsnahe Forscher haben nachgerechnet: Gemessen an der Wirtschaftsleistung sind die Ausgaben in zentralen Bereichen in Wahrheit »unverändert beziehungsweise niedriger als vor 15 oder vor 20 Jahren«. So steht es in einer am Mittwoch veröffentlichten Studie des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung. Ausgewertet wurden darin Daten des Bundesarbeitsministeriums aus dem Jahr 2024. Diese weisen fürs Vorjahr zwar einen geringen Anstieg der Sozialstaatsquote gegenüber 2023 aus, der Wert liege aber »noch immer spürbar unter den Ständen von 2020 und 2021«.
IMK-Direktor Sebastian Dullien riet dazu, verbal abzurüsten: »Wir brauchen mehr realistische Analyse, weniger Alarmismus.« Die Debatte kranke an einem Fokus auf »Schein- oder sekundäre Probleme«, befand er und benannte die eigentliche Misere: eine inzwischen drei Jahre anhaltende Rezession. Unter diesen Umständen erscheint selbst ein konstantes Sozialbudget relativ zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) als expansiv. In der Rückschau haben die inflationsbereinigten Sozialausgaben von 2009 bis 2019 laut Studie ziemlich deckungsgleich mit dem BIP-Trend zugelegt, und hätte der sich fortgesetzt, wären sie inzwischen in Relation sogar rückläufig. Dass es anders kam, hat nichts mit gestiegenen Leistungen zu tun, sondern mit einer seit Beginn des Ukraine-Kriegs abrupt abgewürgten Konjunktur, bedingt vor allem durch die Abkehr von günstiger Energie aus Russland. Immer mehr Menschen verlieren deshalb ihren Job und rutschen in die soziale Bedürftigkeit. Das macht den Sozialstaat wirklich teurer.
Bisher bewegt sich aber vieles noch im Rahmen des Normalen. »Der jüngste Anstieg war nicht so kräftig, dass Deutschland damit das Mittelfeld der europäischen Länder verlassen hätte«, konstatierten die IMK-Experten. Aufschlussreich ist eine detaillierte Betrachtung: In der Rentenversicherung sind die Ausgaben samt Bundeszuschüssen relativ zum BIP in den zurückliegenden 20 Jahren gesunken, von 10,4 auf 9,4 Prozent. Und was ist mit der »demographischen Katastrophe«? Faktisch wurde mit Hilfe der Propaganda von der alternden Gesellschaft das Leistungsniveau in der Breite abgesenkt. Zurückgegangen sind ebenso die Kosten der Erwerbslosenversicherung, von 2,3 auf 0,9 Prozent des BIP, wobei sich dies auch mit Verschiebungen durch die Hartz-Reformen erklärt. Nimmt man alle Ausgaben zusammen, ist das Niveau »seit 2004 unverändert geblieben«, stellten die Forscher fest. Bürgergeld, Eingliederungshilfen und Sozialhilfe kosteten 2024 mit 2,7 Prozent im BIP-Vergleich sogar weniger als im Jahr 2010 mit 2,8 Prozent.
Mehr Mittel kommen hingegen der Kinder- und Jugendhilfe sowie der Pflegeversicherung zu. Wobei dies laut Dullien auf »sehr sinnvolle politische Entscheidungen« zurückgeht, etwa den Ausbau der Kinderbetreuung oder präventionsorientierte Leistungen bei Demenzerkrankungen. Als »problematisch« erachtet das IMK indes die Kostenentwicklung bei der Gesundheit. 2004 hätten die gesetzlichen Krankenkassen noch sechs Prozent des BIP ausgegeben, 2024 dann schon 7,5 Prozent »bei mittelmäßiger Gesundheit der Bevölkerung«. Ein Faktor seien dabei die Ausgaben für Medikamente, die pro Kopf anderthalbmal so hoch sind wie im europäischen Mittel. Das deutsche Gesundheitssystem ist bekanntlich hochgradig kommerzialisiert. Wann endlich droht der Kanzler den Pharmabossen mit »Totalsanktion«?
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