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Aus: Ausgabe vom 09.10.2025, Seite 3 / Schwerpunkt
Syriens zersplitterte Linke

»Eine vereinte Bewegung ist dringend notwendig«

Syrien: Über die Probleme der neuen Machthaber und die Aufgaben der Linken. Ein Gespräch mit Hussein Khalifa
Von Philip Tassev
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Seit dem Sturz Baschar Al-Assads bemühen sich die neuen Machthaber in Syrien, die Kontrolle über das Land zu festigen. Warum kehrte trotz des Verschwindens des ehemaligen Präsidenten ins russische Exil kein Frieden für das syrische Volk ein?

Der Sturz von Assad erfolgte nicht durch die Haiat Tahrir Al-Scham, kurz HTS, allein, sondern als Resultat einer komplexen Verständigung zwischen internationalen und regionalen Akteuren wie Türkei, Iran, Russland, Golfstaaten, USA und Israel. HTS, unter der Führung von Abu Muhammad Al-Dscholani (bürgerlicher Name: Ahmed Al-Scharaa, jW), rückte aus ihrer Hochburg Idlib aus und erreichte am 8. Dezember 2024 innerhalb von elf Tagen Damaskus, obwohl das Assad-Regime zu dem Zeitpunkt auf dem Papier noch über Hunderttausende Soldaten und Hunderte Stützpunkte verfügte.

Obwohl HTS öffentlich den Eindruck erweckte, eine zivile Staatsordnung für alle Syrer anstreben zu wollen, begann die Führung sofort damit, ein islamisches Emirat zu errichten. Dazu gehörte die Bildung einer neuen Armee, deren Kommandostruktur ausschließlich aus Fraktionsführern bestand, darunter internationale Mudschaheddin der ehemaligen Nusra-Front. Zusätzlich wurde ein »Volksrat« installiert: Ein Drittel der Mitglieder wurde direkt von Al-Dscholani bestimmt, zwei Drittel durch ein von ihm eingesetztes Komitee. Eine dürftige Verfassungsdeklaration sollte den Anschein eines nationalen Dialogs erwecken, spiegelte jedoch nicht die Erwartungen der syrischen Bevölkerung wider.

Parallel verübte die neue Regierung Massaker in den alawitischen Küstenregionen, die zuvor die Hauptstütze Assads gewesen waren. Später folgten Angriffe auf die mehrheitlich drusische Provinz Suweida, bis Israel direkt eingriff. Mit den Syrischen Demokratischen Kräften, kurz SDF, die ein Drittel Syriens im kurdisch dominierten Nordosten sowie zwei arabische Provinzen östlich des Euphrat kontrollieren, konnte keine Verständigung erzielt werden. Die SDF fordert ein dezentralisiertes, demokratisches System, das allen gesellschaftlichen Gruppen Anerkennung bietet. Statt nationale Einheit zu schaffen, vertiefte HTS die Spaltung des Landes.

Eines der Hauptziele der neuen Führung in Damaskus scheint Stabilität zu sein – sowohl innerhalb des vom Krieg zerrütteten Landes als auch in den Beziehungen zu Syriens Nachbarstaaten. Welche zentralen Herausforderungen bestehen beim Wiederaufbau der syrischen Wirtschaft und des Handels nach Jahren des Krieges und der – illegalen – internationalen Sanktionen?

Die syrische Wirtschaft war nach 14 Jahren Krieg am Rande des Zusammenbruchs. Infrastruktur, Straßen, Brücken, Strom- und Wassernetze wurden in großem Maße zerstört. Rund zehn Millionen Syrer flohen ins Ausland, darunter zahlreiche Fachkräfte, Akademiker und Unternehmer. Die Lebensbedingungen verschlechterten sich dramatisch.

Die neue Regierung hätte alle Bevölkerungsgruppen einbinden und internationale Organisationen, Staaten und Geldgeber für den Wiederaufbau gewinnen müssen. Statt dessen vertiefte sie die Spaltungen, verschärfte Unsicherheit; Entführungen und Raub nahmen wieder zu. Staaten wie Katar, die Türkei, Saudi-Arabien, Europa und die USA hielten sich zurück. Milliardenprojekte und Absichtserklärungen blieben weitgehend symbolisch; nur kleinere Kredite und humanitäre Hilfen erreichten die Bevölkerung.

Über welche reale Macht verfügt die islamistische Regierung angesichts der Einmischung durch Israel und die Türkei?

Jede angebliche Konfrontation zwischen Damaskus und Ankara ist eine Illusion. Tatsächlich besteht eine enge Allianz. Erdoğan unterstützte bereits in Idlib das HTS-Regime, brachte ausländische Kämpfer ins Land und versorgte sie. Versuche der Saudis, Al-Dscholani von Ankara zu lösen, scheiterten. Al-Dscholanis Außenminister traf sich zudem mehrfach mit den Israelis, unter anderem in Paris. Sein Ziel: Sicherheitsvereinbarungen zur Eindämmung von Angriffen und Grenzverletzungen. Israel verlangt, dass kein syrisches Militär südlich von Damaskus stationiert ist. Im Gegenzug will Israel Luftangriffe reduzieren und sich aus inneren Angelegenheiten heraushalten. Israel hat viele ehemalige Militärstützpunkte und die meisten schweren Waffen der syrischen Armee zerstört. Die Regierung duldet diese Angriffe stillschweigend, offene Konfrontation ist unmöglich, solange interne Konflikte ungelöst bleiben.

Die Golanhöhen bleiben tabu – Israel betrachtet sie seit 1967 als Teil seines Territoriums. Das Prinzip lautet »Sicherheit gegen Gehorsam«. Die neuen Machthaber akzeptieren das, solange ihr Überleben gesichert ist – auch auf Kosten der syrischen Bevölkerung.

Al-Dscholani erklärte im August, er wolle die Einheit Syriens nicht »mit Blut« oder durch militärische Gewalt erreichen. Welche Position nimmt die syrische Linke dazu ein?

Er erklärt öffentlich, Syrien nicht »mit Blut« einen zu wollen, während ihm unterstellte Stämme zum Krieg gegen den östlichen Teil des Landes aufgerufen werden. Die syrische Linke ist schwach und zersplittert, lehnt aber autoritäre Einheitspläne einhellig ab. Sie fordert eine nationale Konferenz, an der alle gesellschaftlichen Kräfte teilnehmen, um über Staatsform, Verfassung und Dezentralisierung zu entscheiden. Mehrheitlich tendiert sie zu dezentraler Demokratie, doch entscheidend bleibt: Syrien muss geeint sein.

Wenn wir spekulieren: Wie und wann können die Syrer mit einer Verbesserung ihrer materiellen Lebensbedingungen rechnen?

Nach Assads Sturz sanken die Preise vieler Importwaren, während Brot- und Transportkosten auf das Zehnfache stiegen. Die Löhne erhöhten sich um 200 Prozent, decken aber weiterhin die Lebenshaltungskosten nicht. Eine nachhaltige Verbesserung hängt von einer politischen Lösung, wirtschaftlicher Stabilität und demokratischer Teilhabe ab. Ohne Reformen bleibt jede wirtschaftliche Erholung illusorisch.

Syrien hat eine lange Geschichte zahlreicher nebeneinander existierender kommunistischer Parteien mit Spaltungen und Streitigkeiten über die Haltung zur Assad-Regierung. Aus Ihrer Erfahrung als Mitglied einer kommunistischen Partei und als Journalist: Was sollte die syrische Linke jetzt tun?

Syrien hat zahlreiche kommunistische und linke Parteien, viele wurden unter Assad verfolgt, aufgelöst, oder Mitglieder wurden inhaftiert oder getötet. Angesichts der neuen islamistischen Bedrohung ist eine vereinte Bewegung dringend notwendig. Nur eine gemeinsame linke Front kann Syriens Einheit sichern, eine demokratische Ordnung einleiten und das Land vor neuer Diktatur bewahren. Eine zersplitterte Linke bleibt wirkungslos und riskiert nicht nur ihr eigenes Überleben, sondern das aller Syrer.

Hussein Khalifa ist Journalist und arbeitet für die Zeitung Al-Nour. Er versteht sich als revolutionärer Kommunist. Bis 2011 war er Mitglied der Syrischen Kommunistischen Partei (Bakdasch), die seit Januar in Syrien verboten ist

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz S. (9. Oktober 2025 um 10:56 Uhr)
    Hussein Khalifa, der sich als »revolutionärer Kommunist versteht« (Ist das jetzt ein Pleonasmus oder gibt es tatsächlich auch nichtrevolutionäre Kommunisten?), schildert das Syrien in der Ära der regierenden Baath-Partei so: »Syrien hat zahlreiche kommunistische und linke Parteien, viele wurden unter Assad verfolgt, aufgelöst, oder Mitglieder wurden inhaftiert oder getötet«. Zweifel an dieser Darstellung sind angebracht. Zwei Beispiele für die »Verfolgung von Kommunisten unter Assad«: Die Syrische Kommunistische Partei (Vereint) konnte bei der Parlamentswahl in Syrien 2007 3 Sitze gewinnen. Bei den Wahlen 2012 erhielt die Partei erneut 3 Sitze und war Koalitionspartner der Baath-Partei in der Nationalen Fortschrittsfront. Die Syrische Kommunistische Partei (Bakdasch) gewann bei der Parlamentswahl 2007 5 Sitze. Bei den Wahlen 2012 konnte die Partei 3 Sitze hinzugewinnen und bekam 8 Sitze im Volksrat und war ebenfalls Koalitionspartner der regierenden Baath-Partei in der Nationalen Fortschrittsfront. Beide Parteien wurden im Januar 2025 vom Dschihadisten-Regime verboten. Interessantes über die Syrische Kommunistische Partei (Bakdasch), in der der Interviewpartner bis 2011 Mitglied war: »Unter dem Vorwurf des Trotzkismus wurden Parteimitglieder ausgeschlossen. Sie gründeten im Jahr 2012 die Partei des Volkswillens« (Wikipedia), traten jedoch im Gegensatz zu anderen kommunistischen Fraktionen nicht der Nationalen Fortschrittsfront bei (jW 10.12.2020). Belohnung: Während kommunistische und andere fortschrittliche Organisationen im Januar 2025 verboten wurden, konnte die »Partei des Volkswillens« unbehelligt agieren. Mohannad Dlykan, jW 01.03.2025: »In der Partei des Volkswillens setzen wir unsere Arbeit normal, offen und auf breiter Ebene sowie in allen syrischen Provinzen fort. Wir verteilen unsere Zeitung Kassioun auf den Straßen Syriens, halten Aktivitäten, Seminare und Vorträge in den verschiedenen syrischen Provinzen ab.«

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