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Aus: Ausgabe vom 09.10.2025, Seite 3 / Schwerpunkt
Syrien

Al-Dscholanis Wahltheater

Syriens Präsident hat sich sein Parlament ausgewählt. Kaum Frauen und Minderheiten vertreten, ganze Regionen ausgeschlossen. Aber der Westen ist zufrieden
Von Nick Brauns
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Sechs von 6.000 Wählern zum neuen syrischen Parlament bei der Stimmenauszählung (Aleppo, 5.10.2025)

Die Bundesregierung hat die Parlamentswahlen vom Sonntag in Syrien als »wichtigen Schritt« für das Land gewürdigt. Der Wahltag sei nach ersten Erkenntnissen friedlich abgelaufen, so ein Sprecher des Auswärtigen Amtes zu Wochenbeginn. Bei den ersten Wahlen nach dem Sturz von Präsident Baschar Al-Assad Ende des vergangenen Jahres handelte es sich dabei keineswegs um eine demokratische Abstimmung der syrischen Bevölkerung über ihre Gesetzgeber. Vielmehr maßten sich rund 6.000 selbst von oben ernannte Wahlleute an, für 25 Millionen Syrer zu entscheiden.

Der Prozess unterlag dabei der direkten und indirekten Kontrolle des früheren Al-Qaida-Führers Abu Mohammed Al-Dscholani, der sich nach der Machtübernahme seiner Dschihadistenallianz HTS in Damaskus von seinen Warlords im Januar unter seinem bürgerlichen Namen Ahmed Al-Scharaa zum Übergangspräsidenten ausrufen ließ. Ein von Al-Scharaa eingesetztes Oberstes Wahlkomitee hatte im Juni regionale Wahlkomitees bestimmt, die rund 6.000 Wahlleute aus einem Bewerberpool aussuchten, die am Sonntag wiederum 140 Abgeordnete aus den eigenen Reihen wählten. Rund 1.500 Kandidaten standen zur Auswahl, wobei »Anhänger des früheren Regimes« oder Befürworter von »Trennung, Spaltung oder Abhängigkeit von ausländischen Mächten« von vorneherein ausgeschlossen waren. Durch solche Gummiformulierungen wurden Kritiker Al-Scharaas oder Befürworter eines föderalen Syriens disqualifiziert.

Schließlich fanden die Wahlen nur in den von der Regierung kontrollierten 50 der 62 syrischen Wahlbezirke statt. Sowohl das Siedlungsgebiet der Drusen im Süden als auch die unter Kontrolle der Syrischen Demokratischen Kräfte stehende, teils kurdische Autonomieregion im Norden und Osten waren unter Verweis auf ein fehlendes »sicheres und stabiles Umfeld« ausgeschlossen. Es sind allerdings dschihadistische Regierungsanhänger, die etwa in der drusischen Provinz Suweida zuletzt mit Massakern für Unsicherheit sorgten.

Bei der Vorauswahl ist es nicht verwunderlich, dass in das 210köpfige Parlament nach den am Montag veröffentlichten vorläufigen Wahlergebnissen bei absoluter Dominanz arabischer Sunniten – darunter viele HTS‑Gefolgsleute – nur knapp zehn Minderheitenangehörige wie Kurden, Christen und Alawiten einziehen, obwohl diese Gruppen rund ein Viertel der syrischen Bevölkerung ausmachen. Während 20 Prozent der Wahlleute und 14 Prozent der Kandidaten weiblich waren, gingen nur drei Prozent der Stimmen an Frauen, die künftig sechs Parlamentarierinnen stellen. Zum Vergleich: Unter Assad waren es zuletzt 13 Prozent Frauen im Parlament, während in vielen Volksräten der kurdischen Region Rojava heute eine 50prozentige Geschlechterquotierung gilt. Der Vorsitzende des Obersten Wahlkomitees, Mumammad Taha Al-Ahmad, kündigte gegenüber Syria TV an, Al-Scharaa werde sich »um eine Korrektur dieser Diskrepanz bemühen«, wenn er die übrigen 70 Abgeordneten per Dekret bestimmt.

Der Demokratische Syrien-Rat, der die von der Wahl ausgeschlossenen Gebiete im Norden und Osten des Landes mit rund fünf Millionen Bürgern repräsentiert, spricht von »politischem Theater«. Die Abstimmung sei weder legitim noch inklusiv gewesen und vertiefe die Spaltung des Landes. Während Al-Scharaa seine Macht durch die von der Bundesregierung und anderen ausländischen Freunden des neuen Syriens anerkannten Scheinwahlen weiter konzentrieren kann, beschossen seine so ermutigten Truppen zu Wochenbeginn die kurdischen Stadtteile Şêxmeqsûd und Eşrefiyê in Aleppo mit schweren Waffen.

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