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Aus: Ausgabe vom 08.10.2025, Seite 3 / Schwerpunkt
»Herbst der Reformen«

»Tempo! Die Zeit drängt!«

Wo Kriegsvorbereitungen durch Austerität finanziert werden und Ultrarechte im Wartestand stehen, muss zum Widerstand die Friedens- mit der sozialen Frage zusammengeführt werden
Von Ulrike Eifler
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Gewerkschaften in Italien zeigen den Weg auf: Streiks und Blockaden gegen Beihilfe zum Genozid in Gaza (Neapel 22.9.2025)

Vom 4. bis 5. Oktober fand in Paris eine internationale Friedenskonferenz statt. Die Veranstaltung wurde auf Initiative von Jérôme Legavre und John Rees organisiert. Legavre sitzt für die Partei La France Insoumise (LFI) im französischen Nationalparlament. Rees ist der Sprecher der britischen »Stop the War Coalition«. Zwei Tage lang diskutierten die überwiegend europäischen Vertreter die Herausforderungen beim Aufbau einer internationalen Friedensbewegung. Im Zentrum stand der Protest gegen den Genozid in Gaza. Dieser ist nicht nur zum Lackmustest für die Universalität der »westlichen Werte« geworden, sondern auch zum aktuell stärksten Ausdruck des Abstiegsszenarios des Westens. Dabei zeigen die westlichen Funktionseliten, wie weit sie zu gehen bereit sind, um den wachsenden Bedeutungsverlust aufzuhalten.

Doch damit stoßen sie zunehmend auf Widerstand. Weltweit wächst die Zahl derjenigen, die in Solidarität zu Palästina und an der Seite der Menschen dort stehen. Im globalen Süden demonstrieren sie, weil sie wissen, wie sich die Unterdrückung durch den Westen anfühlt. Im Norden, weil die Menschen spüren, dass die Verweigerung eines palästinensischen Staates auch etwas mit ihnen zu tun hat: Es sind dieselben Regierungen, die Israel unbeirrbar mit Waffen versorgen, die auch sie mit Sozialabbau, Deregulierung und Rassismus niederzudrücken versuchen.

Wichtigste Aufgabe der Friedensbewegung müsse es daher sein – so der Diskussionskonsens in Paris –, ihre unterschiedlichen Teile zu einer schlagkräftigen Manifestation auf der Straße zu bündeln. Ein Frieden im Interesse der arbeitenden Klassen – egal ob in Gaza oder in Israel, in Russland oder der Ukraine, in den USA oder in Deutschland – wird nicht am Verhandlungstisch herbeiverhandelt. Er muss vielmehr gegen die Militaristen und Kriegstreiber durchgesetzt werden. Denn die Lösung der kapitalistischen Krise, die hinter der wachsenden Kriegsdynamik steht, erweist sich immer weniger als friedenskompatibel. Bekämpft werden muss nicht nur der Krieg, sondern auch die wachsende Ungleichheit, die Privilegien weniger, der Demokratieabbau, der drohende Klimakollaps. Frieden ist mehr als die Abwesenheit von Krieg!

Entscheidend wird dabei sein, dass es gelingt, die Arbeiterbewegung aus der Umklammerung ihrer jeweiligen Regierungen herauszulösen, die ihre Kriegsvorbereitungen über Austerität und Klassenangriffe finanzieren. Die letzten Generalstreiks in Italien haben gezeigt, dass es möglich ist, die soziale und die Friedensfrage zusammenzuführen. So weigerten sich Hafenarbeiter, für Israel bestimmte Rüstungsgüter zu verladen – weil sie sich nicht zu Komplizen des Genozids machen lassen wollten, aber auch, weil die Arbeit mit mit Sprengstoff gefüllten Containern elementare Fragen der Arbeitssicherheit aufwarf. Die Mobilisierung der arbeitenden Klassen sei daher weltweit die zentrale Aufgabe der Friedensbewegung, sagte Rees auf der Abschlusskundgebung in Paris vor etwa 4.000 Friedensaktivisten. »Aber Tempo! Die Zeit drängt!« fügte er mit Blick auf das Erstarken der extremen Rechten unter den Bedingungen wachsender Unsicherheit hinzu.

»Herbst der Reformen«

Wie brisant die Situation auch in Deutschland ist, zeigt die politische Dynamik, die der »Herbst der Reformen« der Regierungskoalition nach sich zieht. Zur Vorbereitung des Sozialabbauprogramms gehört auch, möglichen Gegenprotest zu unterbinden. Seit Wochen werden Spaltungslinien durch die Berichterstattung über Bürgergeldbezieher, Rentner, Geflüchtete oder den überbordenden Sozialstaat bedient. Und diejenigen, die das unbeeindruckt lässt, sollen mit dem Hinweis auf eine drohende Regierung unter Beteiligung der AfD diszipliniert werden.

Seit Monaten vergeht kein Tag, an dem die Bundesregierung nicht den Eindruck vermittelt, Sozialstaat, Arbeitsschutzgesetze und Regulierung seien zur Wachstumsbremse geworden. »Es wird ein Herbst, der sich gewaschen hat«, droht CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann. Markus Söder spricht vom »Update des Sozialstaates«, Friedrich Merz sogar vom »Epochenbruch«. Die Bundesregierung hat offenbar sämtliche Denkblockaden abgelegt. Kürzungen beim Bürgergeld, Abschaffung des Achtstundentages, Streichung von Feiertagen, Aufweichung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Rente mit 70 – der gesamte Katalog sozialer Grausamkeiten liegt auf dem Tisch.

Noch zu Jahresbeginn waren in mehreren Städten Unternehmer für einen »Wirtschaftswarntag« auf die Straße gegangen. Sie forderten einen Kurswechsel bei Energiekosten, Steuern, Sozialversicherung, Bürokratie und Infrastruktur. Wenige Wochen nach der Wahl verkündete der Unternehmerverband Gesamtmetall ungeniert die Arbeit an einem Gesetzentwurf zur Einschränkung des Streikrechtes. Die »Verrechtlichung ganzer Lebensbereiche« müsse beendet und statt dessen »Räume für mehr Risikobereitschaft geöffnet« werden, riet die Ökonomin Nicola Fuchs-Schündeln der Regierungskoalition auf deren Würzburger Klausur. Und nachdem der Geschäftsführer des kapitalnahen Instituts der Deutschen Wirtschaft, Marcel Fratzscher, ein Arbeitspflichtjahr für Rentner in die Debatte gespült hatte, forderte nur wenige Tage später der Hauptgeschäftsführer des Unternehmerverbands Niedersachsenmetall, Volker Schmidt, Arztbesuche nur noch gegen Vorkasse. Dieses Mal geht es an die Grundfeste gewerkschaftlicher Errungenschaften.

Gegenwehr in den Reihen der Regierungs-SPD sucht man vergebens. Längst zeichnet sich auch bei den SPD-Ministern eine Gesprächsbereitschaft über Sozialkürzungen ab. So demonstrierten die Koalitionäre auf ihrer Sommerklausur in Würzburg Geschlossenheit und kündigten einmütig den »Herbst der Reformen« an. Einzelheiten sind noch nicht bekannt, aber die scheinbar unabhängigen »Kommissionen« haben längst ihre Arbeit zur Novellierung der Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung aufgenommen. Und nicht nur Merz treibt die Sozialabbaudebatte mit Äußerungen voran, die Menschen hätten über ihre Verhältnisse gelebt. Auch Vizekanzler und SPD-Vorsitzender Lars Klingbeil sagt: »Wir müssen den Menschen etwas abverlangen.« Dass Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas entgegen ihrer »Bullshit«-Schimpftirade gegen Merz eine Nullrunde beim Bürgergeld ankündigt, passt da ins Bild.

Weil es in der SPD aber auch Stimmen wie die von Ralf Stegner und Juso-Chef Philipp Türmer gibt, die die Austeritätspolitik ablehnen, erhöhen vor allem konservative Medien den Druck. »Die SPD kann so nicht weitermachen«, trommelt seit Wochen die Neue Zürcher Zeitung. Und die Welt ätzt: »Statt den Linken nachzueifern, könnte die SPD eine wichtige Leerstelle füllen.« Schützenhilfe bekommen die SPD-Linken dagegen von den Sozialverbänden. Und auch die Gewerkschaften kritisieren die Abschaffung des Achtstundentages. So verwies der stellvertretende Vorsitzende der Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten, Freddy Adjan, auf die Gefahr, dass künftig 73,5-Stunden-Wochen möglich wären, ginge es nach der großen Koalition.

Rechte Mehrheiten

Die kommenden sechs Monate seien entscheidend für einen konjunkturellen Aufschwung in Deutschland, sagte kürzlich der ehemalige hessische Ministerpräsident Roland Koch. Sollte innerhalb des nächsten halben Jahres keine wirtschaftliche Besserung eintreten, müsse es so harte Sozialkürzungen geben, dass »demokratische Verwerfungen zu befürchten« wären. Diese Drohung des CDU-Politikers zeigt: Die Union zieht offenbar den Bruch der Koalition zugunsten einer Zusammenarbeit mit der AfD in Erwägung. Hintergrund dürfte das Drängen der Kapital- und Industrieverbände sein, zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit den Sozialstaat zu stutzen und die Arbeitswelt zu deregulieren. Auch angesichts neuer rechnerischer Mehrheiten wächst innerhalb der Union die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit der AfD. Insbesondere in den ostdeutschen Bundesländern, wo die AfD bei der Bundestagswahl fast alle Wahlkreise für sich gewinnen konnte, ist die Diskussion über eine Kooperation der Union mit der AfD schon seit längerem im Gange.

Schaut man sich Wahlprogramm, Anträge und Abstimmungsverhalten der AfD an, wird schnell klar: Eine Regierung unter Beteiligung der AfD würde mit enormen Angriffen auf die Welt der Arbeit einhergehen. Mehrfach stimmte die Partei gegen den Mindestlohn. Auch ein Tariftreue­gesetz zur Stärkung der Tarifbindung lehnt sie ab. Eine Analyse des Leibniz-Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) zeigt, das Programm der AfD würde eine weitere Umverteilung von unten nach oben bewirken. Dass sich die Partei mit dem Verein »Zentrum« zum wiederholten Mal für die Betriebsratswahlen rüstet und dies obendrein mit der Ansage tut, den DGB-Gewerkschaften das Wasser abgraben zu wollen, verdeutlicht, dass die Gewerkschaften nichts Gutes von einer solchen Regierung zu erwarten hätten.

Dass der Faschismus ein Herrschaftsinstrument war, zu dem die Funktionseliten der Weimarer Republik gegriffen hatten, »nachdem die Demokratie nicht mehr den Profit sicherstellen« konnte und »mit den Herrschaftsmethoden der Demokratie nicht mehr zu regieren war«, hatte der langjährige Bezirksleiter der IG Metall in Baden-Württemberg, Willi Bleicher, bereits vor vielen Jahrzehnten analysiert. Die politische Linke ist also zu Recht besorgt. Aus dieser Sorge ergibt sich ein strategisches Dilemma. Besser den Sozialabbau von Union und SPD tolerieren, als den Bruch zwischen den Koalitionären und eine AfD-Regierung zu provozieren? Die drohende Alternative einer konservativ-rechten Bundesregierung könnte sich also folgenschwer auf linke Gegenstrategien auswirken und diese lähmen.

Vor dem Hintergrund sozialer Einschnitte, die auf die Zerschlagung des Sozialstaates hinauslaufen würden, trägt jedoch die Argumentation von der SPD als kleinerem Übel nicht mehr. Statt die große Koalition zu schonen, muss die politische Linke ihre gesamte Mobilisierungskraft in die Waagschale werfen, um diese Angriffe zurückzudrängen. Insbesondere die Gewerkschaften müssten zum Motor für den Aufbau gesellschaftlicher Bündnisse mit Kirchen, Sozialverbänden und lokalen Initiativen werden. Ein Blick nach Belgien zeigt, wie das geht. Seit dem Frühjahr organisieren die drei großen Gewerkschaftsbünde ihre Proteste gegen die Kürzungspläne der rechten »Arizona«-Regierung. Auch in Frankreich gehen Hunderttausende gegen die Macron-Regierung auf die Straße. Und die Generalstreiks in Italien waren nicht nur Mobilisierungen gegen den Genozid in Gaza, sondern auch gegen die sozialen Zumutungen der italienischen Regierung.

Der Aufstieg der AfD lässt sich nicht im Wartestand verhindern. Im Gegenteil: Passivität ermöglicht es Merz und Spahn, die reaktionäre Kooperation hinter den Kulissen vorzubereiten. Läuft der »Herbst der Reformen« ohne nennenswerten Protest durch, ist der Aufstieg der AfD zur stärksten politischen Kraft möglicherweise nicht mehr aufzuhalten.

Ulrike Eifler ist Sprecherin der Bundesarbeitsgemeinschaft Betrieb und Gewerkschaft und Mitglied des Vorstands von Die Linke

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