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Aus: Ausgabe vom 04.10.2025, Seite 9 / Kapital & Arbeit
Kürzungspolitik

Frankreich protestiert weiter

Hunderttausende an drittem Aktionstag gegen die Regierung auf der Straße. Premierminister Lecornu hat offensichtlich nichts anzubieten
Von Bernard Schmid, Paris
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Landesweit waren Menschen gegen die Kürzungsplände der Regierung auf der Straße

Hunderttausende Menschen haben sich in Frankreich erneut an landesweiten Protesten gegen die Regierung beteiligt. Dem Gewerkschaftsbund CGT und anderen Verbände zufolge nahmen am Donnerstag 600.000 Menschen an dem gewerkschaftlichen Aktionstag teil. Das Innenministerium wollte 195.000 gesehen haben, darunter 24.000 allein in Paris. Über die Hauptstadt hinaus wurde an 250 weiteren Orten demonstriert. Beim vorausgegangenen Protesttag am 18. September hatten die Gewerkschaften noch von einer Million Teilnehmern gesprochen. Die geringere Beteiligung an den Protesten gegen die Regierungspolitik dürfte allerdings nicht auf etwaige Angebote zurückzuführen sein. Solche Versuche des Kabinetts erwiesen sich noch am selben Tag als substanzlos.

Dritter Aktionstag

Ein Grund für die schwächere Mobilisierung dürfte vielmehr darin zu suchen sein, dass Lohnabhängige ihre finanziellen Ausfälle in Frankreich häufig selbst übernehmen. Streikkassen gibt es nicht immer, wobei bei großen sozialen Bewegungen wie 2023 spezielle Kampagnen für deren Einrichtung durchgeführt werden und wurden. In früheren Jahrzehnten bis zu den Neunzigern konnten Beschäftigte allerdings regelmäßig – bei erfolgreichem Arbeitskampf – in einem »Nachstreik« die Lohnzahlung für die Streiktage durch Betriebe erwirken. Das heutige Kräfteverhältnis erlaubt dies in der Regel nicht. Viele Lohnabhängige scheinen sich angesichts der Krise und drohenden Austeritätszeiten überlegt zu haben, ob sie sich den Ausfall eines Tagesverdiensts leisten können. Die etablierten Gewerkschaftsverbände hatten zunächst keine über einen 24stündigen Rahmen hinausweisende Kampfperspektive angeboten.

Um ein neues Misstrauensvotum zu verhindern, traf der neue französische Premierminister Sébastien Lecornu am Freitag vormittag die sozialdemokratische und extrem rechte Opposition. Vom Parti socialiste (PS) und dem Rassemblement national (RN) aber bemerkten die Spitzenpolitiker, Olivier Faure respektive Marine Le Pen, sie seien vollständig im unklaren gelassen worden über Lecornus Haushaltspläne und könnten der Regierung folglich keine Tolerierung versprechen. Lecornu versuchte sich dann mit der Aussage zu retten, den Haushalt nicht ohne Abstimmung durch das Parlament zu bringen. »Ich habe entschieden, auf den Verfassungsartikel 49.3 zu verzichten, der der Regierung erlaubt, die Debatten abzubrechen«, sagte Lecornu am Freitag in Paris. Vor den Protesten hatte er noch soziale Maßnahmen angekündigt, um den Unmut etwas zu dämpfen.

So sollten »Ehepaare, bei denen beide den gesetzlichen Mindestlohn verdienen«, künftig von der Einkommenssteuer befreit werden, ließ sein Büro verlauten. Der französische Mindestlohn SMIC beträgt derzeit rund 1.430 Euro netto monatlich bei Vollzeitarbeit. Doch bereits jetzt bezahlt in Frankreich keine Einkommenssteuer, wer genau auf dem Mindestlohnniveau liegt. Diese Abgabe bezahlen derzeit rund fünfzig Prozent der Haushalte in Frankreich; die Bemessungsgrenze dafür liegt ein wenig oberhalb des SMIC. Einkommensschwächere Haushalte bezahlen natürlich dennoch Steuern, etwa Verbrauchs- und andere indirekte Abgaben, beispielsweise Mehrwert- und Spritsteuer.

Inhaltsleere Ankündigung

Im Hinblick auf den in seinen inhaltlichen Konturen noch immer unbekannten Staatshaushalt für 2026 und die Austeritätsbeschlüsse der Vorgängerregierung unter François Bayrou halfen diese Vorstöße nicht. Am Donnerstag nachmittag versuchte die Dienststelle des Premierministers eilig nachzubessern, da die inhaltsleere Ankündigung bereits für Unmut in der Öffentlichkeit sorgte. Nun sollte, so hieß es, die Einkommenssteuerbefreiung für »Ehepaare, die knapp oberhalb des SMIC verdienen«, gelten. Überstundenzuschläge bei Lohnabhängigen, versprach der Premier dabei, sollten steuerbefreit werden. Auch das gibt es aber bereits, seit dem Jahr 2022.

Zwar muss der Budgetvorschlag im Prinzip noch im Oktober auf dem Tisch der Parlamentarier landen. Weiterhin ist aber nichts Konkretes bekannt. Ein Interview, das Lecornu am Sonnabend voriger Woche der Tageszeitung Le Parisien gegeben hatte, war so inhaltsleer wie seine Versprechen am Donnerstag. Auf die Frage, ob die Kürzungen im Entwurf unterhalb der 44 Milliarden Streichungen seines Vorgängers Bayrou liegen würden, erklärte Lecornu lediglich, »einen transparenten und rechtzeitig kommenden Haushaltsentwurf« vorzulegen. Die Proteste dürften weitergehen.

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