Journaille in Aktion
Von Andreas Müller
Hätte vor einhundert Jahren der Erste Weltkrieg ohne mediale Unterstützung stattfinden können? Den Kriegstreibern, Flottenrüstungsgenerälen und Kolonialpolitikern spielte es im Ringen um die sogenannte Neuaufteilung der Welt und die Durchsetzung nationaler Interessen prächtig in die Hände, dass sich just in der Phase vor 1914 die Zeitungspresse als wirtschaftliches und politisches Schwergewicht etablierte und damit eine völlig neue Kraft im »Kampf um die Köpfe« auf den Plan trat. Technische Fortschritte, wirtschaftliche und soziale Entwicklungen schufen ein Voraussetzungsgefüge, das es für die Medien bis dato nicht gab. Moderne Druckmaschinen ermöglichten hohe Auflagen, boomende Städte sorgten für reichlich Publikum, Informationen ließen sich schneller und besser übermitteln und Zeitungen besser von A nach B transportieren. Zunehmende Konkurrenz im Wirtschaftsleben führte zum Siegeszug von Reklame und Inseraten, was wiederum die Produktion der Zeitungen verbilligte, Einfluss auf ihren Preis hatte und der Verbreitung bei neuen Leserschichten half.
Aufgrund des Zusammenspiels all dieser Komponenten schoss insbesondere in der Reichshauptstadt Berlin, deren Einwohnerzahl sich von gut 800.000 im Jahre 1871 auf etwa zwei Millionen nach der Jahrhundertwende mehr als verdoppelte, die sogenannte Massenpresse kometenhaft empor und führte zur Herausbildung gleich mehrerer Großverlage. Der Berliner Lokal-Anzeiger aus dem Hause August Scherl brachte es in den 1890er Jahren auf fast 170.000 verkaufte Exemplare täglich und war zu diesem Zeitpunkt das auflagenstärkste deutsche Blatt. Verleger Rudolf Mosse führte sein Berliner Tageblatt bis unmittelbar vor Kriegsausbruch zu einer Auflage von sogar fast einer Viertelmillion Exemplaren. Zehn Jahre vorher war Verleger Leopold Ullstein mit seiner B. Z. am Mittag auf den Gedanken gekommen, seine »schnellste Zeitung der Welt« nicht mehr im Abonnement zu vertreiben, sondern durch ein Heer von fliegenden Händlern. In Ullsteins Händen lag ebenfalls die Berliner Illustrirte, mit fast einer Million Exemplaren vor dem Ersten Weltkrieg die auflagenstärkste Zeitschrift in Deutschland.
Erfolgreich und gefährlich
Mit ihren oft seichten Inhalten, wegen regelrechter Reklameschlachten zwischen den konkurrierenden Blättern und neuartiger Vertriebssysteme dürfen die Blätter aus den drei Berliner Großverlagen getrost als Vorläufer des Boulevardjournalismus aktueller Prägung gelten. Mit Klatsch und Tratsch und möglichst großen Schlagzeilen ging es zunächst vor allem um wirtschaftlichen Erfolg und darum, neue Leserschichten zu erschließen. Die gemeinhin unter der Gattung »Generalanzeiger-Presse« subsumierten Blätter hatten sicherlich keine eindeutige politische Zielrichtung oder gar eine Strategie, ihr Publikum für kriegerische Auseinandersetzungen mit den europäischen Nachbarn freundlich zu stimmen. Diese Gattung gab sich vielmehr unpolitisch, lenkte mit der Jagd auf ständig neue Schlagzeilen und Sensationen vom großen Weltgeschehen und seinen Zusammenhängen eher ab – und nahm auf diese Weise tagtäglich zumindest indirekt beträchtlichen politischen Einfluss auf ihre Kundschaft. Aufgrund ihrer Geschäftstüchtigkeit spielten die »unabhängigen« »überparteilichen« Blätter in der seinerzeit völlig veränderten Presselandschaft zwangsläufig den Part des medialen Verführers, der sein Publikum zwar nicht aktiv in die Katastrophe führt, aber auch nichts unternimmt, um vor der drohenden Gefahr zu warnen und ihr zu begegnen. Im Unterschied zu jenen Blättern, die ihre Leserschaft eher passiv beeinflusste, geben die Leipziger Neuesten Nachrichten das Paradebeispiel einer Zeitung, die aktiv und gezielt und äußerst einflussreich zündelte – mit verheerenden Konsequenzen.
Eine gigantische Werbekampagne überschwemmte im Herbst 1892 Leipzig. Rund 30.000 Haushalte erhielten wochenlang gratis die Leipziger Neuesten Nachrichten (LNN). Im Jahre 1860 als Leipziger Nachrichten begründet, hatten die Brüder Edgar und Paul Herfurth dem Buchdrucker Guido Reusche sein eher unbedeutendes Blatt für 80.000 Mark abgekauft. Unter dem Dach des eigens dafür gegründeten Verlags Edgar Herfurth & Co. wurden die Leipziger Nachrichten im Titel zeitgemäß um das Wörtchen Neueste erweitert und unverzüglich auf ein bis dato unbekanntes Niveau gehoben.
Der Erfolg des Werbewirbels ließ nicht lange auf sich warten. 15.000 Abonnements, etwa das Dreifache des Vorgängerblatts, konnten auf diese Weise bis Ende des Jahres an den Mann gebracht werden. Und es wurden immer mehr Leser, denen der Neuling auf dem Zeitungsmarkt sympathisch erschien. So viele, dass der beunruhigte Parteivorstand der Sozialdemokraten im Jahre 1894 seine fähigsten Köpfe an die Ufer der Pleiße schickte, um die Leipziger Volkszeitung zu gründen und ein Gegengewicht zu schaffen. Rosa Luxemburg und Franz Mehring gaben dem Parteiblatt zwar viel Format und kämpften energisch gegen Militarisierung, Aufrüstung und Kriegsgefahr – den Aufstieg der LNN zur größten deutschen Tageszeitung außerhalb von Berlin vor dem Ersten Weltkrieg aber konnte auch die prominente LVZ-Redaktion nicht verhindern.
Nach fünf Jahren war die tägliche Auflage der LNN schon bei über 35.000 Exemplaren angelangt, 1908 wurde die Marke von 100.000 Exemplaren überwunden. Wirtschaftlich und verlegerisch erfolgreich, entwickelte sich die LNN inhaltlich zu einem der bedeutendsten Sprachrohre, die täglich auf die Kriegskatastrophe hinschrieben. Gemessen an ihrer inhaltlichen Ausrichtung darf diese Zeitung durchaus als journalistische Speerspitze auf dem Weg zum Ersten Weltkrieg gelten, in den Deutschland offiziell am 1. August 1914 eintrat.
National oder antinational
Die Methode der Gratisverteilung war so neu wie später die Idee, altes Zeitungspapier wiederzuverwerten und damit 50.000 Festmeter Holz pro Jahr zu sparen. Das half nicht nur Kosten zu senken, sondern erhöhte zugleich das Ansehen des Leipziger Blattes bei der Leserschaft. Investiert wurde klug und geschickt. So setzte Edgar Herfurth 1898 als erster deutscher Verleger die Linotype-Setzmaschine ein. Elf Jahre später nahm er in Europa die erste 64seitige Zwillingsrotationsmaschine in Betrieb. Pfiffig wurde ebenfalls Personalpolitik betrieben. Man lotste Richard Bühle, bis dato Chefredakteur des Generalanzeigers für Leipzig und Umgebung, und einige weitere Mitarbeiter zum Herfurthschen Unternehmen und schwächte damit nebenbei die Konkurrenz.
Alle Bestrebungen kulminierten in einem kompakten Konzept der Leipziger Neuesten Nachrichten. Aus dem gerade aufkommenden politischen Zeitgeist destilliert, wurde ein Grundmotto in den täglichen Leitartikeln pausenlos und nur leicht variiert immer wieder aufgegriffen und der Leserschaft sowie den Regierenden in Berlin unentwegt eingetrichtert: »Der Gegensatz der Zukunft lautet einzig und allein – national und antinational!« Mit dem Hinweis auf die »nationale Aufgabe« redete die Zeitung der rücksichtslosen Kolonialpolitik ebenso das Wort wie der aggressiven Außenpolitik und dem Ringen um die »Neuaufteilung der Welt«. Ein wichtiges Anliegen sah das Blatt zugleich darin, für eine neue und bessere deutsche Kriegsflotte zu kämpfen.
Auch innenpolitisch trat der Kurs offen zutage: Der beständige Ruf, »Front zu machen gegen die Mächte des Umsturzes«, also gegen die Sozialdemokraten, komplettierte die wesentlichen inhaltlichen Säulen der LNN-Konzeption. Die »Roten«, wurden offen und massiv und bei jeder Gelegenheit angegriffen. Die Sozialdemokraten, so die ständig wiederholte Botschaft, seien mit den »nationalen Interessen« unmöglich auszusöhnen. »Wolf und Lamm dürften vergnüglich Hochzeit feiern, ehe aus der Umsturzpartei eine Reformpartei geworden ist«, hieß es 1905 vielsagend.
Raffiniert und subtil wurde überdies die Botschaft verbreitet, dass die Forderungen und Zielstellungen des Blattes, »national« und »deutsch« verbrämt, den ureigensten persönlichen Interessen eines jeden Lesers und der gesamten Bevölkerung entsprächen – nach außen wie im Inneren. Selbst der Arbeiterschaft versuchte man einzureden, dass »ihre Interessen im Wesen sich nicht von denen ihrer Arbeitgeber unterscheiden«.
Die Leipziger Neuesten Nachrichten hatten in der Ära vor 1914 den Völkerhass wohl so sehr wie kein anderes deutsches Blatt geschürt. In welchem Maße die Zeitung ihr nationalistisches Konzept strapazierte, verrät ein Schreiben von Ernst Hasse, kurzzeitig Chef des keineswegs zimperlichen Alldeutschen Verbandes: »Als in diesen Tagen ein in Österreich lebender hochangesehener Norddeutscher sich an mich mit der Anregung wandte, auch in Deutschland ein radikalstes Blatt zu begründen«, so Hasse im Jahre 1904, »da habe ich ihm geraten, doch erst einmal einige Zeit die Leitartikel der Leipziger Neuesten Nachrichten zu lesen. Er werde finden, dass für einen im deutschen Reiche überhaupt möglichen Radikalismus der Bedarf gedeckt sei.«
Hetzerische Leitartikel
Besonders in den täglichen Leitartikeln auf Seite eins wurde das verlegerische Credo gepflegt: Energisch, kompromisslos und wirkungsvoll. Mit Paul Liman hatte man für diesen wichtigsten Part einen der besten Leitartikler seiner Zeit engagiert. Von 1893 bis zu seinem Tode 1916 schrieb der »Redakteur mit Ministereinkommen« seine in der Form glänzenden, in der Aussage um so gefährlicheren Kommentare und Texte.

Paul Liman, Jahrgang 1860, besuchte das Gymnasium in Cottbus und anschließend die Universitäten in Halle, Berlin, Greifswald und Kiel, wo er Geschichte und Philosophie studierte. Nach einigen Jahren als Rektor einer Privatschule in Meran in Südtirol kehrte er nach Deutschland zurück und wechselte 1890 in den Journalismus. Zunächst heuerte er als politischer Redakteur bei den Dresdner Neuesten Nachrichten an, doch in der Ära des deutschen Kanzlers Leo von Caprivi, der von 1890 bis 1894 regierte, kam es zu schweren Differenzen über den redaktionellen Kurs. Liman, ein glühender Bismarck-Verehrer, weigerte sich, Bismarcks Nachfolger im Amt des Reichskanzlers publizistisch zu unterstützen, so dass der DNN-Verleger seinen Mitarbeiter gewissermaßen wegen Arbeitsverweigerung auf 60.000 Mark verklagte. Angesichts dieser Umstände ist es erstaunlich, dass der prominente »Claqueur Bismarcks« erst 1893 von der Elbe zur Pleiße und zu den Leipziger Neuesten Nachrichten wechselte. Paul Liman verfasste hier neben seinen täglichen Leitartikeln zahlreiche Bücher, in denen er vornehmlich Bismarck sowie die Hohenzollern-Könige verherrlichte: »Bismarck in Geschichte, Karikatur und Anekdote«, »Fürst Bismarck nach seiner Entlassung«, »Bismarcks Denkwürdigkeiten aus seinen Briefen, Reden und letzten Kundgebungen«.
Bei seinem neuen Arbeitgeber kam Liman nie in die Verlegenheit wie vordem als journalistischer Einsteiger in Dresden, Caprivi-freundliche Leitartikel verfassen zu sollen. Ganz im Gegenteil ließ man ihm in Leipzig freie Hand, den ersten Reichskanzler in der Nach-Bismarck-Ära zu attackieren und zu kritisieren. Gern auch mal frontal, wie in der Ausgabe vom 7. März 1893:
»Hat doch bisher das Regiment des Grafen Caprivi für unser Kolonialwesen nur Misserfolg auf Misserfolg gebracht. Sein System war das der halben Maßregeln. Schon als Chef der Admiralität hat Herr von Caprivi den Kolonien gegenüber sich so zurückhaltend wie möglich gezeigt. Als er Reichskanzler wurde, da stellte er sich von Neuem dieser Frage kühl bis ans Herz hinan gegenüber (…) Kein großer Gedanke, keine stetige Entwicklung nach einem festen, mit weiter Perspektive angelegten Plan, sondern nur das ›Fortwursteln‹ (…) In dieser persönlichen Stellungnahme des Kanzlers liegt der tiefste Grund aller unserer Kalamitäten im fernen Afrika. Mittel sind vorhanden, Neigung im Volk und in seinen patriotischen Kreisen, kaufmännische Unternehmungslust. Alles ist seit Jahren da, nur Graf Caprivi ist, wie er sagte kein ›Kolonialschwärmer‹. Wenn er einst Sansibar ohne Not aufgab, wie soll da deutsches Kapital sich in Afrika engagieren? Wenn er es duldet, dass in einer Reihe von Schlappen der deutsche Name der Missachtung der Eingeborenen preisgegeben wurde, so kann das für den Fortgang unserer Unternehmungen kaum einen Nutzen bedeuten.«
Peterssches Hartholz
Ein besonders Anliegen sahen die LNN und ihr Verleger Edgar Herfurth darin, für eine neue und bessere deutsche Kriegsflotte zu kämpfen. Nicht zuletzt dank der regen Feder ihres Leitartiklers kann diese einflussreiche Tageszeitung nachgerade als journalistischer Taufpate einer gewaltigen Flottenkampagne gelten, die der Alldeutsche Verband im Jahr 1896 – bezeichnenderweise und ganz sicher nicht zufällig – justament in Leipzig lostrat. »Bei dem steten Wachstum des deutschen Welthandels und der deutschen Handelsflotte braucht unsere überseeische Politik auch in Friedenszeiten einzelne Kriegsschiffe und ganze Geschwader in allen Teilen der Erde zur Wahrung des Ansehens und zum Schutze unserer Rechte«, hatte man sich in den LNN schon vorher eingestimmt. »Der mächtige deutsche Handel, der zweitgrößte der Welt, ist es, der gebieterisch einen kräftigeren Schutz zur See verlangt, damit er unserer Industrie neue Arbeitsfelder erschließen, unserem Vaterland neuen Wohlstand zuführen kann.«
Neue Arbeitsfelder, das hieß in erster Linie: neue Kolonien. »Auch das ist Friedenspolitik«, suggerierten die LNN ihren Lesern, »wenn Deutschland sich endlich anschickt, an der großen Arbeit der expansiven Zivilisation seinen Anteil zu nehmen.« Die richtigen Leute für diese Aufgabe sah die Zeitung in Männern wie Carl Peters, der bei seinen Eroberungsfeldzügen in Afrika vor Morden an Wehrlosen nicht zurückschreckte. Als sein Vorgehen im Reichstag von einem Abgeordneten der Zentrums-Partei scharf attackiert wurde, hoben die LNN zu Peters Verteidigung an. Einem Engländer oder Franzosen wäre niemals eingefallen, »schon den einen Mörder zu nennen, der (…) sich gezwungen sieht, das Leben einiger Schwarzer dranzugeben«. Nur Rücksichtslosigkeit verspreche eine erfolgreiche Mission. »Aus Weichholz ist keiner jener Männer geschnitzt gewesen, die in Wahrheit die Vorkämpfer, die Ausbreiter der Zivilisation waren. Dazu ist Peterssches Hartholz nötig.«
Nur folgerichtig, dass die LNN angesichts solcher Töne von der Ortsgruppe der Deutschen Kolonialgesellschaft quasi als ihr Vereinsorgan anerkannt und benutzt wurden. Diese Nähe störte Edgar Herfurth ebenso wenig wie die zum Alldeutschen Verband, obwohl der Verleger ansonsten auf strikte Unabhängigkeit von Parteien achtete. Ein führender Vertreter der Zeitung saß sogar im geschäftsführenden Ausschuss des Alldeutschen Verbandes, regelmäßig wurden Berichte über dessen nichtöffentliche Sitzungen abgedruckt. Bei alldem war es bestens kalkuliert und feste Absicht, dass die LNN nur anderthalb Jahre nach der Gründung des Alldeutschen Verbandes im April 1891 ins mediale Rennen gingen.
Mit ihrer nationalistischen Ausrichtung sprach die Zeitung ein ganz unterschiedliches Publikum an: Industrielle und Gutsbesitzer, Akademiker, den Mittelstand und selbst Arbeiter. Um so mehr als der »politische Teil« von weit gefächerten anderen Themenangeboten flankiert wurde. Da gab es die Seiten für »Lokales« und »Sächsisches«, für Kultur, Sport und Rätsel, den »Gerichtssaal« oder Rubriken für das Vereinsleben sowie ein verwirrendes Netz an Rabattsätzen für Anzeigenkunden und zahlreiche nützliche, beliebte Serviceleistungen. Die Leser konnten zum Beispiel werktags gegen Vorlage der Abonnementsquittung in die Redaktion kommen und juristische Auskünfte einholen.
»Kriegsgewinnler« und Pionier
Die Verleger Edgar und Paul Herfurth waren Sprösslinge einer begüterten Tuchmacherfamilie. Ihre Schwester Alice heiratete 1876 in die Leipziger Bankiersdynastie Frege ein. Eine Verbindung, die sich in zahlreichen Privatkrediten niederschlug, die dem Projekt LNN vom Start weg zu einer soliden wirtschaftlichen Basis verhalf. Etwa 320 verlagseigene Austräger sorgten 1911 dafür, dass die Zeitung jeden Tag pünktlich zugestellt wurde. Im selben Jahr arbeiteten in der Hauptgeschäftsstelle und den acht Filialen 71 Beschäftigte, im Maschinensaal 23, in der Handsetzerei 106 und im Korrekturraum 15. Insgesamt wirkten in der Spitze an die 1.500 Personen an dem für damalige Verhältnisse gigantischen Apparat der Leipziger Neuesten Nachrichten mit. Allein 800 vornehmlich freie redaktionelle Mitarbeiter trugen unermüdlich Informationen und Texte aus dem In- und Ausland für die Zeitung herbei.
Dieses für die damalige Zeit gewaltige Gerüst wollte finanziert sein – und machte sich bezahlt. Die Auflage war bis zur Jahrhundertwende auf 60.000 Exemplare emporgeschnellt. In einem Inserat bezeichneten sich die LNN 1914 als die »weitaus verbreitetste Zeitung Sachsens und ganz Mitteldeutschlands« und verwies auf »zirka 145.000 Abonnenten in den wohlhabenden und kaufkräftigsten Kreisen«. In den ersten Jahren des Weltkriegs avancierten das Blatt und seine Besitzer mit täglich bis zu 259.000 verkauften Exemplaren zu echten »Kriegsgewinnlern«. Wobei ein Viertel der Auflage in Gebiete außerhalb von Sachsen verschickt wurde und die Zeitung ihre überregionale Bedeutung ausbaute.
Der wirtschaftliche Aufstieg spiegelte sich auch in den Unternehmungen außerhalb des Pressebetriebes. Verleger Edgar Herfurth, mitunter gern als »deutscher Pulitzer« tituliert, erwarb neben anderen Liegenschaften unter anderem Anteile am Hotel »Continental« in unmittelbarer Nähe des Hauptbahnhofs. Auf seine Anregung hin und mit finanziellen Zuwendungen der Herfurths gründete Karl Bücher 1916 an der Leipziger Universität das erste zeitungswissenschaftliche Institut in Deutschland. Ebenso gingen die 1929 an der Leipziger Handelshochschule eingerichteten Fächer für Wirtschaftsjournalismus und Zeitungsbetriebslehre auf Anregungen von Edgar Herfurth zurück. Sein verlegerischer Erfolg und seine Verdienste um den journalistischen Nachwuchs werden jedoch schwer überschattet von der politischen Ausrichtung seiner Zeitung als Stimme der Kriegstreiber und besonders lautem Sprachrohr deutschen Expansionsstrebens.
Verboten und enteignet
Am 18. April 1945 erschien die letzte Ausgabe der LNN. Es handelte es sich nur mehr um ein einziges Blatt, nachdem Druck- und Verlagsgebäude im Zweiten Weltkrieg fast vollständig zerstört worden waren. An jenem Tag im April waren US-Truppen in die Stadt Leipzig eingerückt und verhängten sofort ein Erscheinungsverbot für das Blatt. Kurz darauf, Anfang Juli, änderten sich die Verhältnisse abermals gravierend. Die alte Messestadt wurde Teil der sowjetischen Besatzungszone, die LNN-Eigentümer im Jahr darauf enteignet. Zu diesem Zeitpunkt war Edgar Herfurth längst ins oberfränkische Marktredwitz übergesiedelt, wo er 1950 verstarb. Sein Bruder Paul war bereits 1937 in Markkleeberg im Leipziger Süden verstorben.
Noch bis in unsere Tage hatten die Erben der Herfurths versucht, Ansprüche auf Entschädigung geltend zu machen. Sie prozessierten jahrelang, unterlagen vorm Verwaltungsgericht Dresden und zogen vors Bundesverwaltungsgericht in Leipzig, das ihre Klage 2015 endgültig zurückwies. Die Richter beriefen sich bei ihrer Entscheidung insbesondere auf Vorgänge in der Zeit der Naziherrschaft. Denn die Zeitung durfte in Nazideutschland weiter erscheinen, nachdem ihre Eigentümer 1936 einem NSDAP-Verlag 51 Prozent ihrer Geschäftsanteile überschrieben hatten – und demzufolge 49 Prozent behielten. Ein »Pakt mit dem Teufel«, zu dem ebenfalls gehörte, fortan das Naziregime redaktionell zu unterstützen. Aggressiv-nationalistisch zu trommeln und journalistisch zum Krieg zu rüsten, darin hatte man ja bereits reichlich Übung – seit 1892.
Andreas Müller schrieb an dieser Stelle zuletzt am 27. August 2025 über Bewegungsmangel bei Schülerinnen und Schülern: »Auf dem Weg in die Sitzgesellschaft«
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