Ganz schön blau
Von Marc Hieronimus
Menschheitsgeschichte ist weit mehr als Naturgeschichte eine Erzählung, und zwar die lückenhafte der siegreichen Nachfahren. Unzählige Fragen bleiben offen, und wenn es heißt, Forscher haben etwas herausgefunden, ist meist nur ein neues Mosaiksteinchen aufgetaucht, das das alte Bild komplettiert oder in Frage stellt. Auf vieles hat die Geschichts-»Wissenschaft« keine Antwort. Wie haben die Ägypter mit ihren einfachen Werkzeugen die Steinblöcke der Pyramiden formen können? Wieso fanden die technischen und wissenschaftlichen Revolutionen der Neuzeit nicht schon in der griechischen oder römischen Antike statt? Wieviel Wahrheit, wieviel Dichtung steckt in den Erzählungen von Gilgamesch, Odysseus oder auch nur Karl dem Großen?
Aber der Historiker hat es immer noch leichter als der sogenannte Zukunftsforscher. Einigermaßen plausibel und erzählerisch stringent Geschehenes aus Quellen und Überresten zu (re)konstruieren benötigt weniger Phantasie und Erzählkunst als vom Jetzt auf zukünftige Entwicklungen zu schließen. Jens Harder ist glücklicherweise alles: Universalhistoriker, Künstler und Prophet. Für die Kühnheit seines Vorhabens, nicht weniger als die Geschichte des Kosmos und allen bekannten Lebens darin in einer Art Comic darzustellen, hat er 2010 in Angoulême den Prix d’audace verliehen bekommen. Damals war nach fünfjähriger Arbeit gerade »Alpha« erschienen, der Band zur Naturgeschichte und »ehrgeizigste Comic der Welt« (Die Zeit).
Kommt es zur Menschheitsgeschichte, steigt natur- bzw. kulturgemäß die Zahl der delikaten Themen drastisch an, doch verwegen springt Harder in den zwei »Beta«-Bänden selbst in abseitige Fettnäpfe. »Das Abenteuer Kreuzzüge endet in einer Reihe blutiger Desaster«, kommentiert er da, als wären sie das nicht von vornherein gewesen. Zur Erfindung des Buchdrucks formuliert er, »Neue Formen der Datenverarbeitung« – vulgo: Bücher – »durchbrechen das religiöse Wissensmonopol und ermöglichen bessere Bildung und Teilhabe« (S. 184). Dazu schrieb der Rezensent in seiner jW-Besprechung vom 24.1.2023: »Das klingt wie aus der Jobcenterbroschüre abgeschrieben: ›Sie sind Leistungsempfänger und haben schulpflichtige Kinder? Beantragen auch Sie das BuT-Bildungspaket bei Ihrem Amt für Soziales, Arbeit und Senioren!‹« Diese ungelenken Kommentare wiegen um so schwerer, als dass die Hauptarbeit des Künstlers sich bislang auf Auswahl und Reproduktion bereits vorgegebener Bilder reduzierte.

Erstaunlich schnell ist nun der letzte Band »Gamma« herausgekommen, der die Zukunft und das Ende unseres Heimatplaneten und seiner Galaxie ausmalt. »Wie schon bei den ersten drei Bänden habe ich mir – abgesehen vom zu beschreitenden Pfad der Entwicklungen – auch im letzten Teil meiner Buchreihe nichts ausgedacht«, schreibt er im langen Anhang. Insofern nichts Neues. Weder die Ausdrucksschwäche – das modale Partizip ist eine mehrdeutige Ersatzform für Passiv + Modalverb; kann, soll oder muss der Pfad der Entwicklungen beschritten werden? – noch die vermeintliche Objektivität: Mit dem vorhandenen und heute ja auch leicht zugänglichen Bildvorrat der Menschheit lässt sich deren Geschichte auch ganz anders deuten und weiterdenken, zum Beispiel mit einem geschichtlichen Subjekt, das den Pfad der Entwicklungen, von dem es zweifellos mehr als einen möglichen gibt, nicht einfach vorfindet und beschreitet, sondern ihn zuallererst schafft.
Was ist aber neu? Der auktoriale Erzähler von »Gamma« ist eine nichthumane Quelle aus der Zukunft mit Rechtschreibschwäche, aber im Vergleich zu seinem wortkargen Kollegen aus Alpha und Beta mit ausgeprägtem Mitteilungsbedürfnis. Für 2034 sagt er zum Beispiel voraus: »Mehrere Bo#benanschläge auf Deiche und anndere Küstensch-utzanla_gen. durch die Fanatische Bew_gung der HÖheren Bestimmung HIS.Will. (>Es Ist Se:n Wille<). Große Teile der Niederlande werden unwiyderbringlich ü8erflutet«. Das ist mühsam zu lesen, aber immerhin phantasievoll. Vieles wird auch erst einmal gut, nur die Rüstungs- und Pharmaaktionäre werden sich ärgern: 2027 verhindern EU-Streitkräfte die Annexion der »BalTenstatén« durch Russland, wo 2028 gegen Putin geputscht und »NeuRussland« gegründet wird. 2044 gilt Karies weltweit als besiegt. Später aber übernehmen Maschinen die Geschicke, der Planet wird trockengelegt, wieso, weshalb, das weiß man nicht, dann kommen die symbiotischen Boliden und die große Separation oder umgekehrt, und nach dem galaktischen Gewebe, dem großen Schwund und vielen Millionen und Milliarden Jahren der finale Zusammenprall als pankosmischer Doppelwumms.
Es ist schwieriger als in den ersten Bänden, der Erzählung zu folgen, auch aus rein optischen Gründen. Der Autor paust seine Vorlagen ab und koloriert sie einheitlich in Blau. Das funktioniert leidlich bei den wenigen Zitaten auf Einfachheit ausgelegter Vorbilder wie Infografiken, Comics oder Standbildern aus Matt Groenings Futurama, nicht aber bei der Masse von Bildern anderer Herkunft, wo es die Augen binnen kurzer Zeit ermüdet. Als ausgebildeter Grafiker müsste Harder das wissen. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Meister das Ding nach zwanzig Jahren endlich vom Tisch haben wollte.
Jens Harder: »Gamma«. Carlsen-Verlag, Hamburg 2025, 192 Seiten, 44 Euro
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