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Aus: Ausgabe vom 20.09.2025, Seite 3 (Beilage) / Wochenendbeilage

Marxismus und Kampfformen

Lenin 1906: Die revolutionäre Sozialdemokratie bindet sich nicht an bestimmte Kampfmittel, sondern beurteilt sie historisch-konkret
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Im Befreiungskampf gegen die deutsche Besatzung spielte der ­Partisanenkampf in mehreren europäischen Ländern eine wichtige Rolle. Der Partisan ­Kotscho Karadschow und Einwohner begrüßen im September 1944 ­Sowjetsoldaten im ­bulgarischen Lowetsch

Welches sind die Grundforderungen, die jeder Marxist bei der Untersuchung der Frage der Kampfformen stellen muss? Erstens unterscheidet sich der Marxist von allen primitiven Formen des Sozialismus dadurch, dass er die Bewegung nicht an irgendeine bestimmte Kampfform bindet. Er erkennt die verschiedensten Kampfformen an, und zwar »erfindet« er sie nicht, sondern fasst nur die im Verlauf der Bewegung von selbst entstehenden Formen des Kampfes der revolutionären Klassen verallgemeinernd zusammen, organisiert sie und verleiht ihnen Bewusstheit.

Zweitens fordert der Marxismus unbedingt ein historisches Herangehen an die Frage der Kampfformen. Diese Frage außerhalb der historisch-konkreten Situation behandeln, heißt, das ABC des dialektischen Materialismus nicht verstehen. (…)

Die europäische Sozialdemokratie hält gegenwärtig den Parlamentarismus und die Gewerkschaftsbewegung für die Hauptformen des Kampfes. (…) Die Sozialdemokratie hat in den siebziger Jahren den Generalstreik als ein soziales Allheilmittel, als Mittel zum sofortigen Sturz der Bourgeoisie auf unpolitischem Wege, abgelehnt – aber die Sozialdemokratie erkennt den politischen Massenstreik (besonders nach der Erfahrung Russlands von 1905) als eines der Kampfmittel, das unter bestimmten Bedingungen notwendig ist, durchaus an. Die Sozialdemokratie hat in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts den Straßen- und Barrikadenkampf anerkannt, sie hat ihn auf Grund bestimmter Voraussetzungen am Ende des 19. Jahrhunderts abgelehnt – und sie hat ihre völlige Bereitschaft erklärt, diese letztere Ansicht zu revidieren und nach den Erfahrungen Moskaus, das nach den Worten Karl Kautskys eine neue Barrikadentaktik hervorgebracht hat, den Barrikadenkampf als zweckmäßig anzuerkennen. (…)

Die Erscheinung, die uns hier interessiert, ist der bewaffnete Kampf. Er wird von einzelnen Personen und kleinen Gruppen geführt. Teils gehören sie revolutionären Organisationen an, teils (in manchen Gegenden Russlands zum größten Teil) gehören sie keiner revolutionären Organisation an. (…) Die Verschärfung der politischen Krise bis zum bewaffneten Kampf und insbesondere die Verschärfung der Not, des Hungers und der Arbeitslosigkeit in Stadt und Land spielten unter den Ursachen, die den geschilderten Kampf hervorriefen, eine große Rolle. Als hauptsächliche und sogar ausschließliche Form des sozialen Kampfes wurde diese Kampfform von den deklassierten Elementen der Bevölkerung, von Lumpenproletariern und anarchistischen Gruppen aufgegriffen. (…)

Die Bewertung, die man dem hier betrachteten Kampf gewöhnlich zuteil werden lässt, läuft auf folgendes hinaus: Das sei Anarchismus, Blanquismus, der alte Terror, es handle sich um Aktionen von Einzelpersonen, die von den Massen losgelöst sind, solche Aktionen demoralisierten die Arbeiter, stießen weite Kreise der Bevölkerung von ihnen ab, desorganisierten die Bewegung, schadeten der Revolution. (…)

Man sagt, der Partisanenkrieg bringt das klassenbewusste Proletariat den heruntergekommenen Trunkenbolden und Lumpenproletariern nahe. Das ist richtig. Hieraus folgt aber nur, dass die Partei des Proletariats den Partisanenkrieg niemals als einziges oder gar wichtigstes Kampfmittel betrachten darf; dass dies Mittel anderen Mitteln untergeordnet, mit den wichtigsten Kampfmitteln in Einklang gebracht und durch den aufklärenden und organisierenden Einfluss des Sozialismus veredelt werden muss. Ohne diese letzte Bedingung bringen in der bürgerlichen Gesellschaft alle, entschieden alle Kampfmittel das Proletariat verschiedenen über oder unter ihm stehenden nichtproletarischen Schichten nahe und werden, überlässt man sie dem spontanen Gang der Ereignisse, verdorben, verunstaltet, prostituiert. Streiks, die dem spontanen Gang der Ereignisse überlassen werden, sinken zu »Alliances« – Vereinbarungen der Arbeiter mit den Unternehmern gegen die Konsumenten – herab. Das Parlament entartet zum Bordell, in dem eine Bande von bürgerlichen Politikastern en gros und en detail mit »Volksfreiheit«, »Liberalismus«, »Demokratie«, Republikanismus, Antiklerikalismus, Sozialismus und allen sonstigen gangbaren Waren handelt. Die Zeitung verwandelt sich in eine feile Kupplerin, in ein Werkzeug zur Korrumpierung der Massen, das den niedrigsten Instinkten der Menge grob schmeichelt usw. usw. Die Sozialdemokratie kennt keine universalen Kampfmittel, keine, die das Proletariat wie durch eine chinesische Mauer von den Schichten trennen, die etwas über oder etwas unter ihm stehen. Die Sozialdemokratie wendet in verschiedenen Epochen verschiedene Mittel an, wobei sie ihre Anwendung stets von streng festgelegten ideologischen und organisatorischen Bedingungen abhängig macht.

Wladimir Iljitsch Lenin: Der Partisanenkrieg. In: Proletari Nr. 5, 30. September 1906. Hier zitiert nach: Wladimir Iljitsch Lenin: Werke, Band 11. Dietz-Verlag, Berlin 1974, Seiten 202–211

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