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Aus: Ausgabe vom 20.09.2025, Seite 6 (Beilage) / Wochenendbeilage
Rock

Wenn sie nicht mehr da sind

We play Rock ’n’ Roll: 50 Jahre Motörhead
Von Frank Schäfer
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»Es gibt ein paar Leute, die man ­unterwegs kennenlernt, die man ­erfinden müsste, wenn es sie nicht gäbe. Ich bin so ein Typ.« – Lemmy Kilmister

Motörhead galten lange Zeit nicht nur als die »lauteste«, sondern auch als die »schlechteste Band der Welt«. Dieses Verdikt, das wird angesicht der späteren Auratisierung leicht vergessen, war allgegenwärtig. Wenn man in der Schule zugab, AC/DC zu mögen, war man einfach nur ein unberatener Proll, aber wenn man von Motörhead schwärmte, konnte man bei den Connaisseurs einpacken. Dann fraß man auch kleine Dackelwelpen. Und zwar trotz Punk.

Punk wurde gerade von der Journaille hochgeschrieben, da konnte man nicht viel falsch machen. Punk war cool. Keiner hörte Motörhead, weil es cool war und man dazugehören wollte. Wer in den ganz frühen Achtzigern zugab, Motörhead zu mögen, war außerhalb der sich langsam konstituierenden Szene eigentlich nicht mehr satisfaktionsfähig. Man musste diese Musik schon wirklich mögen. Später hörte man oft, dass Motörhead die einzige Metal-Band gewesen seien, die auch Punks goutiert hätten. Mag schon sein. Mir ist damals kein Punk untergekommen, der uns zur Seite gesprungen wäre, wenn wir uns für Motörhead rechtfertigen mussten.

Ich kann mich noch erinnern, wie mein Bruder, ein immerhin mit Black Sabbath, Led Zeppelin und Kiss sozialisierter Lederjackenträger, auf ihren »Musikladen«-Auftritt reagierte. »Was ist denn das für ein Scheiß? Das ist ja nur Krach.« Und Moderator Manfred Sexauer musste sich in Ironie flüchten, weil er natürlich nicht in seiner eigenen Sendung indigniert über einen Gast den Kopf schütteln durfte. »Oijoijoijoijoi … Berlin erwacht, die lauteste Band der Welt – Motörhead.«

Diesen Widerstand mussten sie überwinden. Und dank ihrer stoischen Beharrlichkeit ist es ihnen schließlich gelungen. Man muss da gar keinen Heroismus bemühen, es ist nämlich das Gegenteil – gieriger, unverschnittener, über die Stränge schlagender Hedonismus. Lemmy und Co. machen einfach nur das, was sie machen wollen – auf der Bühne und im Leben. »Es hängt immer von den eigenen Entscheidungen ab, ob man unter die Räder kommt oder ob man seinen Weg geht. Schon Kant sagte: ›Wir sind verantwortlich für uns selbst.‹ In England mögen wir Kant, allein schon wegen seines Nachnamens.«

Bei »Ace of Spades« zahlte sich Motörheads Tourknochenmühle erstmals so richtig aus. Das Album erreichte Platz vier der englischen Charts und wurde vergoldet. Ein ziemlicher Erfolg für diese Trümmertruppe, der vielleicht gar nicht unbedingt der größeren Qualität der Songs geschuldet ist, sondern dem Gewöhnungseffekt. Man hatte das englische Publikum durch stetige Malträtierung mit ihrem Kaputtniksound bekannt gemacht, so dass es irgendwann in der Lage war, die Melodienuggets in diesem sonischen Geröllhaufen zu erkennen.

Die Mischung aus ganz altem Rock ’n’ Roll, heißgemachtem Boogie und dreckigem Punk konnte es mit der gerade über Europa hereinbrechenden New Wave of British Heavy Metal in Härte und Geschwindigkeit spielend aufnehmen, also sortierte man auch Motörhead dort ein, obwohl Lemmy schon damals stets darauf beharrte, einfach bloß Rock ’n’ Roll zu spielen. Das neue Genreetikett war ihnen trotzdem nützlich, weil sie innerhalb dieser sich konsolidierenden Szene eine Weile wenigstens als die rabiatesten, wildesten und gemeinsten Exponenten durchgehen konnten. Das rüde Image stärkend kam hinzu, dass nie ganz klar war, wo die Inszenierung aufhörte und das dreckige Leben begann. Das Westerncover mit den drei Outlaws, deren Gesichter man kaum erkennt, war dann auch beides – Theater und Beglaubigung. Beglaubigungstheater.

Volker besaß das Album als erster. Wir trafen uns fast täglich, hörten hin und sammelten die spärlichen Infos, die man von ihnen bekam, u. a. in der Bravo, die früher als andere Magazine Heavy Metal zumindest als Thema ernst nahmen. Aber wie man es auch drehte und wendete, keiner wurde richtig schlau aus Motörhead. Was waren das für fiese Typen? So fixt man kleine Kinder an. »Als berichtet wurde, dass Keith Richards’ Blut ausgetauscht werden sollte, hielt unser Manager es für eine sehr gute Idee, auch bei mir den ganzen toxischen Mist aus den Venen zu spülen und wieder ganz neu anzufangen. Wir suchten also meinen Arzt auf und ließen mein Blut untersuchen. Als wir am nächsten Tag wiederkamen, sagte er mir: ›Was immer sie tun, lassen Sie nicht ihr Blut austauschen – sauberes Blut würde sie umbringen!‹ Mein Blut hatte sich in eine Art Biosuppe verwandelt, darin waren alle möglichen Spurenelemente zu finden.«

»No Sleep ’til Hammersmith« war gerade erschienen, da las man in einem nicht mehr auffindbaren Bravo-Artikel, dass die Lautstärke ihrer Konzerte der eines startenden oder landenden Jumbo Jets entspreche. Etwas später wollte es das konkurrierende Teeniemagazin Popcorn dann aber ganz genau wissen und schickte einen Menschen mit Phonometer aufs Summernight Festival nach Stuttgart, wo neben Motörhead auch diverse andere harte Jungs ihr Leiden an der Industriegesellschaft hinausbellten und der »Journalist« enttäuscht feststellte, dass Motörhead auffällig, ja nachgerade bedenklich leise zu Werke gingen und nur den vierten Platz belegten – nach Foreigner, Blue Öyster Cult und immerhin Iron Maiden. Da war der Chef am Bass aber in höchster Erklärungsnot. Der Sound sei ihnen weggeweht, konzedierte Lemmy zerknirscht. Ein Grund dafür, weshalb er nicht so gern auf Open-Air-Festivals spiele. »In einer Halle wären wir die lauteste Band gewesen!« Ich vergaß diese Geschichte schnell wieder. Foreigner, also bitte … Vielleicht verdrängte ich sie auch nur.

Zum ersten Mal live sah ich Motör­head Mitte der Achtziger. Sleaze war der heißeste Scheiß, Metaller hatten plötzlich die Haare schön, und Lemmy ließ direkt vor sich am Bühnenrand eine leistungsstarke Windmaschine aufstellen. Mit dem Rickenbacker vorm Bauch wankte er zu seinem Mikrogalgen, warf kokettierend den Kopf zurück, fuhr sich wie ein Modell in einem Drei-Wetter-Taft-Jingle mit beiden Händen durch die versplisste, strähnige Mähne und ließ sie im Luftstrom flattern. Die Menge verstand ihn nur zu gut und schnappte über. »­MO-TÖR-­HEAD … MO-TÖR-HEAD …« Er grinste verschlagen, hob geziert eine Hand und sagte dann schwul wie nur was: »Yes, I know!«

Spätestens da lernte ich, Lemmy vorbehaltlos zu mögen und all seine kleinen Dummheiten, seine Passion für Nazidevotionalien, seine manchmal etwas schmierigen Machosprüche, seine bisweilen etwas arg simplen politischen Statements ohne weiteres zu tolerieren. Weil er das besaß, was alle wirklich großen Bühnenpersönlichkeiten besitzen müssen, um von mir gemocht zu werden – ausreichend Selbstironie. Er konnte seine Rolle aus dem Effeff, hatte all die Rockerphrasen und -stereo­typen hundertprozentig drauf, und das gab ihm stets die Souveränität, mit einem diebischen Jokerlachen die Show, das Geschäft und sich selbst gleich mit als großen Bluff zu entlarven. Wann immer er sich äußerte, konnte man zwischen den Zeilen immer auch ein belustigtes Achselzucken vernehmen, das den großen Statements über das Leben und das Leiden und den ganzen Zinnober dazwischen etwas von ihrer bedeutungheischenden Wichtigkeit nahm. »We are Motörhead – and we play Rock ’n’ Roll«, damit war eigentlich immer schon alles gesagt.

»Ich befinde mich auf unsicherem Boden, was technische Kompetenz betrifft, ich gehöre definitiv nicht zu den besten Bassisten. Aber das Publikum kann mir vertrauen. Ich kann mit den Leuten reden, und sie wissen, dass das, was ich sage, kein Bullshit ist. Nicht so wie bei Ted Nugent, der so’n Scheiß sagt wie: ›Uuh, ich sehe eine Menge Rock-’n’-Roll-Hunde da draußen, wuff, wuff, wuff!‹ – das ist schrecklich, das ist wirklich haarsträubend.«

So sehr ich Motörhead mit Phil Campbell und noch mehr als Quartett mit Würzel schätzte, die Originalbesetzung war schlicht unschlagbar. Leider hatte sich Fast Eddie Clarke bereits verabschiedet, als ich in ein Alter kam, in dem meine Eltern mir zutrauten, ein Motörhead-Konzert zu überleben. Ich musste mich also stets an die Mitschnitte halten, um mein Urteil bestätigt zu finden, aber das klappte ganz gut. Regelmäßig. Eine Zeitlang kamen Motörhead immer so um Weihnachten herum vorbei, und weil man da sowieso nichts wirklich Wichtiges vorhatte, bis auf die Wodkabowle bei Volker nach dem Familienteil, fuhr man hin und holte sich seine Packung ab. Und meistens war es dann gar nicht mehr so schlimm, dass man mal wieder die falschen Geschenke bekommen hatte, weil Lemmy den wahren Weihnachtsmann ganz gut spielte.

Thunderhead traten einmal im Vorprogramm auf. Es hatte sich herumgesprochen, dass deren Frontmann Ted Bullet, ein guter Sänger und Gitarrist, unter dem Napoleon-Komplex litt. Kleiner Mann holt den Dicken raus. Ich hatte ihn zuvor auf einem Festival erlebt, wo er einem durchaus zugetanen Haufen Kampftrinkerinnen in Kutten verbal an die Wäsche wollte. So besoffen waren sie noch nicht, dass ihnen seine Uncharmantheiten verborgen blieben. Sie gingen mit riesigen Stinkefingern, und das brachte ihn erst recht in Rage. An diesem Abend im März 1991 jedoch riss er sich zusammen, jedenfalls auf der Bühne. Dahinter, so verbreitete es sich in Windeseile durch die Reihen der Music Hall in Hannover, soll er sich einer der vier Sängerinen der Cycle Sluts from Hell, dem zweiten Support-Act, in unziemlicher Weise genähert haben. Und Lemmy, dieser Gentleman und fürsorgliche Gangleader, rückte ihm dafür wortwörtlich den Kopf zurecht. Eine Rubbelnuss, die sich gewaschen hatte.

»Ich bin zu einer Ikone geworden«, hat Lemmy irgendwann erkannt. »Aber ich finde es nur fair, jawohl, ich finde, das ist fair. Es gibt ein paar Leute, die man unterwegs kennenlernt, die man erfinden müsste, wenn es sie nicht gäbe. Ich bin so ein Typ. Ihr Leute braucht mich, weil ich der alte Wichser bin, zu dem man immer gehen kann, wenn man ein paar erstklassige Bemerkungen braucht! Das stimmt doch, oder? Ich bin schon lange im Geschäft und kann mich daran erinnern, als Little Richard seine ersten Platten veröffentlicht hat. Darüber könnt ihr immer was schreiben. Worüber auch immer ihr reden wollt, alles, was mit Rock ’n’ Roll zu tun hat, habe ich erlebt. Ich kann eure Berichte immer etwas aufpäppeln.«

In all den Jahren haben vermutlich viel mehr Menschen seine Interviews gelesen, als wirklich seine Musik gehört. Wie gut Motörhead wirklich waren, offenbarte sich mir am eindrücklichsten vielleicht Ende der Achtziger bei einem Thrash-Festival in der Braunschweiger Eissporthalle mit Kreator, Tankard, Sodom usw. Ein schöner, lauter, durchgeknallter Abend. Alles gut. Aber dann kamen eben diese knapp drei Minuten, die noch so viel besser waren – als Sodom »Iron Fist« coverten. Schließlich wurde es einigermaßen schick, über Lemmy zu schreiben, kurioserweise gerade im gehobenen Feuilleton. Bestseller wurden Motörhead-Alben deshalb nicht. Im Grunde hatte sich also gar nicht viel geändert. Den einzigen Grammy bekam die Band für ihre Coverversion von Metallicas »Whiplash« – zu Lemmys lautstark vorgetragenem Missvergnügen. Angenommen hat er den Preis dennoch, ein Spielverderber wollte er eben auch nie sein.

»Ich habe viel Ähnlichkeit mit Buddha, jawohl. Ich sitze nur da und sehe zu, wie die ganze Scheiße vorbeizieht.«

Ich hab keine Band so oft live gesehen wie Motörhead und bin nie enttäuscht worden. Ihr letztes Konzert in Wacken allerdings, im Sommer vor Lemmys Tod, war eine traurige Angelegenheit. Er wankte mit versteinertem Gesicht ans Mikro, hielt sich am Rickenbacker fest, verschleppte seine Gesangsparts, und der habituell maulfaule Phil Campbell musste die meisten Ansagen machen, weil der Alte sich kaum auf den Beinen halten konnte. Ich wollte das nicht länger mitansehen und ging zum Zelt. Er war dem Tode geweiht, das spürte man. Und ich wurde sauer auf die Menge, weil es mir so vorkam, als wartete man nur darauf, dass er auf offener Bühne zusammenklappte, um das Handy zücken zu können. Keine Ahnung, wie viele Konzerte er bis Weihnachten noch durchgestanden hat, einige wurden ja auch abgesagt, es muss eine Tortur gewesen sein. Lemmy wollte nicht anders leben, dennoch tat er mir unsäglich leid.

»Ich mag es, drei Wochen am Stück dieselben Socken zu tragen, raus auf die Bühne zu gehen, der ersten Reihe die Stinker ins Gesicht zu halten und ›Ace of Spades‹ zu grölen. Man blickt ins Publikum und sieht, dass nur ein einziger Typ den Gestank nicht ausgehalten und abgehauen ist. Das ist fantastisch. Schon allein das ist es wert.«

Freund und Kollege Till feierte seinen Geburtstag. »Saufen für Lemmy« hätte die Veranstaltung ebenfalls überschrieben sein können, denn es waren ausschließlich Gläubige unter den Gästen, die den Sankt Nikolaus des Schwermetalls immer mal wieder anekdotisch, aphoristisch oder auch nur mimisch-gestisch wiederauferstehen ließen. Man kennt das von Beerdigungen. Nach der großen Trauer an der Grube werden beim Fellversaufen die alten Geschichten ausgepackt, und der eine oder andere schaut sich ein wenig unbehaglich um, ob er eben nicht vielleicht etwas zu laut krakeelt hat angesichts der krummen Nummern des Verstorbenen. Hier brauchte sich keiner umzuschauen.

Hawkwind war noch zu früh für uns, auch »Overkill« und »Bomber« mussten wir nachhören, aber »Ace of Spades« kam genau auf den Punkt. Mit seinen weißen Stiefeln, schwarzen Lederklamotten, silbernen Conchas und der vom Hut verschatteten Backenbartvisage ging Lemmy als mexikanischer Bandit durch. Keiner aus der humoristischen Ecke, sondern einer, der keine Gefangenen machte. Dabei war er das eine so gut wie das andere – harter Knochen, ganz klar, aber eben immer auch großer Ironiker. »And don’t forget the joker!«, schärft er uns auf dem Titelsong ein. Als sarkastischer Grinser, der das Spiel mal kurz auf den Kopf stellen konnte, und sei es auch nur mit einem coolen Spruch oder Riff, sah er sich vielleicht selbst ganz gern.

»Als wir an der Sicherheitskontrolle beim Flughafen angekommen waren, sagten die Beamten: ›Folgen Sie uns bitte in diesen Raum.‹ Irgendwann ließen sie uns aus dem Raum und in das Flugzeug einsteigen. Witzigerweise kam sofort der Kapitän angerannt und sagte: ›Ich habe schon von euch gehört. Ihr Typen seid eine Schande für die Gesellschaft! Wenn ihr irgendeinen Mist an Bord meines Flugzeugs macht, wird euch die Polizei auf der Landebahn erwarten, sobald wir in Heathrow gelandet sind‹ und all dieser Scheiß. Also sagten wir. ›Ach, Scheiße, ist ja gut.‹ Natürlich gab es gleich nach dem Start einen Vorfall, als wir die Drinks serviert bekamen und Eddie Clarke in seinem Überschwang ein Glas Wodka Orange über den Nacken der Frau vor ihm kippte. Wir fanden nicht, dass es eine große Sache war, aber als wir den Boden in Heathrow berührten, sahen wir die Polizeiautos, die aufgereiht neben der Landebahn standen! Wir dachten: ›O nein, jetzt sind wir am Arsch!‹ Aber dann haben sie den Kapitän verhaftet, weil er betrunken gewesen sein soll!«

Der bekannte Schauspieler Charly Hübner hat vor einigen Jahren ein Motörhead-Buch geschrieben, in dem er eindringlich über die eigene Metal-Sozialisation in der DDR erzählt. Kurz vor Erscheinen seines Buches traf ich ihn in Hamburg zum Interview – irgendwann sprachen wir auch über den Umstand, dass man Motörhead zwar schon mal, wenn auch eher selten im Ost-Radio hören, aber anders als im Falle AC/DC zumindest offiziell kein Album von ihnen kaufen konnte. Ein Argument dagegen sei natürlich die Ikonographie gewesen, erklärt Hübner. »Snaggletooth mit der Pickelhaube, das ist das alte Preußen, den kann man nicht so einfach in die DDR reinlassen.«

Aber Hübner formuliert noch eine zweite These. »Das Geheimnis. Dieser MC5-Klang. Distortion. Das Ziel war, dass alle Töne klar sind, dass man aber alles über einen zentralen Lautsprecher fährt, so dass kein Ton mehr direkt verfolgt werden kann, es also immer eine Unsauberkeit gibt. Das einzelne verschwindet hinter einer Wand, es soll nicht mehr erkennbar sein … Das hat mich nachträglich noch mal inspiriert, darüber nachzudenken. Also du schaffst einen Raum in der Welt, der unglaublich laut ist, fett, aber auch nicht begreifbar, auch im tonalen Sinne nicht.« Genau diese Unbegreifbarkeit ist seiner Ansicht nach »auf der tiefenpsychologischen Ebene auch noch ein Grund, warum die SED das nicht akzeptieren konnte. Das ist viel zu unberechenbar. Da findet auf der unterbewussten Ebene möglicherweise etwas statt, das dann doch furchtbar rebellisch ist.« Das erklärt vielleicht nicht nur den Widerstand der Kulturfunktionäre, sondern auch einen Teil der Suggestivität der Band bei den Kids. Es lauert etwas in diesem schwarzen sonischen Loch. Gerade weil man nicht bis zum Grund schauen kann, erweckt es unsere Neugier.

»Ich bin nicht daran interessiert, irgendwas zu überleben. Ich bin ein Täter, ich will der Angreifer und nicht der Angegriffene sein! Es macht einfach mehr Spaß, mit einer brennenden Fackel durch das Dorf zu reiten, als einer zu sein, der vor dem Reiter mit der Fackel davonläuft und sich Sorgen macht, ob sich jetzt wohl die Raten für die Feuerversicherung seines Hauses erhöhen. Und meines Erachtens nach gibt es derzeit zu wenig solche Leute im Rock ’n’ Roll.«

»Ich glaube, Motörhead ist eine der Bands, die man erst zu würdigen weiß, wenn sie nicht mehr da sind.«

Frank Schäfer ist Schriftsteller, Musik- und Literaturkritiker. Er lebt in Braunschweig. Zuletzt erschien von ihm an dieser Stelle am 8.3./9.3.2025 »Träume vom Turnschuhsüden« – Rolf Dieter Brinkmann in den USA.

Ende des Jahres erscheint von Frank Schäfer im Suhrkamp-Verlag die Biographie »Motörhead – die lauteste Band der Welt«. In den nächsten Wochen geht Schäfer in einer neuen jW-Serie dem Rock-’n’-Phänomen Motörhead auf den Grund.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim G. aus Gießen (20. September 2025 um 11:27 Uhr)
    Ich höre viel Musik - Rock, Jazz, Punk, New Wave usw. usf. - und glaube auch mit meinen gesegneten Alter etwas zur o.g. Musik sagen zu können: eigene Erfahrungen und Angelesenes. Aber von Motörhead habe ich offen gestanden keinen blassen Schimmer. Wenn ich etwas gehört habe, dann ohne zu wissen, dass es Motörhead sind. Aber der Artikel von Frank Schäfer ist einfach klasse: Rockhistorie, biografische Bezüge von Frank Schäfer, angemessene Anmerkungen zu Stellungnahmen von Lemmy und vor allem in einem Stil geschrieben, der geradezu zum Lesen »zwingt«.

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