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Aus: Ausgabe vom 18.09.2025, Seite 9 / Kapital & Arbeit
Gewerkschaftstagung

Zwischen Chemnitz und Beijing

IGM-Kongress zu ostdeutscher Autoindustrie. Anpassungsprozesse und Standortpatriotismus im Fokus
Von Luca von Ludwig, Chemnitz
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Ändert sich am Branchentrend nichts, werden die Gewerkschafter wohl bald wieder öfter auf der Straße sein

Über Themenmangel zumindest kann bei den Gewerkschaftern der IG Metall (IGM) niemand klagen. Der deutschen Automobilbranche geht es schlecht wie nie, Hunderttausende Arbeitsplätze sind gefährdet. »Das einzige, was noch schlimmer als die Lage ist, ist die Stimmung«, konstatierte Jens Südekum, Wirtschaftsprofessor und vom Bundesfinanzminister »Beauftragter für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung«, bei einer Konferenz zur Autoindustrie in Ostdeutschland, zu der der IGM-Bezirk Berlin-Brandenburg-Sachsen am Dienstag nach Chemnitz geladen hatte.

Einige positive Signale hat die Gewerkschaft tatsächlich zu vermelden. Das Mercedes-Werk in Marienfelde konnte sich durch die Produktion von elektrischen Axialflussmotoren retten, die Tesla-Fabrik in Grünheide ist, trotz der kürzlichen Abwärtstrends, ausgelastet, »und auch die Softwareseite findet schon bei uns in Ostdeutschland statt«, berichtete der neue IGM-Bezirksleiter Jan Otto in seiner Auftaktrede.

Der allgemein bekannte Trend befasst die Konferenz: Die deutschen Autobauer schwächeln, nicht nur wegen der nachzuholenden Entwicklung im Elektroautosegment, sondern auch, weil der Export sowohl in die USA als auch nach China eingebrochen ist. Zugleich gelingt es chinesischen Herstellern mittlerweile, mehr als die Hälfte der globalen Fahrzeugnachfrage zu decken, das deutsche Exportmodell bricht ein. Derweil hängen alleine in Ostdeutschland mehr als 80.000 Stellen direkt an den Automobilwerken, rund 200.000 weitere an mehr als 1.300 Zuliefererbetrieben. Das ergab eine Studie im Auftrag des »Transformationsnetzwerks Molewa«, Teil einer Initiative zur Erarbeitung von Strategien für den Mobilitätssektor, die vom Wirtschaftsministerium initiiert wurde.

Vor diesem Hintergrund sind drastische Veränderungen an der Tagesordnung. Ein prominentes Beispiel ist das Volkswagen-Werk in Zwickau, das erst 2020 vollständig von Verbrenner- auf Elektroautofertigung umgestellt wurde. Jetzt steht zur Debatte, teilweise auf das Recycling von Autobauteilen einzuschwenken. Auch in anderen Regionen stellt man sich auf einen Wandel der Tätigkeitsfelder ein, zum Beispiel in Richtung Softwareentwicklung. Die Beschäftigten sind zu solcherlei Umschulungen durchaus bereit, heißt es auf der Tagung in Chemnitz. Beratungsangebote würden in überraschendem Umfang wahrgenommen, das wichtigste sei, dass der Arbeitsplatz sicher ist, berichten anwesende Gewerkschafter.

Alle Mühen bringen jedoch wenig, wenn der Absatz fehlt. In China werden weit mehr und erschwinglichere Autos produziert als in der BRD. Und während die Volksrepublik früher in großem Umfang Fertigungsanlagen aus dem Westen importierte, ist heute das Gegenteil der Fall. Die IGM übt sich deshalb – notgedrungen, aber keineswegs ohne Enthusiasmus – in Standortpatriotismus. »Wir konkurrieren nicht mehr nur untereinander, sondern auch mit China«, intonierte Bezirksleiter Otto. Mit den Industriesubventionen dort könne die deutsche Kaufprämie für neue E-Autos nicht mithalten.

Christiane Benner, Vorsitzende der IGM, forderte Mindestquoten für den Anteil europäischer Bauteile. Große Hoffnungen wird auch in die von VW auf der Münchener IAA angekündigte Kleinwagenserie gesetzt. Auch sogenannte Range Extender, also (auch verbrennergetriebene) Extraaggregate für E-Autos, sollen bei der Umstellung helfen. Ökonom Südekum verweist seinerseits auf den EU-Binnenhandel, um die wegbrechenden deutschen Exporte auszugleichen. Das sei kein Nullsummenspiel, sagte er gegenüber jW: »Überall sitzen viele Zulieferer, in Tschechien, Polen, Österreich und so weiter. Auch die leiden unter der Autokrise in Deutschland.«

Klar ist, auch das hört man auf der Tagung, dass die kommenden drei Jahre entscheidend sein werden. Fraglich bleibt, ob die deutsche Industrie beim Versuch, Vorsprünge Chinas wieder aufzuholen, nicht längst auf verlorenem Posten kämpft, und besser beraten wäre, Partnerschaften aufzubauen. Für solche Kooperationen bräuchte es politische Weichenstellungen, doch die aktuellen Signale gehen eher in Richtung US-Bindung.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (18. September 2025 um 11:19 Uhr)
    Es ist absolut keine neue Erkenntnis, dass Monokultur verheerende Folgen haben kann. Seit Jahrzehnten sind die Risiken bekannt, die Deutschland dadurch aufgebürdet wurden, dass sich die Industriestruktur hierzulande so einseitig auf die Autoproduktion fixiert hat. Die Macht der großen Autobauer konnte lange verhindern, dass das breiten Kreisen der Gesellschaft bewusst wurde. Krankheiten, über die man zu lange nicht spricht, haben die unangenehme Eigenschaft, nach einiger Zeit um so heftiger zuzuschlagen. Genau an diesem Punkt stehen wir heute. Für die deutsche Industrie könnte das tödlich enden. Sie will sich das nur noch nicht eingestehen. Man schwärmt lieber weiter fleißig von unerreichbarer deutscher Ingenieurskunst. Auch wenn die Ingenieure längst in ganz anderen Ländern an ganz anderen Lösungen tüfteln.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (17. September 2025 um 22:33 Uhr)
    Leseempfehlung in der jW vom 17.9.2025, »Evergrande 2.0« (nicht nur) für Jan Otto: »Die Staatliche Marktregulierungsbehörde etwa hat bereits im Juli begonnen, gezielt den Druck auf Onlinelieferdienste zu erhöhen, ihren unerbittlichen Unterbietungswettbewerb zu stoppen.« (www.jungewelt.de/artikel/508522.preiskampf-in-china-evergrande-2-0.html)

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