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Aus: Ausgabe vom 18.09.2025, Seite 3 / Schwerpunkt
Energiewirtschaft

Von Sibirien geht es aus

Der Bau der Gaspipeline »Power of Siberia 2« soll beschlossen sein. Der Öffentlichkeit wird bislang nur ein konturloses Konzept präsentiert
Von Knut Mellenthin
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Die neue Pipeline solle neben der bestehenden »Power of Siberia« ebenfalls Gas nach China leiten

Nicht weniger als eine Sensation hatte Gasprom-Chef Alexei Miller mitzuteilen: Der russische Energiekonzern und die China National Petroleum Corporation (CNPC) hätten gerade eben ein »rechtsverbindliches Memorandum« über den Bau der Pipeline »Power of Siberia 2« unterschrieben. Die Leitung soll künftig Erdgas aus Sibirien auf einer durch die Mongolei verlaufenden Transitstrecke nach China transportieren. Der Deal sei »das größte, aufwendigste und kapitalintensivste Gasprojet der Welt«, erzählte Miller auf der Pressekonferenz am 2. September gegenüber russischen Medien. Ein Besuch von Präsident Wladimir Putin bei seinem chinesischen Kollegen Xi Jinping bildete den äußeren Rahmen. Beide Staatsoberhäupter waren während der Zeremonie anwesend.

Das Projekt Siberia 2 ist ein zweiter Strang der 2007 vereinbarten Pipeline Power of Siberia, die am 2. Dezember 2019 in Betrieb genommen wurde. Die russische Seite war an dessen Verwirklichung offenbar stärker interessiert als die chinesische: Noch Ende August hatten »Branchenquellen« das Bevorstehen eines Durchbruchs bei den Verhandlungen in absehbarer Zeit für unwahrscheinlich gehalten. In erster Linie standen die hohen Baukosten und Differenzen über die Preisgestaltung einer Einigung im Wege.

Und nun also plötzlich doch eine Vereinbarung? »Gas-Deal mit Putin: China lenkt überraschend bei Prestigeprojekt ein«, titelte die Frankfurter Rundschau am 3. September, als handele es sich um einen persönlichen Sieg des russischen Präsidenten. Der bemühte sich am selben Tag, das Geschäft rational zu erklären: »Keine Seite handelt aus Wohltätigkeit – dies sind gegenseitig vorteilhafte Arrangements«. Die geplante zweite Erdgasleitung verschaffe China einen Wettbewerbsvorteil, da die Volksrepublik einen niedrigeren Preis zahlen werde als die Europäer. »Jeder ist zufrieden, jeder ist glücklich mit diesem Ergebnis, und um ehrlich zu sein, ich bin es auch.«

Das in Washington angesiedelte Center for Strategic and International Studies urteilte am 4. September in einer ersten Einschätzung, Siberia 2 werde – »wenn sie fertiggestellt wird – China einen Schutz gegen geopolitische Risiken liefern, während sie Russland, das nach seiner Invasion der Ukraine westliche Käufer verloren hat, einen entscheidend wichtigen Markt für seine Gasexporte verschafft«. Millers Ankündigung »wird als politischer Gewinn für den Kreml gewertet, der das Bekenntnis beider Länder unterstreicht, angesichts eines stagnierenden Handels zwischen ihnen und Streitereien in der Vergangenheit über die Details der Pipeline ihre Verbindungen zu vertiefen«, hieß es.

Aber sofort wurden auch Zweifel angemeldet, ob Millers Darstellung wirklich den Tatsachen entspricht oder propagandistisch geglättet und geschönt ist. Skeptiker wiesen darauf hin, dass Millers Ankündigungen über eine Einigung auf den Bau der Power of Siberia zwar in Russland mit »Jubelmeldungen« begrüßt, aber in China nur am Rande registriert worden seien. Hinzu kommt, dass der von Miller verwendete Begriff eines »rechtsverbindlichen Memorandums« außergewöhnlich und widersprüchlich ist: Derartige Abmachungen, meist als Memorandum of Understanding bezeichnet, sind in der Regel allgemein gehaltene, keine Details festlegenden Absichtserklärungen, auf die man sich einigt, solange der Verhandlungsstand noch keine rechtsverbindlichen Verträge zulässt.

Dass Miller alle Nachfragen nach konkreten Einzelheiten der Vereinbarungen offen ließ, spricht für diese Interpretation. Der Gasprom-Chef stellte zwar in Aussicht, dass die geplante Leitung es einmal ermöglichen werde, 30 Jahre lang 50 Milliarden Kubikmeter Gas jährlich zu liefern, erklärte aber nicht, wie lange es bis dahin dauern wird. Außerdem würde selbst diese Menge, falls sie erreicht würde, nicht die russischen Einbußen auf dem europäischen Markt wettmachen. Nach Angaben der in Amsterdam erscheinenden, als unabhängig firmierenden Moscow Times sanken Russlands Erdgasverkäufe nach Europa von 157 Milliarden Kubikmetern 2021 auf geschätzte 39 Milliarden im laufenden Jahr. Infolgedessen gehe die russische Erdgasförderung um 3,2 Prozent im Jahr zurück.

Zur Frage, auf welchen Preis man sich geeinigt habe, antwortete Miller lediglich: »Über geschäftliche Fragen werden wir später gesondert berichten«. Besonders skeptisch urteilte das Internetportal Finanzmarktwelt am 3. September: Es fehle »an Verträgen, an gesicherter Finanzierung und an einem klaren Bekenntnis« aus Beijing. Auch ein Zeitpunkt für den Baubeginn sei bisher nicht genannt worden. In der Mongolei, über deren Territorium Power of Siberia 2 einmal verlaufen soll, gebe es bisher nur eine Machbarkeitsstudie. Nicht einmal über die Baukosten gebe es Gewissheit, bemerkte die Moscow Times am 4. September. Die Schätzungen bewegten sich in einem breiten Spektrum, und die Aufteilung der Kosten zwischen Russland und China sei nicht geklärt.

Das Atlantic Council kommentierte am 5. September auf seiner Website, es sei »unwahrscheinlich«, dass China und Russland das Projekt Power of Siberia 2 vorantreiben, denn China würde damit »wirkungsvoll gegen zwei Entwicklungstechnologien wetten« – also diese behindern – »die es zu dominieren versucht: Wärmepumpen und Batterien«. Die chinesische Nachfrage nach Erdgas stehe vermutlich unter Druck, sinke also. Jüngste Analysen zeigten, dass Batterieautos sogar im Schwerlastfahrzeugsektor zulegen. Das könne die künftige Nachfrage nach Lkws mit Flüssigerdgasantrieb einschränken.

Hintergrund: Sanktionierte ­Finanzmittel

Deutsche Politiker überlegen und beraten offen, wie eingefrorene russische Vermögenswerte aktiviert und genutzt werden könnten, um sie dem Kriegshaushalt der Ukraine zuzuführen. Die ukrainische Regierung beziffert ihren Finanzierungsbedarf im laufenden Jahr auf 120 Milliarden Euro, ohne ein Konzept für die Deckung der Lücken zu haben.

Zugleich liegen im Bereich der EU rund 210 Milliarden Euro beschlagnahmter russischer Gelder. Die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen forderte schon im Juni, dieses Geld »völkerrechtskonform vollumfänglich der Ukraine zur Verfügung zu stellen«. Vergangene Woche hat sich Ursula von der Leyen in ihrer Rede zur Lage der EU hinter diese Forderung gestellt. Dies sei »Russlands Krieg«, »Russland sollte dafür bezahlen«. Die Union müsse »dringend an einer neuen Lösung arbeiten, um auf Grundlage der eingefrorenen russischen Vermögenswerte die ukrainischen Kriegsanstrengungen zu finanzieren«.

Noch gibt es aber keinen gemeinsamen Plan, wie dieser Finanzraub abgewickelt werden soll. Von der Leyen schlägt ein »Reparationsdarlehen« aus den »liquiden Anteilen« dieser Guthaben vor, womit vermutlich ein Zugriff der Ukraine auf die Zinsen gemeint ist.

Um diese Diskussion voranzutreiben, verlangen die Grünen jetzt eine öffentliche Sachverständigenanhörung des Auswärtigen Ausschusses und des Europaausschusses des Bundestags in einer der nächsten Sitzungswochen. Auf EU-Ebene beriet Günter Sautter, außen- und sicherheitspolitischer Berater von Bundeskanzler Merz, die Verwendung eingefrorener Vermögen am Rande einer Konferenz in Kiew. (km)

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