Mehr als nur Erinnerung
Von Sabine Lueken
»Zwei Leben für die Befreiung« ist ein zweibändiges Kompendium, das zwei Lebensgeschichten erzählt; beigegeben ist ihnen eine Sammlung von Texten gegen den Faschismus. Im ersten Band beschreibt der Historiker Henning Fischer das »vergessene« Leben von Martha Naujoks, der zweite Band enthält die überarbeiteten und kommentierten Erinnerungen von Harry Naujoks über seine Haftzeit als Lagerältester im Konzentrationslager Sachsenhausen (»Mein Leben im KZ Sachsenhausen«) sowie – in Erstveröffentlichung – das Tagebuch über seinen Fußmarsch vom KZ Flossenbürg nach Hamburg-Harburg im Mai 1945. Über viele Jahre kamen acht ehemalige Sachsenhausen-Häftlinge in Hamburg in sogenannten Kumpelgesprächen zusammen, um Naujoks’ Erinnerungen zu diskutieren, zu verifizieren oder zu korrigieren. Aus diesen Gesprächen finden sich Auszüge im vorliegenden Band. Erstmals erschienen Naujoks’ Erinnerungen 1987 im Verlag Röderberg/Pahl-Rugenstein Köln und 1989 im Verlag Dietz, Berlin (DDR).
Fischer schickt der Lebensbeschreibung von Martha Naujoks die Bemerkung voran, dass über sie kaum etwas zu erfahren war, selbst nicht für die, die danach suchten. Das habe viele Gründe: »Parteidisziplin und Zurücksetzung ihrer eigenen Persönlichkeit einerseits und männliche und bürgerlich dominierte Geschichtspolitik andererseits«. Einfühlsam und differenziert rekonstruiert Fischer ihr Leben. Hier sei gleich erwähnt, dass es überaus lesefreundlich ist, die zahlreichen Fußnoten und Literaturhinweise gleich neben dem Text mitlesen zu können. Diese großzügige Platzverwendung hat allerdings den Nachteil, dass die Bände sehr dick und schwer sind.
Was man nicht erzählen kann
Martha Naujoks wird am 2. Dezember 1903 in Krefeld als Martha Pleul geboren. Ihre Mutter, Aloysia Pleul, ist Schneiderin, der Vater, Paul Sattler, Seidenweber. Beide Eltern sind sozialdemokratisch eingestellt. Auf der Suche nach Arbeit zieht die Familie – eine Schwester wurde 1906 geboren – zuerst nach Zwickau, dann nach Falkenstein im Vogtland. Der Vater tritt 1914 nach der Zustimmung der SPD zu den Kriegskrediten aus der Partei aus, später in die USPD ein. Er wird Soldat an der Ostfront, die Mutter dienstverpflichtet in einer Pulverfabrik. Martha muss für die elfjährige Schwester Erziehungsaufgaben übernehmen und sich um den Haushalt kümmern. Zeitlebens wird sie sich für andere verantwortlich fühlen. Gegen Ende des Krieges zieht die Familie – der Vater wird zu den Leuna-Werken abgestellt – nach Dessau, dann nach Halle (Saale). Hier finanzieren die Eltern Martha nach der Volksschule den Besuch einer privaten Handelsschule. Sie lernt Buchführung, Stenographie und Schreibmaschine. Unmittelbar »nach Kriegsende und Revolution beginnt Marthas Leben in politischen Organisationen«, schreibt Fischer. Aus nächster Nähe erlebt sie mit, »wie das Freikorps Maercker im März 1919 den Arbeiterrat der Stadt entmachtet«. Diesem Freikorps hatte sich übrigens der damals 15jährige Reinhard Heydrich angeschlossen.
Martha wird im Sommer 1919 Mitglied der Freien Sozialistischen Jugend, 1920 Mitglied der USPD, wie die Eltern. Sie tritt der Gewerkschaft »Zentralverband der Angestellten« bei, später ist sie in der Jugendleitung der Kommunistischen Jugend Deutschlands (KJD, später Kommunistischer Jugendverband Deutschlands, KJVD) aktiv. Beteiligt am Widerstand gegen den Kapp-Putsch im März 1920, im Frühjahr 1921 am »Mitteldeutschen Aufstand«, hat sie nie viel darüber preisgegeben, bis auf das Detail, dass sie eine Pistole in ihren weiten Hosen transportierte; »als Mädchen damals war das alles doch leichter«. Noch in einem Interview 1987 blieb sie dabei: »Da gibt es noch Sachen, aber die kann man gar nicht erzählen.«
Im September 1921 zieht sie nach Hannover, entzieht sich möglicher Verfolgung durch die Staatsmacht und der Kontrolle der Eltern. Sie ist berufstätig als Kontoristin, politisch in der Jugendbildung aktiv, zieht Ende 1922 nach Hamburg, nachdem sie als Jugendfunktionärin Hamburger Delegierte kennengelernt hat. Als Frau ist sie bei all dem »die große Ausnahme«, wie Fischer anmerkt. Fotos, die Marthas Lebensgeschichte zahlreich beigegeben sind, zeigen die junge Frau mit modischem Bubikopf; darüber ist die Mutter »entsetzt«, der deutsch-nationale Friseur schimpft.
Am 23. Oktober 1923 nimmt Martha, diesmal mit einer Waffe in der Hand, in Hamburg beim Überfall auf die Barmbeker Polizeiwache teil. Sie wird festgenommen, kommt in Untersuchungshaft. Nach drei Monaten wird sie aus Mangel an Beweisen ohne Verfahren entlassen. Im Januar 1926 heiratet sie Harry Naujoks, den sie schon im Jahr davor kennengelernt hatte. Harry wurde 1901 geboren, hat einen Bruder, Henry; die Mutter ist alleinerziehend. Von Beruf ist er Kesselschmied. »Existiere also ab dato als Martha Naujoks«, schreibt sie später. Sie und Harry, der KPD-Mitglied der ersten Stunde ist, stehen politisch der Position der jetzt sich bildenden »Mittelgruppe« nahe, von deren Gegnern als »Versöhnler« diffamiert. Die »Mittelgruppe« kritisiert die Parteiführung scharf wegen ihrer Haltung zur Sozialdemokratie und befürwortet eine Strategie der Einheitsfront. Martha arbeitet bei der Handelsvertretung der UdSSR als Stenotypistin, ab Mai 1930 bei der Derop, der »Deutschen Vertriebsgesellschaft für russische Oel-Produkte«. Sie ist im Apparat der KPD tätig, wird aber nicht hauptamtlich angestellt.
Im Juli 1933 wird sie das erste Mal verhaftet, wie viele Funktionärinnen und Funktionäre der KPD. Harry ist bereits im April in Lübeck, wohin ihn die Partei geschickt hat, festgenommen worden. Im Oktober 1933 wird Martha aus der Haft entlassen, die gesundheitlichen Folgen dieser Zeit werden sie ein Leben lang begleiten. Harry wird im Oktober 1934 zu zwei Jahren und drei Monaten Zuchthaus verurteilt und danach im November 1936 von Bremen-Oslebshausen ins KZ Sachsenhausen in »Schutzhaft« überführt. Martha ist weiter politisch tätig in der Illegalität. Ab März 1935 rechnet sie täglich mit ihrer Verhaftung. Im Juni 1935 flieht sie aus einem Versteck in der Lüneburger Heide nach Prag, von dort im Februar 1936 nach Moskau.
Ausschluss und Rehabilitierung
Fischer hat Marthas Leben im Moskauer Exil und die im Herbst 1936 beginnenden, jahrelangen Verdächtigungen und Gefahren und Marthas Kampf dagegen akribisch dokumentiert, so weit dies möglich war. Martha wird im Juni 1937 in Moskau aus der (Exil-)KPD ausgeschlossen. Auskünfte gibt »fast ausschließlich« die Kaderakte, die von der Komintern unter ihrem Parteinamen Inge Karst angelegt wurde. »Zwischen diesen historischen Spuren und zurückblickenden Einordnungen bleibt die Person von Martha Naujoks kaum sichtbar. Wie genau die Verhaftungen auf sie wirkten, wieviel Angst sie rationalisieren musste; wieviel Vertrauen und Gewissheit sie sich erhalten konnte, durch Kontakt zu Genoss:innen, zu Erinnerungen, zu Ablenkungen oder zu Träumen; in welches Verhältnis sie sich stellte als Kommunistin mit ihren biographischen Prägungen zu dem, was der ›Sozialismus in einem Land‹ den Sozialist:innen in seinem Land antat, all das liegt auf der Schattenseite der Dokumente«, schreibt Fischer. Ein Vergleich ihrer Porträtfotos von 1927 und 1937 lässt aber erahnen, was sie das seelisch gekostet hat.
Nach ihrer »Rehabilitierung« im April 1939 besucht Martha ab August 1941 die Komintern-Schule und wird »auf die Parteiarbeit im Deutschland nach Hitler« vorbereitet. Mit dem zweiten Emigrantenflugzeug kehrt sie aus Moskau nach Berlin zurück, als »4. Gruppe« zusammen mit Paul Schwenk, Edwin Hörnle, Lotte Wendt (später Ulbricht) und Markus Wolf. Aber sie entscheidet sich, nach Hamburg zu gehen.
Denn sie und Harry haben sich wiedergefunden. Es hatte sich 1944 herausgestellt, dass Harry nicht tot ist, wie sie jahrelang glauben musste. Nach zwölf Jahren der Trennung kommt es zu einem Wiedersehen: Im Sommer oder Herbst 1945 »kreuzte er bei mir in der Redaktion der Berliner Zeitung auf«, berichtete Martha später. Sie hatte ihn über den Rundfunk suchen lassen. »Sie nehmen die Fäden ihres persönlichen und politischen Lebens wieder auf, sie erforschen und dokumentieren die Verbrechen, deren Zeug:innen und Opfer sie wurden«, fasst Fischer zusammen. In der Nachkriegszeit erleben sie, wie die Funktionseliten des Naziregimes straffrei ausgehen und in Politik, Justiz, Verwaltung und Wirtschaft neue Positionen finden, sie erleben »die Entstehung der postfaschistischen Gesellschaft«. Die Geschichte ihres Widerstands, der der Organisationen der Arbeiterbewegung generell, spielte in der Bundesrepublik keine Rolle und wird bis heute nicht gewürdigt.
Harry Naujoks wird 1945 von den US-Amerikanern in der Nähe des KZ Flossenbürg befreit; die SS hatte die 14.000 Häftlinge noch in Marsch gesetzt, um das Lager zu evakuieren. Naujoks kehrt zu Fuß nach Hamburg-Harburg zurück und widmet sich sogleich der Neugründung und dem Wiederaufbau der KPD. Aber er gerät erneut in Konflikt mit seiner Partei und wird im Winter 1949/50 von seinem Amt als Vorsitzender der KPD Hamburg entfernt. Er übernimmt den Vorsitz des Sachsenhausen-Komitees der Bundesrepublik Deutschland, engagiert sich im Internationalen Sachsenhausen-Komitee und in der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN).
Bericht über Sachsenhausen
Sein Bericht aus Sachsenhausen, der im vorliegenden Buch 400 Seiten umfasst, ist weitgehend chronologisch aufgebaut. Am 11. November 1936 kommt er nach Sachsenhausen, am 27. November 1942 wird er mit 18 anderen kommunistischen Häftlingen nach 58 Tagen Dunkelhaft ins KZ Flossenbürg überführt. »An die Blockältesten, Vorarbeiter und SS-Führer ging die Anweisung, dass wir nicht lebend davonkommen sollten«, schreibt Naujoks. Sie hätten »auf Befehl des Reichsführers SS wegen politischer Zellenbildung und bolschewistischer Propaganda im Konzentrationslager (ihr) Dasein verwirkt«. Deswegen sollten sie, wie viele andere, zu Tode geschunden werden. Dieser Plan der SS ging nicht auf. »Die Grünen, ehemalige Sachsenhausener, veranlassten den SS-Kommandoführer, die Anweisungen über meine Behandlung abzuschwächen.« Sie retteten ihm und 15 anderen das Leben.
Anhand von Naujoks’ Erinnerungen lassen sich die Ausweitung des faschistischen Terrors, die immer weiter ausgreifenden Verhaftungen von immer mehr missliebigen Gruppen und der Ausbau des KZ-Systems nachvollziehen. Naujoks berichtet von den Häftlingen nach der sogenannten Aktion »Arbeitsscheu Reich« im Juni 1938, immer mehr jüdischen Häftlingen bis 1941, Massentransporten aus Polen zu Beginn des Jahres 1940, ab Sommer 1941 von sowjetischen Kriegsgefangenen. Diese sowie Homosexuelle, Geistliche und Häftlinge, die zur »Sonderabteilung Wehrmacht« zählten, lebten unter den schwersten Bedingungen von allen. Eine besondere Gruppe waren die tschechischen Studenten, die im November 1939 in Prag verhaftet wurden und von denen einige später berichteten, dass Naujoks ihnen das Leben gerettet hat. Häftlingskommandos werden zum Aufbau des KZ Ettersberg (später erhält es den Namen Buchenwald) und eines Frauenlagers nach Ravensbrück geschickt, das »Klinkerwerk« zwei Kilometer nordöstlich des KZ am Hohenzollernkanal wird angelegt. Dort betrug »die Todesrate durchschnittlich zwei bis drei Häftlinge täglich, wobei die Verhungerten und Entkräfteten, die täglich nur noch zum Sterben ins Lager getragen wurden, nicht mitgerechnet sind«.
Dem Bericht Naujoks ist ein Vorwort des Historikers Hermann Kaienburg vorangestellt. Ein Auszug aus dessen Buch über Sachsenhausen (2021) fasst die organisatorische Struktur des Funktionssystems der Häftlinge zusammen und thematisiert Machtkämpfe und Handlungsspielräume der Funktionshäftlinge. Sie, insbesondere die Lagerältesten wie Naujoks, »mussten ein Doppelspiel führen«, schreibt Kaienburg, indem sie den Anordnungen der SS folgten, gleichzeitig aber alle Möglichkeiten nutzten, Schlimmeres abzuwenden. »Das war eine permanente Gratwanderung.« Dabei stellte sich für die Lagerältesten die Frage, ob sie durch ein solches Verhalten der Lagerführung das gaben, was diese wollte, nämlich effiziente, reibungslose Abläufe. Kaienburg bilanziert, dass die oben genannte Strategie »wahrscheinlich das Vernünftigste war, was man tun konnte. Sie trug mit Sicherheit dazu bei, dass weniger gestraft und misshandelt wurde.« Kaienburg streift die 1994 von Lutz Niethammer losgetretene Kontroverse über die »Verstrickung kommunistischer Häftlinge in Verbrechen« (»Der ›gesäuberte‹ Antifaschismus. Die SED und die roten Kapos von Buchenwald«, Berlin 1994) und fasst zusammen: Es gebe so viele Berichte von Angehörigen ganz unterschiedlicher Häftlingsgruppen über die positive Wirkung der Solidaritäts- und Widerstandsarbeit, dass es nicht um das »Ob«, sondern nur um das »Wie« und das Ausmaß gehen kann. Naujoks Darstellung würdigt Kaienburg zu Recht als außerordentlich wichtig. Sie zeichne sich durch »gründliche Sachkenntnis, Ausführlichkeit, Vielfalt und Differenziertheit« aus. »Ihre besondere Stärke besteht darin, zu zeigen, wie in dieser von absoluter Menschenverachtung geprägten Welt, in der Häftlinge der unüberwindlich scheinenden Macht der SS wehrlos ausgeliefert schienen, den Mut und die Kraft aufbrachten, ihr dennoch zu widerstehen.«
Im Nachwort diskutiert Fischer die Grenzen von Naujoks Bericht. Was konnte er wissen und was nicht? Seine Erinnerungen sind zeitlich begrenzt, sie entstammen der Zeit, in der die deutschen politischen Häftlinge ihre »Hochzeit« hatten (1938–1942). Mit dem Transport von Tausenden Menschen aus der Sowjetunion und Polen verkleinerte sich ihr »schmaler Spielraum« dramatisch. Fischer zitiert Hermann Langbein, der politischer Häftling in Dachau, Auschwitz und Neuengamme war: Die »Abdichtung der Gruppe der Kommunisten« habe für Außenstehende katastrophal wirken können und die Erleichterungen im Lageralltag, über die sie verfügten, bei den Häftlingen aus den besetzten Ländern Europas vielfach »böses Blut« erzeugt, so Langbein. Die Jahre ab 1942, die bei Naujoks fehlen, sind diejenigen, in denen sich die Zustände im KZ weiter verschlimmerten.
Fischer fasst zusammen: Grundlegend ist Naujoks’ generelle Empathie für alle Häftlingsgruppen und sein Anspruch, »Pauschalurteile« abzulehnen, zweitens ist die eigene Gruppe in seinen Augen die deutlich am besten organisierte. Dabei spart er die scharfen Konflikte unter den kommunistischen Häftlingen aus. Es gibt Quellen, die von heftigen fraktionellen Auseinandersetzungen berichten. Naujoks zieht es vor, ein Bild zu zeichnen, »das vor allem die Zusammenarbeit und die Erfolge des Widerstands im Angesicht des Terrors der SS unterstreicht«, so Fischer. Zudem unterschätze Naujoks den inneren Zusammenhalt und die Selbstbehauptung von »Berufsverbrechern« und »asozialen« Häftlingen. Naujoks’ Blick auf diese »anderen«, die »Asozialen«, »Berufsverbrecher«, »175er«, Zeugen Jehovas, zum Teil auch Juden sei doch zuweilen von Unwissen und Ressentiments geprägt, schreibt Fischer. Diese Thematik lässt sich vorzüglich ergänzen durch Studien wie die von Dagmar Lieske (»Unbequeme Opfer? ›Berufsverbrecher‹ als Häftlinge im KZ Sachsenhausen«, Berlin 2016) oder Julia Hörath (»Asoziale und ›Berufsverbrecher‹ in den Konzentrationslagern 1933–1938«, Göttingen 2017).
Fischer würdigt Naujoks’ Erinnerungen als »kollektive Erinnerungsarbeit«. Er dokumentiert die Veränderungen von den ersten Notizen über die »Urschrift«, vom Typoskript zu den beiden Buchausgaben in der Bundesrepublik und der DDR und macht die vorgenommenen Änderungen kenntlich. Die Historikerin Ursel Hochmuth, Tochter der Widerstandskämpferin und Überlebenden des Frauen-KZ Ravensbrück Katharina Jacob, und Fritz Winzer hatten das Typoskript zur Herausgabe bearbeitet. Den »Kumpeln« war die Integration »verschiedener Erinnerungen« ein Anliegen, auch damit politische Gegner das Buch nicht als »kommunistische Propaganda« delegitimieren könnten. Das Buch müsse es unmöglich machen zu sagen: »Die Burschen lügen ja.« Damit waren sie erfolgreich. Das Buch ist eine wichtige, integre und glaubwürdige Quelle für die historische Forschung. Fischer schließt mit Maurice Merleau-Pontys poetischem Statement von 1947: Über Kommunisten des 20. Jahrhunderts zu schreiben bedeute »durch Wolken und Nacht hindurch auf jene Gesichter zu blicken, die schon von der Erde verschwinden.« (»Humanismus und Terror«, Frankfurt am Main 1990). Wolken und Nacht hätten sich heute noch dichter um sie gebildet, schreibt Fischer. »Hindurchblicken müssen wir alle von allein.«
Die »Kinder des Widerstands«, allesamt Nachkommen von kommunistischen Widerstandskämpfern, unter ihnen der kürzlich verstorbene Sohn Naujoks’, Rainer Naujoks, haben die Erinnerungen durch 47 Beiträge zum Thema Faschismus von unterschiedlichen linken Autorinnen und Autoren ergänzt. Darunter Texte und Quellen zur sozialen Lage der Arbeiter, zum Aufstieg der NSDAP, zu Verfolgung und Terror in Nazideutschland und zum Widerstand der Arbeiterbewegung. Das Flugblatt des »Komitees für proletarische Einheit« von 1933 »Was soll man tun?« ist ihnen dabei besonders wichtig. Die Gruppe stellt die Frage, »wie es möglich war, dass der Faschismus so leicht und mühelos siegen konnte«, und analysiert den aus ihrer Sicht falschen Kurs der KPD und ihr Versagen. »Noch niemals hat es eine konterrevolutionäre Diktatur gegeben, die sich auf eine derartige Massenbasis stützen konnte wie der deutsche Faschismus, aber es hat auch noch niemals eine revolutionäre Arbeiterpartei gegeben, die fünf Millionen Anhänger rekrutieren konnte, bevor sie in die Illegalität gejagt wurde.« Das abschließende Kapitel »Blick zurück und der Kampf gegen rechts« enthält Texte von Max Czollek, Eric Hobsbawm, Antonio Negri, Umberto Eco und anderen.
Beiden Bänden gleichsam als empfohlene Lektürehaltung vorangestellt ist Bertolt Brechts Gedicht »An die Nachgeborenen«: »Ihr aber, wenn es so weit sein wird / Dass der Mensch dem Menschen ein Helfer ist / Gedenkt unsrer / Mit Nachsicht.
Peter Badekow, Andre Rebstock, Rüdiger von Hanxleden (Hg.): Martha Naujoks – Harry Naujoks: Zwei Leben für die Befreiung: Aufbrüche und Niederlagen. Zwischen Revolution und Inferno (Edition Kinder des Widerstands). Hamburg: Galerie der abseitigen Künste 2025, 2 Bände im Schuber, 650 u. 740 S., 59 Euro
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Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude (21. September 2025 um 09:40 Uhr)Fortsetzung Leserbrief: Gendern hat eben nicht das Ziel, Diskriminierung zu bekämpfen, da sie ja an anderer Stelle alltäglich offizielle Politik ist (Stichwort Gaza). Das eigentliche Ziel ist hinter dem angeblichen Kampf für die Rechte von Minderheiten oder für die Gleichberechtigung verborgen. Gendern ist eine Trainingsmethode, um bestimmte Reflexe auszubilden. Jeder soll sich bei jedem Satz bewusst sein, dass er bestimmte Worte und Formulierungen nicht aussprechen darf, dass er einer anderen Sprachregelung zu folgen hat. So wird das jedenfalls bei der Gender-Pflicht in vielen Bildungseinrichtungen bereits gehandhabt. Und diese Selbstanpassung an Sprachregelungen wird dann auch auf vollkommen anderen Gebieten (!)erwartet und geliefert, weil sie zuvor antrainiert wurde. So funktioniert die Gleichschaltung durch die Hintertür. Ein Goebbels wird dafür nicht mehr benötigt.
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Leserbrief von Sabine Lueken aus Berlin (22. September 2025 um 17:37 Uhr)Lieber Fred Buttkewitz, da haben Sie ja ganz schön aufgefahren, was ? Selbstanpassung! Gleichschaltung durch die Hintertür! Goebbels! Was Sie bemängeln, war ein Zitat aus dem Buch, aus dem biografischen Teil von Henning Fischer, von mir kenntlich gemacht durch Anführungsstriche und Satzteil »fasst Fischer zusammen.« Ich selber hasse diese Art des Genderns und man wird sie in meinen Texten nicht finden. Nun kann man mir vorwerfen, dass ich gerade diese Textstelle zitiere. Ich hätte den Inhalt auch paraphrasieren können. Aber ich finde es sinnvoll, den Lesern und Leserinnen auch einen Eindruck vom Originaltext zu verschaffen. Mit freundlichem Gruß Sabine Lueken
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Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude (23. September 2025 um 11:44 Uhr)Liebe Sabine Lueken, mit keinem Wort habe ich Sie als Autorin kritisiert oder behauptet, die betreffende Textstelle würde von Ihnen stammen. Es war nur zu auffällig, dass sich Henning Fischer mit der Thematik der Stalin-Repressionen befasst, wo die Richter vorgefertigten Sprachregelungen folgten, und gleichzeitig in die Falle tappt, dabei ebenfalls künstlich erfundenen Sprachregelungen zu folgen. Offizielle Sprachregelungen, die zu befolgen waren, wenn man keinen Ärger wollte, gab es im Kaiserreich, unter Hitler, in der DDR und jetzt. Aber nur im Grundgesetz der BRD steht der Satz »Eine Zensur findet nicht statt«. Die findet ja angeblich auch in keiner einzigen Redaktion statt, sondern erfolgt in den meisten Fällen in vorauseilendem Gehorsam in Form von Selbstzensur. Das Gendern erzieht dazu, ständig selbst (!) etwas umzuformulieren, was man in der natürlich gewachsenen Sprache eigentlich anders auf der Zunge hätte. Es ist das ständige rote Lämpchen, welches warnend blinkt: »Darf ich das so sagen, oder muss ich es anders sagen?« Gegen solch verfeinerte Manipulation kann man gar nicht genug auffahren. Ganz davon abgesehen wird sich das Gendern allerdings langfristig nicht durchsetzen, da sich die Menschen solche Verstümmelungen ihrer Sprache nicht gefallen lassen. Für künstlich anerzogene Sprachfehler ist unsere Zunge zu faul, die daran gewöhnt ist, sich mit dem geringsten Aufwand verständlich zu machen.
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Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude (21. September 2025 um 04:25 Uhr)Korrigierter Leserbrief: »Im Sommer oder Herbst 1945 kreuzte er bei mir in der Redaktion der Berliner Zeitung auf», berichtete Martha später. Sie hatte ihn über den Rundfunk suchen lassen. «Sie nehmen die Fäden ihres persönlichen und politischen Lebens wieder auf, sie erforschen und dokumentieren die Verbrechen, deren Zeug:innen und Opfer sie wurden». Also Martha und Harry wurden «Zeug:innen», u.a. dessen, welchen Repressionen Martha Naujocks nach ihrer Emigration 1936 in der UdSSR als Kommunistin ausgesetzt war. Einer der Gründe dafür war, dass sich damals auch dort viel zu viele Menschen dem gerade herrschenden woken Zeitgeist anpassten und etwas so formulierten, wie es sich «gehörte», z.B. vor Gericht, wenn aufrechte Kommunisten plötzlich zu «Feinden des Volkes» erklärt wurden, auch wenn das im konkreten Fall absolut keinen Sinn ergab.Egal, die gerade herrschenden gesellschaftlichen Vorgaben des «Wordings» wurden peinlich genau erfüllt. Nur Martha hielt sich nicht immer daran, was ihr zum Verhängnis wurde. Wehret den nur scheinbar harmlosen Anfängen der Anpassung. Heutzutage kommt zwar niemand mehr ins KZ, wenn eine Formulierung nicht dem Mainstream gemäß ausfällt, solange man nicht in Chile unter Pinochet lebt. Aber die Wokeness erzieht die Menschen eben zu politisch korrektem Verhalten mit einem stets wachen inneren Zensor. Das ist dann die Vorstufe zu den Ereignissen, über die der Artikel berichtet.
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