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Aus: Ausgabe vom 15.09.2025, Seite 12 / Thema
Kapitalismus

Reale Barbarei

Warum es keine Reorganisation des Kapitalismus gibt – und was droht, wenn wir das nicht zur Kenntnis nehmen. Eine Positionsbestimmung
Von Andreas Buderus
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Der Kapitalismus in seiner imperialistischen Phase schiebt die Menschheit an den Rand der Existenz – Silbermine im peruanischen Cerro de Pasco (29.4.2006)

Gegenwärtig kursiert innerhalb emanzipatorischer und akademischer Milieus die Vorstellung, die anhaltende globale Eskalation von Kriegen, ökologischer Krise und geopolitischer Polarisierung markiere keine finale Krise des Kapitalismus, sondern lediglich eine brutalisierte Form seiner erfolgreichen Reorganisation auf neuer Basis (Digitalisierung, globales Krisenmanagement, multipolare Regulierung). Das ist gefährlich illusionär und verkennt die Tiefe der Krise, verwechselt chaotische Zersetzung mit »strategischer Reorganisation« – und klammert aus, was nicht ins Hoffnungsschema passt: die Eskalationslogik kapitalistischer Reproduktion, die strukturelle Ohnmacht bürgerlicher Steuerung – sowohl gesamtwirtschaftlich (Zusammenbruch der WTO) als auch politisch (Lähmung und Bedeutungsverlust der UNO, Faschisierung) – und das (aktuelle) Fehlen jeder relevanten international organisierten revolutionären Gegenmacht.

Schon einmal – im Vorfeld und nach Ausbruch des ersten imperialistischen Weltverteilungskrieges – stand die sozialistische Bewegung an einem historischen Punkt, an dem die imperialistische Eskalation von großen Teilen der Linken mitgetragen, verklärt oder verschwiegen wurde. Lenin antwortete darauf mit einer unerbittlichen Analyse und einer ebenso klaren strategischen Konsequenz: dem Bruch mit dem Opportunismus, der sich zum Sozialchauvinismus gewandelt hatte.¹ Heute ergibt sich die gleiche Notwendigkeit: gegen neue Kriege, neue Illusionen, neue Beschönigungen Klarheit zu schaffen.

Zerstörung als Bedingung

Das heutige globale kapitalistische Reproduktionsregime ist nicht einfach eine neue Variante des Neoliberalismus oder eine technologische Übergangsformation. Es stellt die final parasitäre Phase der global durchgesetzten Kapitalverwertung dar – ein Stadium, in dem Akkumulation nicht mehr über produktive oder kriegerische Marktausweitung, sondern nur noch über Zerstörung, Enteignung, finale Vernutzung sämtlicher natürlicher und globaler Ressourcen und Entwertung funktioniert. Das richtet sich direkt gegen die übergroße Mehrheit der Abhängigen und Unterdrückten, der Arbeiter, Clickworker, Subsistenzbauern, kleinen Selbständigen und Handwerker und Marginalisierten weltweit, die, wenn sie nicht mehr in der Mehrwertproduktion vernutzt werden können, als kapitalistische »Überbevölkerung« betrachtet werden. Dies betrifft aktuell die als »überflüssige Bevölkerung« identifizierten und abqualifizierten Menschen im Gazastreifen, im Jemen, in der Subsahara, im Kongo und weiten Teilen Lateinamerikas. Für diese ist im kapitalistischen Weltsystem kein Platz mehr, und sie werden durch Kriege und Massaker immer weiter dezimiert. Konsequenterweise richtet sich dann auch genau gegen diese Menschen als Flüchtende die zunehmend militärische Abschottung der USA und der »Festung Europa«.

In dieser Phase – die mit Blick auf Lenins Analyse des Imperialismus und in Würdigung der seitdem stattgefundenen Entwicklung am ehesten als »Zersetzungsimperialismus« zu beschreiben ist – sind Krieg, ökologische Zerstörung, Ausbeutung aller natürlichen und planetaren Ressourcen bis zur finalen Erschöpfung, autoritäre Steuerung und Faschisierung, massenhafte Prekarisierung und Vernichtung all derer, die weder als variables Kapital noch als Konsumentinnen und Konsumenten vernutzbar sind, nicht mehr Pathologien, sondern Funktionsbedingungen des Systems geworden, die zentralen Krisenantworten auf eine Weltordnung, die nichts mehr zu verteilen, aber ihre nach wie vor profitable Herrschaft zu verteidigen hat; gestützt auf Eigentumstitel, Staatsgewalt, Fabrikordnung und Kasernenhofdisziplin. Dieser rein verwertungsorientierte zerstörerische Zustand ist die einzige Perspektive, die der Kapitalismus trotz aller diplomatischen Floskeln heute noch bietet.

These 1: Was als »Reorganisation« erscheint, ist das final parasitäre Stadium
des global durchgesetzten kapitalistischen Reproduktionsregimes.

Lenin beschrieb 1916 den Imperialismus als »monopolistischen, parasitären und sterbenden Kapitalismus«. Der Begriff parasitär/faulend verweist auf eine historische Blockade der Produktivkraftentwicklung, auf Stagnation, Enteignung, Kapitalexport und Raubverwertung. Diese Struktur ist nicht überwunden, sondern – durch das global durchgesetzte digitale Weltmarktsystem, das heute auf maximaler Ausbeutung planetarer, biologischer und menschlicher Ressourcen basiert – vollendet. Analytisch präzise beschrieben, kennzeichnen diese Entwicklungen den Zustand systemischer Verwesung, der sich ausschließlich noch durch technologische Kontrolle, Gewalt und ökologische Vernichtung reproduziert und bis zum Erreichen der planetaren Grenzen² nur noch zeitlich begrenzt aufrechterhalten werden kann.

Die Vertreter der Reorganisationsthese verweisen gerne auf das »Verschwinden der Arbeiterklasse« als der möglichen Trägerin der Systemüberwindung. Das ist so empirisch falsch wie analytisch unterkomplex. Die Arbeiterklasse bleibt der zentrale Pol gesellschaftlicher Entwicklung und möglicher Perspektive auf Befreiung und planetares Überleben. Laut der Internationalen Arbeitsorganisation (International Labour Organization, ILO) sind weltweit über 1,8 Milliarden Menschen in abhängiger Lohnarbeit; hinzu kommen rund zwei Milliarden im informellen Sektor – insgesamt also weit über drei Milliarden Menschen, deren Existenz direkt auf abhängiger Beschäftigung basiert.³ Hinzu kommen die jeweils abhängigen Familienangehörigen. Nie zuvor in der Geschichte gab es eine derart große Klasse von Menschen, die für ihr Überleben Lohnarbeit leisten müssen. Diese Klasse ist jedoch zunehmend in prekären und rechtlosen Verhältnissen gefangen: von der massenhaften Ausweitung unsicherer Dienstleistungs- und Logistikjobs über die extrem prekäre digitale Tagelöhnerarbeit in der »Clickwork«-Ökonomie bis hin zur Identifizierung ganzer Bevölkerungen als »überschüssig«. Richtig ist: Eine Klasse an sich ist nicht automatisch eine Klasse für sich. Das Klassenbewusstsein ist gebrochen, fragmentiert, deformiert. Dennoch mehren sich Kämpfe weltweit – in Logistik, Industrie, Pflege, Bildung, gegen Teuerung und Repression.

An dieser Bruchstelle erscheinen bonapartistische Herrschaftsformen: Die Bourgeoisie dominiert ökonomisch, verliert aber ihre politische Führungsfähigkeit; ein »über den Klassen« agierender Staat stabilisiert die zunehmend dysfunktionale Ordnung mit autoritären Mitteln, während populistische Versprechen eine reaktionäre Massenbasis bedienen. Am deutlichsten ist das aktuell zu beobachten in den USA seit dem zweiten Amtsantritt von Donald Trump, dessen Politik der sich verselbständigenden Exekutive jenseits der häufig betonten »Irrationalität« und dem personifiziertem »Irrsinn« doch erkennbar der Agenda des libertären »Project 2025« folgt, mit dem klaren Fokus auf autoritäre Machtkonsolidierung und ideologische Durchsetzung.⁴

Im digitalen Kapitalismus verbindet sich diese bonapartistische Form zunehmend mit der Ideologie der »Dunklen Aufklärung« (vgl. junge Welt vom 15.7.2025). Diese neoreaktionäre Bewegung verabschiedet sich von der tradierten Legitimation des Kapitalismus, nach der Märkte wenigstens indirekt allen zugute kämen. An deren Stelle tritt eine offene Apologie oligarchischer Machtkonzentration. Ihre Botschaft an die Marginalisierten ist kein verschleiertes Versprechen auf Teilhabe mehr, sondern die unverhohlene Absage: »Geht zum Teufel!«⁵ Die »Dunkle Aufklärung« lehnt Demokratie, Egalität und jede soziale Fassade für das Gesellschaftssystem ab. Sie organisiert die systematische Deformation des Bewusstseins über digitale Plattformen, Algorithmen und Überwachungstechnologien. So wird Klassenbewusstsein nicht nur unterdrückt, sondern präventiv fragmentiert und neutralisiert.

System aus den Fugen

These 2: Der Nationalstaat kann keine kapitalistische Reorganisationsinstanz mehr sein.

Politikerinnen und Politiker der geschäftsführenden Ausschüsse der Bourgeoisie stützen sich auf die Annahme, dass die existierenden Nationalstaaten oder supranationale Zusammenschlüsse wie die G7, die EU oder »BRICS plus« als politische Agenturen ihrer jeweiligen Kapitalien handeln und die Reorganisation des kapitalistischen Verwertungsprozesses politisch steuern könnten. Das ist ein anachronistisches Missverständnis: Im Zeitalter der digitalisierten Weltmärkte ist die Zuordnung nationaler Kapitale faktisch obsolet. Kapitalströme, Eigentümerstrukturen, Lieferketten und Profitzentren sind transnational. Die kapitalistische Produktionsweise befindet sich im Stadium des maximal verschärften Falls der Profitrate.⁶

Die kapitalistische Reproduktion stößt an strukturelle Grenzen: Outsourcing und nachholende Entwicklung verschieben das Problem nur räumlich, verschärfen aber zugleich Ressourcenknappheit und Staatenkonkurrenz. Steigende Kosten für Arbeit, Material, Umwelt und soziale Sicherung begrenzen die Profitmöglichkeiten, während der Legitimitätsverlust staatlicher Ordnungskräfte die Grundlage kapitalistischer Akkumulation untergräbt. Mit der Erosion staatlicher Steuerungsfähigkeit radikalisieren sich Bewegungen, entziehen sich parlamentarischer Integration und treiben Fragmentierung voran. Finanzmarktspekulation verselbständigt sich, Austeritätspolitik blockiert Wachstum, Stabilisierungsversuche schlagen in Krisendynamiken um. Sicherheitsmaßnahmen erzeugen neue Bedrohungen, supranationale Blöcke verstärken Spannungen, Polarisierung ruft Militär- und Technokrateneinsätze hervor, die demokratische Institutionen aushöhlen. Da zugleich Subsistenzpotentiale, Ressourcen und ökologische Belastbarkeit erschöpft sind, verlieren zyklische Erneuerungsmechanismen ihre Wirksamkeit. Das System gerät aus dem Gleichgewicht: Krisenprozesse kumulieren sich, Stabilisierung schlägt in kriegerisches Chaos um.

Die »Repolitisierung« der Geopolitik (Protektionismus, Sanktionen, »Standortpolitik« bis hin zum Krieg um Rohstoffe) folgt keinem rational auf Nachhaltigkeit angelegten und begründeten Konzept mehr, sondern ist zunehmend Ausdruck häufig chaotischer, tagespolitisch indizierter, als »erratisch« erscheinender Zersetzungsprozesse, in denen die im Detail unterschiedlichen Interessen der real existierenden verschiedenen Kapitalfraktionen unter den Bedingungen globaler Stagnation gegeneinander gesetzt werden und miteinander konkurrieren.

Nationalstaaten und supranationale Netzwerke agieren jenseits ihrer Selbstwahrnehmung und -darstellung zunehmend nur noch als aggressive Verwertungseinheiten für transnationales Kapital, nicht mehr als strategische Planungszentralen für die Aufrechterhaltung oder mindestens Rettung kapitalistischer Reproduktionsbedingungen. Der Nationalstaat kann die Krise nicht mehr konstruktiv verwalten oder (re-)organisieren – er militarisiert sie nur noch und versucht, sie kriegerisch einzuhegen.

Unaufhaltsame Fragmentierung

These 3: Die globale ökologische und klimatische Verwüstung ist kein Kollateralschaden,
sondern finale Funktion.

Das Überschreiten von bereits sechs von neun identifizierten planetaren Belastbarkeitsgrenzen (Verlust des Amazonasregenwaldes, Pol- und Gletscherschmelze, Freisetzung von Methan, Ozeanversauerung etc.)⁷ und klimatischen Kipppunkten, das jedes Jahr immer frühere Überschreiten des Erdüberlastungstages⁸ und das fortschreitende und eskalierende globale Artensterben⁹ markieren nicht eine behebbare »Krise im zyklischen Reorganisationsprozess«, sondern das Endstadium eines Systems, das angesichts des maximal verschärften Falls der Profitrate aufgrund seiner immanenten systemischen Logiken die eigenen materiellen Grundlagen exponentiell beschleunigt vernichtet – ja vernichten muss.

Die konsequente Nichtbeachtung der materiellen planetaren Grenzen durch die global exekutierten nationalen Politiken und die supranationalen Netzwerke und Blöcke ist eben nicht »irrational«. Sie handeln systemkonform. Ihre Aufgabe ist es, im Interesse der Kapitalakkumulation die letzten Ressourcen zu mobilisieren, auch wenn dies den Kollaps der ökologischen Lebensgrundlagen bedeutet. Der bürgerliche Staat ist hier nicht mehr neutraler »Moderator« in der Funktion des »ideellen Gesamtkapitalisten«: Er ist integraler Bestandteil der Selbstvernichtungsdynamik. Als bewaffneter Arm des Kapitals garantiert er das Privateigentum an fossilen Ressourcen, sichert Lieferketten militärisch ab, finanziert »fossile« Konzerne mit Subventionen und stützt ganze Industrien, die das Überleben der Menschheit untergraben. Das ist »staatliche Rationalität« im Rahmen eines Kapitalismus, dessen Profitrate nur noch durch maximale Entwertung und Vernutzung, wenn schon nicht mehr gesteigert, dann wenigstens im Schnitt (noch) aufrecht erhalten werden kann – auch wenn dies die Selbstvernichtung einschließt.

These 4: Es gibt kein »Ende der Geschichte« – aber auch keine kapitalistische Zukunft.

Die Siegesrhetorik nach 1989 verkündete das »Ende der Geschichte«. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Integration Chinas in den Weltmarkt schien die kapitalistisch-demokratische Ordnung endgültig alternativlos. Was Francis Fukuyama als »Endzustand« des weltpolitischen Prozesses feierte¹⁰, erweist sich rückblickend als Auftakt zur finalen Eskalation. Mit dem Verschwinden der systemischen Konkurrenz entfiel auch der Zwang des Kapitals, sich durch Zugeständnisse – etwa in Gestalt wohlfahrtsstaatlicher Absicherungen – zu legitimieren. Statt dessen konnte es seinen parasitären Charakter offen entfalten.

Die letzten drei Jahrzehnte sind nicht durch stabile Prosperität gekennzeichnet, sondern durch eine Akkumulation von Krisen: Finanzcrashs, permanente Kriege, weltweite Prekarisierung, Hunger und ökologische Verwüstung. Die ökologischen und sozialen Reproduktionsbedingungen der Menschheit werden nicht zufällig, sondern planvoll missachtet – weil ihre Erhaltung nicht kapitalverträglich ist; zunehmend auch in den Metropolen. Die technische Entwicklung (KI, Plattformökonomie, Robotik) ersetzt keine (Gebrauchs-)Wertproduktion, sondern verschärft die Krise – weil sie permanent, exponentiell beschleunigt und zunehmend die Mehrwertproduktion untergräbt.

These 5: Die multipolare Welt ist keine Alternative, sondern Ausdruck imperialistischer Generalmobilmachung.

Die Illusion einer »neuen multipolaren Ordnung« als Ausdruck einer tragfähigen Reorganisation des globalen kapitalistischen Reproduktionsregimes greift zu kurz: Was als Reorganisation erscheint, ist tatsächlich die neue, final entgrenzte Form imperialistischer Konkurrenz, die – analog zu 1914 – zwangsläufig erst in Stellvertreterkriegen, Rüstungswettläufen, neuer Blockbildung und unausweichlich im globalen Krieg mündet.

Russland, China, Indien und andere neoimperialistische Staaten vertreten kein alternatives Entwicklungsmodell, sondern betreiben – in Konkurrenz zum westlich dominierten Kapitalblock – eigene Versuche, sich im global entgrenzten Reproduktionsregime kapitalistisch zu organisieren. Diese Versuche schaffen jedoch keine stabilen Gegenordnungen, sondern verschärfen die allgemeine Krisen- und Konkurrenzdynamik. Ihre entsprechende Identifikation als Wettbewerber, Rivale und Gegner und die daraus resultierende zunehmende militärische Konfrontation mit dem durch die USA dominierten NATO-Westen ist kein Bruch mit der kapitalistischen Reproduktionslogik und Weltordnung, sondern Ergebnis ihrer nachholenden Integration ins imperiale Gesamtsystem. Was als entstehende multipolare Weltordnung erscheint, ist insoweit tatsächlich Ausdruck eines fragmentierten, nicht mehr systemisch und nicht einmal mehr zumindest in den Metropolen friedlich integrierbaren Weltimperialismus. Es gibt keine multipolare Alternative innerhalb des Imperialismus.

»Zeit der Monster«

These 6: Der heutige Imperialismus bestätigt Lenins Analyse – mit Zeitverzögerung.

Lenins Charakterisierung des Imperialismus war in ihrer Tendenz richtig, aber zeitlich verfrüht: 1916 war die Weltwirtschaft noch nicht vollständig durchdrungen vom Finanzkapital – große Teile der Welt befanden sich zwar in formaler Kolonialherrschaft, nicht aber in vollständig integrierten Weltmärkten. Die technologische Entwicklung einer weltumspannenden und in Echtzeit erfolgenden Kommunikation stand noch aus. Die globale Synchronisierung des Kapitals war embryonal. Die Entwicklung der Produktivkräfte war nicht an ihrer systemischen Schranke und ihren materiellen planetaren, klimatischen und biologischen Grenzen angelangt: Akkumulationszyklen waren real möglich.

Heute dagegen ist die letzte Phase erreicht, die Lenin antizipierte: Das Monopolkapital ist universal, die Konkurrenz durch Oligopole ersetzt. Finanzialisierung und Digitalisierung haben sämtliche Lebensbereiche durchdrungen. Krieg, Extraktivismus und Zerstörung sind keine Ausnahme, sondern systemische Notwendigkeit und Realität. Bereits zweimal wurden durch die USA atomare Massenvernichtungswaffen eingesetzt. Der potentielle atomare Overkill ist eine reale Gefahr.

Die Vorstellung einer kapitalistischen »Reorganisation« verkennt, dass der Kapitalismus nicht planmäßig gesteuert oder rational reorganisiert werden kann. Seine inneren Widersprüche – insbesondere zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung sowie zwischen nicht mehr nur tendenziellem, sondern maximal verschärftem Fall der Profitrate und Akkumulationszwang – treiben den Kapitalismus notwendig in zunehmend chaotische Krisenprozesse. Das von Gramsci antizipierte Interregnum ist an sein Ende gekommen – die »Zeit der Monster« hat begonnen, in der das kapitalistische Weltsystem nur noch als (selbst-) zerstörerische Totalität fortbestehen kann.

These 7: Revolutionäre Perspektive statt linksliberaler scheinemanzipatorischer Lagerpolitik.

Die Aufhebung des selbstmörderischen Widerspruchs kann nicht darin liegen, sich in das eine oder andere geopolitische Lager oder die eine oder andere von den Herrschenden angebotene Illusion von »Völkerrecht«, »regelbasierter Ordnung«, »feministischer Außenpolitik«, »Green New Deal«, »Identitätspolitik« oder »Antifaschismus« zu flüchten. Auch der Appell an einen »besseren Staat« ist nutzlos. Der bürgerliche Staat ist kein neutrales Instrument, das nach Belieben sozial oder demokratisch gestaltet werden könnte, sondern selbst Ausdruck der kapitalistischen Produktions- und Eigentumsverhältnisse in ihrer jeweiligen historischen Ausformung. Er garantiert Privateigentum, erzwingt Konkurrenz, sichert Akkumulation – und fungiert im letzten Schritt als bewaffneter Arm gegen revolutionäre Bewegungen. Demokratie und Faschismus sind daher keine Gegensätze, sondern zwei Formen bürgerlicher Herrschaft zur Aufrechterhaltung des Kapitalismus.

Statt dessen muss gelten: präzise Markierung des zunehmend offen zu Tage liegenden parasitären und zerstörerischen Charakters des Kapitalismus – ohne Illusionen in und auf Reform oder demokratisch-ökologische Reorganisation; Aufbau internationaler revolutionärer Organisationen, die keiner nationalen Bourgeoisie und keinem der supranationalen Machtblöcke verpflichtet sind, sondern einzig und allein dem Klasseninteresse der Arbeiterinnen und Arbeiter, Ausgebeuteten und Unterdrückten weltweit; Analyse und Benennung des global tobenden Krieges nicht nur als »moralische Katastrophe«, sondern als zwingender ökonomischer Ausdruck kapitalistischer Reproduktion und Verwertungslogik in ihrer parasitären und faulenden imperialistischen Endphase – und Überführung dieser Analyse in eine konkrete Praxis des »revolutionären Defätismus«.

Bruch statt Anpassung

In der jetzt angebrochenen »Zeit der Monster« verliert die demokratische Form bürgerlicher Herrschaft zunehmend und schnell an Substanz, während faschistisch-militaristische Durchsetzung und Liquidierung gesellschaftlicher Reste von Egalität und Teilhabe dominieren. Die gegenwärtige globale kriegerische Konstellation ist keine Vorstufe eines neuen, reorganisierten Kapitalismus, sondern seine finale, chaotische und globalisierte Zersetzung. Der heutige Imperialismus ist nicht Ausdruck der Stärke und Reorganisationsfähigkeit des kapitalistischen Reproduktionsregimes, sondern von Entgrenzung, finalem Kontrollverlust und seiner agonal-funktionalen Schwäche.

Die Barbarei ist nicht mehr abstrakte Gefahr, sondern konkreter Alltag – produziert von einem System, das weder Frieden noch Zukunft kennt. Andererseits eröffnet das chaotisch taumelnde System zugleich den Raum für grundlegende gesellschaftliche Neuordnungen. Revolutionärer Defätismus bedeutet, den global tobenden Krieg nicht nur als »moralische Katastrophe« zu kritisieren, sondern als ökonomisch notwendigen Ausdruck der kapitalistischen Verwertungslogik. Daraus ergibt sich eine konkrete Praxis: die Untergrabung des Burgfriedens in den Metropolen, die Weigerung, nationale Kriegsziele mitzutragen, die Verbindung sozialer Kämpfe im Alltag mit dem internationalen Widerstand gegen Krieg und Barbarei. Die Konsequenz lautet: Bruch statt Anpassung.

Anmerkungen

1 Vgl. W. I. Lenin: Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus (Oktober 1916): In: ders: Werke, Bd. 23, Berlin 1974, S. 102–118

2 www.de-ipcc.de/media/content/Hauptaussagen_AR6-SYR.pdf

3 migration.ucdavis.edu/rmn/blog/post/?id=2856.com

4 www.jungewelt.de/artikel/506152.ideologiekritik-demokratie-als-fessel.html

5 Ebd.

6 www.praxisphilosophie.de/carchedi_krise_und_fall_der_profitrate.pdf; monde-diplomatique.de/artikel/!231448

7 www.bundesumweltministerium.de/themen/nachhaltigkeit/integriertes-umweltprogramm-2030/planetare-belastbarkeitsgrenzen

8 www.greenpeace.de/engagieren/nachhaltiger-leben/internationaler-earth-overshoot-day

9 www.greenpeace.de/biodiversitaet/artenkrise/artensterben

10 Francis Fukuyama: The End of History and the Last Man. New York 1992

Andreas Buderus schrieb an dieser Stelle zuletzt am 13. Juni 2025 über das Manifest einiger SPD-Mitglieder: »Ein bisschen Frieden«

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz Schoierer (17. September 2025 um 10:19 Uhr)
    Wie die Welt im Jahre 2025 aus Sicht von Andreas Buderus aussieht, könnte man so zusammenfassen: Nationale Kapitalisten gibt es nicht mehr, sie haben sich ins »transnationale« Niemandsland abgesetzt und damit unsichtbar gemacht (Hinter dem »transnationalen« Nebelvorhang kann man auch den deutschen Imperialismus, der im Artikel mit keiner Silbe erwähnt wird, verstecken). Russland, China und Indien sind imperialistische Länder und damit ebenfalls im »Weltimperialismus« integriert. Ist etwa Nordkorea, das sich mit Russlands Abwehrkampf solidarisch erklärt, auch imperialistisch? Jene DVRK, die seit ihrer Gründung einen tapferen Abwehrkampf gegen den US-Imperialismus führt. Oder die Länder, die Russlands militärische Sonderoperation nicht verurteilen, alle imperialistisch? Was hilft nach Ansicht des Autors in dieser hoffnungslosen Situation: Der Hauptfeind steht nicht im eigenen Land, hier der deutsche Imperialismus. Nein, gleich die ganz große Nummer: Aufbau internationaler revolutionärer Organisationen, »revolutionärer Defätismus«. Fehlte nur noch die trotzkistische Phrase »Permanente Revolution«. Und siehe da: Googelt man nach »revolutionärer Defätismus«, landet man sofort bei den einschlägigen Webseiten. Zum Thema »Die Zuordnung nationaler Kapitale ist faktisch obsolet« ein Zitat aus der KAZ Nr. 354 – März 2016: »Profit, besonders der Monopolprofit in der Epoche des Imperialismus ist international, sein Einkassieren, Verstecken, seine Durchsetzung aber ohne die Gewalt der imperialistischen Nationalstaaten nicht möglich.«
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim Seider aus Berlin (16. September 2025 um 17:49 Uhr)
    Andreas Buderus hat eine glänzende Zusammenfassung dessen gegeben, worin sich die allgemeine Krise des Kapitalismus heute ausdrückt. Ihre progressiven Potenzen hat die kapitalistische Gesellschaft längst erschöpft. Dafür ist sie jetzt erschreckend präzise in der Lage, jeden Fortschritt in blanke Zerstörung zu verwandeln. Wir stehen unmittelbar und unumkehrbar an einem Scheideweg. Entweder führt uns dieses System in Barbarei und Untergang. Oder es gelingt im letzten Moment noch, den Weg zur Rettung der Zivilisation einzuschlagen. Ihn vom Kapitalismus zu erwarten, ist pure Illusion. Noch nie war der Sozialismus notwendig wie heute. Das Kapital ist fest entschlossen und sieht sich in der Lage dazu, diesen Weg niemals zuzulassen. Dann wird zur brennendsten Frage der Gegenwart, wer die neue Gesellschaft gegen seinen massiven Widerstand durchsetzen kann. Wo sind diese Kräfte zu finden, die das bewerkstelligen könnten? Wir sollten dabei die ablaufenden Kämpfe um den Multilateralismus nicht unterschätzen. Sind sie nicht auch Ausdruck dessen, dass es mächtige Interessen jenseits des unilateralen Weltkapitals gibt, die man dafür mobilisieren kann? Sind über einhundert Millionen Mitglieder in der Kommunistischen Partei Chinas nicht auch eine Kraft, der wir uns bewusst sein sollten? Über These 5 sollten wir deshalb noch einmal gründlich nachdenken, um nicht in Fatalismus zu verfallen. Sie grenzt zu stark aus. Der Kampf um die Rettung der Zivilisation kann immer noch gewonnen werden. Wir dürfen dabei aber nicht einen einzigen vergessen, der dabei unser Mitstreiter sein könnte.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Enrico Mönke aus Ottenhagen (16. September 2025 um 15:53 Uhr)
    Der Nachweis für die »Blockade der Produktivkraftentwicklung« als Beleg des »final parasitäre(n) Stadium(s)« des heutigen Kapitalismus fehlt. Empirisch erscheint das Gegenteil. Das »Knochen- u. Muskelsystem der Produktion« (MEW 23:195), die Produktionsinstrumente, entwickeln sich ungehindert. Siehe organische Zusammensetzung des Kapitals (S. Krüger, VSA 2024). »Das Klassenbewusstsein ist gebrochen« und »An dieser Bruchstelle erscheinen bonapartistische Herrschaftsformen«. ? Der historische Bonapartismus von 1851 war gerade das Ergebnis eines Patts zwischen dem revolutionären Pariser Proletariat und der politisch schwachen Bourgeoisie. Diese Klassenkonstellation gibt es heute nicht. Die heutige Autokratie z.B. von Trump muss anders erklärt werden als mit der »Grobe(n) Allerweltsformel« (D. Boris, jW 2018) vom »Bonapartismus«. Die Annahme vom »«Verschwinden der Arbeiterklasse» … Trägerin der Systemüberwindung« sei »empirisch falsch wie analytisch unterkomplex«. Dagegen Marx an Weydemayer: »Was ich neu tat, war … nachzuweisen, dass die Existenz der Klassen bloß an bestimmte historische Entwicklungsphasen der Produktion gebunden ist« (MEW 28: 504 ff.). Genau das hat z.B. Jörg Miehe für die BRD statistisch nachgewiesen: Die Verringerung der Arbeitskräfte vom Typ Arbeiterklasse bei sich entwickelnder Industrie (»Vom Schwinden der Arbeiterklasse« 2017). 1914 waren es noch 74% (Leo Schwarz, jW 2018). Inzwischen sind es 13%: Von 40 Mill. Erwerbstätigen sind nur noch 5,2 Mill. Arbeiter (S. 445). Eine politische Hegemonie dieser Minderheit ist unwahrscheinlich. Diese historische Tendenz wird durch die ILO-Zahlen nicht widerlegt. Das Wachstum der Weberheere in D wird heute in Asien, Afrika ebenso vorübergehend bleiben (M. Sohn, jW 2018). Im »Maschinenfragment« wird diese Tendenz von Marx als Zusammenbruch der auf Tauschwert beruhenden Produktion behandelt (MEW 42:590 ff). Als Subjekt der Geschichte tritt dabei nicht die Arbeit sondern das Kapital als Produktionsfaktor auf.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Gabriel Toledo aus Berlin (15. September 2025 um 18:47 Uhr)
    Schön gebrüllt Löwe! Doch, und da liegt der Hase im Pfeffer, etwas schwach auf der Brust, was konkrete Gegenmaßnahmen betrifft. Defätismus, auch wenn er revolutionär daherkommt, ist zum einen doch etwas unkonkret, unter dem sich jeder vorstellt, was ihm gerade beliebt, zum anderen reicht dies bei weitem nicht mehr aus.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Oliver Sümnick aus Hundsbach (15. September 2025 um 16:08 Uhr)
    Der Artikel analysiert die Gegenwart, d. h. den aktuellen Verlauf der naturhistorischen Entwicklung des Kapitalismus, sehr treffend. Aber leider gibt es keinen Grund, zumindest was hiesige Verhältnisse betrifft, auf eine von der Mehrheit der Bevölkerung getragene radikale Kurskorrektur, die dieses in allen Aspekten barbarische System, das sich vom Diebstahl unbezahlter Arbeitskraft allein nicht mehr adäquat reproduzieren kann, zu hoffen. Durch Framing/Manipulation wird die Mehrheit der Bevölkerung aktuell bei der Stange gehalten und auf die kommenden Kriege und sonstigen Schweinereien vorbereitet.

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