Bis die Birne matscht
Von Kai Köhler
Das vielgestaltige Werk von Luciano Berio (1925–2003) ist nur schwer auf einen Stilbegriff zu bringen. Etliche seiner Kompositionen schreiben schon vorhandene Musik weiter, so die »Sinfonia« von 1968, deren dritter Satz das Scherzo aus Mahlers 2. Sinfonie wie ein Gerüst verwendet, an das sich Zitate aus vielen anderen Werken anlagern. Eine weitere Schicht bildet ein umfangreicher Text, von dem – angesichts der Dichte des Geschehens – nur Fetzen verständlich sind. Es geht hier nicht um den einzelnen Inhalt, sondern um den Gesamtgestus der Überlagerung, des Rebellischen, des gewollten Chaos bei Gleichgültigkeit gegenüber Stilreinheit. Nicht ohne Grund hat man die »Sinfonia« als frühe musikalische Postmoderne verstanden.
Das Orchestra dell’ Accademia Nazionale di Santa Cecilia unter der Leitung von Daniel Harding vermittelte am 7. September im Rahmen des diesjährigen Musikfest Berlin (30. August bis 23. September) das Maßlose der Konzeption und gab zudem als Gegensatz Berios »Folk Songs« von 1964 mit Magdalena Kožená als Solistin: mit kleinem Instrumentarium harmonisch reizvoll schattierte und mit kleinen Zwischenspielen versehene Volkslieder aus Ländern von Italien bis Aserbaidschan. Wiederum in eine andere Welt führte »Rendering« (1989/90), das am 30. August im Auftaktkonzert des Musikfests vom Amsterdamer Royal Concertgebouw Orchestra unter Klaus Mäkelä zu hören war. Hier instrumentierte Berio Skizzen Franz Schuberts zu einer Sinfonie und fügte bei Lücken flirrende Überleitungen ein, mit prominent klimpernder Celesta. So rückt Schuberts Fragment in eine historische Ferne, als klinge etwas Verlorenes zu uns hinüber. Dadurch aber wird es sentimental und unverbindlich, etwa im Vergleich zur Orchestrierung nur der Skizzen Schuberts, die Peter Gülke angefertigt hat und die das Brüchige, Katastrophische bereits der Konzeption verdeutlicht.
Viel überzeugender sind Berios »Voci (Folk Songs II)«, am 2. September gespielt vom Orchestre Philharmonique de Radio France unter Mirga Gražinytė-Tyla. Zwanzig Jahre nach den ersten Folk Songs vertraute Berio melodische Fragmente sizilianischer Lieder der Solo Viola (Antoine Tamestit) an, die mit zwei Instrumentalgruppen kommuniziert. Angesichts nun wohl für immer verschwundener vorindustrieller Volksmusik hat das Spiel von Nähe und Ferne, der Kontrast von erahnbarem Lied und musikalisch moderner Verarbeitung, seinen Sinn.
Auch neueste Musik steht auf den Programmen. Esa-Pekka Salonen brachte am 1. September mit dem Orchestre de Paris und Stefan Dohr als Solisten sein zwei Tage zuvor uraufgeführtes Hornkonzert mit. Mit assoziativer Formgebung schloss das Konzert an die unmittelbar zuvor gespielte Trauerkomposition »Requies« von Berio an. Traumartig erscheint qua Zitat oder Anspielung scheinbar Bekanntes; seltene Zusammenballungen kommen doch so häufig vor, dass sie als Bedrohung stets gegenwärtig sind. Dabei gibt es wiedererkennbare Muster. Komponisten machen es heute dem Publikum meist leichter als vor 50 Jahren.
Das wurde auch hörbar bei einem Konzert der Berliner Philharmoniker unter FranÇois-Xavier Roth am 12. September. Den Auftakt machte »Rituel in memoriam Bruno Maderna«, eine monumentale Trauermusik von Pierre Boulez. Acht im Raum verteilte Orchestergruppen kommunizieren miteinander, teils in freien Abläufen. Im Einzelnen ist das genau ausgehört und mit faszinierenden Klangwirkungen. Im Ganzen folgt der Ablauf einem kalkulierten Muster, das sich sinnlich nicht mitteilt und daher über die Spieldauer von einer halben Stunde sogar bei einer so hervorragenden Aufführung wie hier nicht trägt. In Kontrast dazu stand die Uraufführung des Abends, »Between Five Columns« von Ondřej Adámek. Aus dem Gegeneinander zweier Akkorde gewinnt Adámek eine konzise Entwicklung, die zu einer immer dichteren Struktur und schließlich wieder zum Zusammensinken führt. Gestische Deutlichkeit ist eine Qualität dieses Werks.
Der Programmbeitrag des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin unter Anja Bihlmaier brachte am 4. September unter anderem zwei wertvolle Wiederaufführungen. Olly Wilsons »Shango Memory« von 1995 leitete zugleich den Saisonschwerpunkt des Orchesters »Afrodiaspora – Composing While Black« ein. Es wurde spürbar, dass Shango der Yoruba-Gott des Blitzes und Donners ist. Dabei war die Musik keineswegs »plural«, wie im Programmheft zu lesen stand. Wilson gelang es vielmehr, eine Einheit von afrikanischen Rhythmen und Verfahrensweisen europäischer und nordamerikanischer Neuen Musik herzustellen.
Zuvor war Bernd Alois Zimmermanns »Musique pour les soupers du Roi Ubu« (1962–67) zu hören. In Alfred Jarrys Drama ist der König Ubu, zu dessen Abendgelage hier aufgespielt wird, ein primitiver, gewaltfreudiger Bürger à la Trump. Zimmermann hat für den König ein »Ballet noir« komponiert, ein schwarzes Ballett, das fast nur aus Zitaten besteht. Der Despot frisst Kultur, ohne sich um Zusammenhänge zu kümmern. Das Schlussstück ist der »Marche du décervelage«, also ein »Hirnzermatschungsmarsch«, für den Zimmermann Wagners Walkürenritt mit einem brutal stampfenden, bis zum Erbrechen wiederholten Takt zusammenzwingt. Bihlmaiers intensive Interpretation erwies, dass Zitattechnik um 1968 mehr sein konnte als letztlich unverbindliche Postmoderne.
75 für 75
Mit der Tageszeitung junge Welt täglich bestens mit marxistisch orientierter Lektüre ausgerüstet – für die Liegewiese im Stadtbad oder den Besuch im Eiscafé um die Ecke. Unser sommerliches Angebot für Sie: 75 Ausgaben der Tageszeitung junge Welt für 75 Euro.
links & bündig gegen rechte Bünde
Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.
Regio:
Mehr aus: Feuilleton
-
Die Geister des Romans
vom 15.09.2025 -
Tagtrümmer
vom 15.09.2025 -
Einzugsfertig
vom 15.09.2025 -
Nachschlag: Sprachliches Feintuning
vom 15.09.2025 -
Vorschlag
vom 15.09.2025 -
Veranstaltungen
vom 15.09.2025