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Aus: Ausgabe vom 15.09.2025, Seite 10 / Feuilleton
Literatur

Die Geister des Romans

Später Sebaldismus: Jonas Lüschers umjubeltes Buch »Verzauberte Vorbestimmung«
Von Erik Gutendorf
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Kennt seinen Sebald: Jonas Lüscher

Das jüngste Prosawerk des mit zahlreichen Auszeichnungen bedachten deutsch-schweizerischen Schriftstellers Jonas Lüscher wird viel gelobt (»erzählerischer Triumph«, vielleicht »ein Jahrhundertroman«). Es tritt als Roman auf. Die Gattungsbezeichnung kann als Ausweis beträchtlicher Bescheidenheit gelten, denn der Leser erhält mit »Verzauberte Vorbestimmung« ohne Preisaufschlag einen Sterntalerregen aus mehreren Kurzromanen und einigen novellistischen Projekten unterschiedlichen Reifegrads. Darunter: der Schemen eines algerischen Soldaten im industriell geführten Ersten Weltkrieg; ein weiterer algerischer Veteran des Schlachtens, der für Frankreich focht und der Republik schließlich als Briefträger dient; ein Besuch in einem dystopischen Zukunfts-Ägypten, Treffpunkt unterernährter Sterblicher und ihrer Endlichkeit enthobener Androiden, pendelnd zwischen der berstenden Megacity der Massen und einer menschenleeren hochtechnologischen Megalopolis aus dem Geist eines digital geweihten Pharaonentums.

Der Autor ist ein versierter Gestalter von Situationen, fähiger Zeichner einprägsamer Skizzen von Figuren und ihrer Umgebungen (und umgekehrt). Man kann von ihm lernen, wie man die städtebaulichen Geiselnahmen des 20. und 21. Jahrhunderts in ihrer ganzen unbeschreiblichen Scheußlichkeit beschreibt. (Leider beherrscht er diese Technik so gut, dass er zuweilen die architektonische Monotonie in literarische überträgt.) Lüscher zieht seinen Leser immer wieder in die verwickelten Gänge seiner dichten Beschreibungen. Von besonderer Lebendigkeit ist die Erzählung einer Revolte ludditischer Weber, Maschinenstürmer aus der Frühzeit der Industriellen Revolution. In mehr als einer Hinsicht eindringlich ist die seltsame Passage, die uns, in sensitiver wie autobiographischer Ungeschütztheit, in den Überlebenskampf des vom Coronavirus befallenen Autors versetzt, der auf der Intensivstation in künstlichem, von unzähligen Apparaten überwachten Koma liegt.

Wir folgen dem Ich-Erzähler gespannt auf die Spuren von Peter Weiss. Reiseschilderungen des Erzählers, dokumentarisches Material, Fiktion werden gleichermaßen genutzt, um Weiss’ Reise zum amateursurrealistischen Monument des Briefträgers Cheval im südfranzösischen Hauterives 1960 aus mehreren Perspektiven darzustellen. Und neugierig folgen wir dem Romancier ins vormalige Manchester Böhmens, ins tschechische Varnsdorf, wo Peter Weiss 1936/37 mit seinen von den Faschisten aus Deutschland vertriebenen Eltern lebte.

Mehr Weiss wagen

Das gegenwärtige Leben – vielleicht eher Gelebtwerden – in der deindus­trialisierten und abgehängten französischen und tschechischen Provinz spiegelt die »Verzauberte Vorbestimmung«, dem Leser auf den Leib rückend, bedrückend wider.

Es bleibt ein unbestreitbares Verdienst dieses Prosabandes, an den großen Künstler und Intellektuellen Weiss mit dezidierter Empathie zu erinnern. Hier stößt Lüschers Konzeption aber auch sichtlich an ihre Grenzen. Einige in Teilen unerhebliche Momente und Züge im Leben und in der Persönlichkeit des schwedisch-deutschen Künstlers werden plastisch eingefangen, aber wir vermissen viel: ein lebendiges Gesamtbild seiner Person, eine eingehende Auseinandersetzung mit seiner Kunst und ihrer Bedeutung damals oder heute, eine vertiefende Darstellung des biographischen und werkgeschichtlichen Stellenwerts der beiden von Lüscher nach unerfindlichen Kriterien ausgewählten kurzen Abschnitte des Lebens von Peter Weiss. Es liegt genau auf dieser Nichtlinie des Halbromans, dass Weiss’ weitere, gewaltige Entwicklung nach der Lebens- und Schaffenskrise 1959/1960, mit der die Figur Weiss aus dem Buch entlassen wird, völlig ausgeblendet wird. Seine Wendung zum Sozialismus, seine internationale Wirkung, seine Anerkennung als eine der vernehmbarsten und klarsten intellektuellen Stimmen des deutschen Sprachraums finden keinen Platz. Mehr Weiss wäre dem Mosaik der »Verzauberten Vorbestimmung« gut bekommen.

Die zu lockeren Bänder, die das verzauberte Konvolut am Auseinanderfallen hindern, sind der Ich-Erzähler mit seinem oft suggestiven, zuweilen narkotisierendem Tonfall und die Gestaltung unterschiedlicher Ausprägungen des Verhältnisses von Mensch und Technik. Viele Anspielungen und Verweise sollen das Ganze zusammenhalten. Beispielsweise ist Peter Weiss der Sohn eines Textilkaufmanns, Textilien kauft der Ich-Erzähler in Ägypten, die im Roman auftretenden Maschinenstürmer sind Weber, ein frühes Gemälde von Weiss trägt den Titel »Die Maschinen greifen die Menschen an«. Dennoch kann Lüschers narrativer Webstuhl keinen kleidsamen Text verfertigen, der für das ganze Buch reicht.

Wem an literaturhistorischer Verortung gelegen ist, könnte den Band als Dokument des späten Sebaldismus betrachten. Unter Sebaldismus verstehe ich eine mustergültig von W. G. Sebalds schätzbaren Werken (etwa »Austerlitz«, »Schwindel. Gefühle.«, »Die Ringe des Saturn«) repräsentierte, weltanschaulich grundierte, seit den 1990er Jahren sich etablierende literarische Strömung, die bestimmte Erzählstrategien und Themen bevorzugt. Charakteristisch für sebaldistisches Erzählen: melancholischer Ich-Erzähler, essayistischer Duktus, Kombinationen von Dokumentarischem und Fiktionalem, indirektes Berichten, Inspizieren von Orten und Gebäuden. Ein finsterer Blick im Geiste der Kritischen Theorie fällt auf Gesellschaft und Geschichte, wo er keinen Fortschritt, sondern Verheerung und eine negative Dialektik der Naturbeherrschung erkennt, etwa in den Steinen der Architektur die Signatur der versteinerten gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse.

Leicht tappen Sebalds Nachfolger in vorbestimmte Fallen: das erzählerische und ethisch-politische Verharren im Banne des Hässlichen und Gemeinen, die Katastrophe als Narkotikum, die Zersplitterung des Werks in eine Unzahl von Erzählfragmenten und Themen, der Furor indirekter Wiedergaben, die Erkenntnis als ästhetischer Zettelkasten, die negative Dialektik als Fatum, die Wiederkehr einer schwarzen Romantik. Wir sollten Walter Benjamins »Linke Melancholie« wieder einmal aufschlagen.

Alles abtasten

Lüscher zeigt uns freilich auch Elemente menschlicher Befreiung aus dem Gehäuse der Destruktivkraftentwicklung. Er begleitet uns zu kämpfenden Maschinenstürmern, darunter auch zu einem Ludditen, der lernt und die Grenzen dieser Kampftechnik erkennt. Lüscher zeigt uns, wie Liebende glücklich Abschied von der hochtechnologischen Unsterblichkeit nehmen. Er zeigt uns nicht zuletzt (nur zuwenig) Peter Weiss.

Dessen »Ästhetik des Widerstands«, die keine Spuren in Lüschers Buch hinterlassen hat, ist ein Roman, der als große Form die großen gesellschaftlich-geschichtlichen Widersprüche in sich aufnimmt, abbildet, gestaltet, kenntlich macht. Er nutzt viele der inhaltlichen Elemente und literarischen Formen, die Lüscher gebraucht, kombiniert sie aber mit anderen zu einem gültigen Werk.

Ein Beispiel für ein gelungenes Werk der deutschen Gegenwartsliteratur, das nicht die große, geschichtsphilosophisch explizite Form als Spiegel der gesellschaftlichen Totalität anstrebt, ist Behzad Karim Khanis im letzten Jahr erschienener präziser und in sich vollendeter Roman »Als wir Schwäne waren«. Lüschers Prosaminiaturen tasten die großen Widersprüche der Epoche ab, nach der großen Form verlangend, aber sie beschwören sie nur, sie bekommen sie nicht in den Griff.

Jonas Lüscher: Verzauberte Vorbestimmung. Carl Hanser Verlag, München 2025, 352 Seiten, 26 Euro

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