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Aus: Ausgabe vom 11.09.2025, Seite 3 / Schwerpunkt
Kommunalwahlen Gelsenkirchen

Mehr als ein blauer Fleck

Bei den Kommunalwahlen in der ehemaligen SPD-Hochburg Gelsenkirchen wird ein Erfolg der AfD erwartet. Aber nicht alles hier ist rechts
Von Max Grigutsch, Gelsenkirchen
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Veranstaltet die AfD in Gelsenkirchen eine Kundgebung, muss sie mit einer Gegendemo rechnen (18.8.2025)

Manch liberaler Journalist blickt dieser Tage unsicher auf die Kommunalwahlen in Gelsenkirchen. »Die AfD greift nach dem Pott«, titelte Welt vergangene Woche. »Viel Wahlkampf muss die AfD gar nicht machen«, hieß es Mitte August in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Und warum? Der WDR brachte die Unsicherheit hinsichtlich der »sozialdemokratischen Stammregion« Ende August auf den Punkt: »Kann die AfD aus einer roten Landkarte eine blaue machen?«

Ach, der proletarische Pöbel. Weiß der denn gar nicht, wie er zu wählen hat? Am Sonntag stehen in Nordrhein-Westfalen die Kommunalwahlen an. So auch in Gelsenkirchen, der knapp 270.000köpfigen Großstadt im Zentrum des Ruhrgebiets. Erwartet wird ein Erfolg der AfD. Die Partei hatte bei der Bundestagswahl im Februar mit 24,66 Prozent die meisten Zweitstimmen auf sich vereint und damit erstmals die SPD übertrumpft.

Die ehemalige Industriestadt Gelsenkirchen war traditionell eine Hochburg der Sozialdemokratie. Schon 1949 holte die SPD hier mit 36,54 Prozent die Mehrheit – damals noch neben einer 15,29 Prozent starken KPD, die 1956 verboten wurde. In der Folge profitierten die Sozialdemokraten. Ihr Stimmanteil erreichte 1972 einen Höhepunkt von 65,48 Prozent. Bemerkenswert hohe Ergebnisse konnte die Partei bis zur Jahrtausendwende einfahren. Dann der Abstieg: 42 Prozent (2009), 33,5 Prozent (2017), 24,1 Prozent (2025).

Mit Anteilen zwischen 12,1 und 3,5 Prozent konnte die Linkspartei das verlorene Wählerpotential nicht auffangen. Anders die AfD, die bei ihrem ersten Antritt 2013 zunächst 4,7 Prozent erreichte, im Februar dann fast 25 Prozent. Sind die Gelsenkirchener Arbeiter, die einst so zuverlässig die SPD gewählt hatten, alle rechts geworden?

Marx und Lenin

Setzt man einen Fuß in die Stadt im Ruhrpott, bekommt man einen anderen Eindruck. Ein Spaziergang im Stadtteil Horst wäre der Bundesbeauftragten für die Opfer der SED-Diktatur, Evelyn Zupke, zum Beispiel nicht zu empfehlen. Sie hatte sich jüngst für »weniger Marx- und Leninstatuen in unserem Land« ausgesprochen. Doch genau die findet man hier vor der Zentrale der Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands (MLPD). 2020 hatte die Partei eigenen Angaben zufolge die erste Leninstatue in Westdeutschland enthüllt.

»Hier stand die FDP, die hat eine Gegendemo gemacht«, sagte MLPD-Vorsitzende Gabi Fechtner vergangene Woche gegenüber junge Welt, auf die andere Straßenseite deutend. »Und da standen die Faschisten«, so Fechtner, und wies in eine andere Richtung. Doch nicht nur Leningegner hatten sich versammelt: 1.000 bis 1.200 Leute seien da gewesen, um die Enthüllung der Statue zu feiern.

Die AfDler sind »immer noch eine Minderheit in der Ruhrgebietsbevölkerung«, erklärte Fechtner. Die ganzen Bergbau- und Stahlarbeiter, die die Geschichte der Stadt so prägen, »das waren Arbeiter aus Polen, aus Italien, aus der Türkei, von überall her«. Sie haben »das Ruhrgebiet aufgebaut«. Das präge die ganze Mentalität der Gelsenkirchener Beschäftigten, »dieser Gedanke der Solidarität, harte Maloche«, das sei »auch bis heute nicht totzukriegen«, sagte die Parteichefin.

Montankrise

Das Ruhrgebiet galt lange als Herz der deutschen bzw. westdeutschen Industrie. 1955 machte Steinkohle einen Anteil von 70 Prozent der deutschen Primärenergiequellen aus. Im Verlauf der Montankrise sank dieser Anteil bis 1981 auf 20,9 Prozent. Schon von 1950 bis 1966 hatte sich die Anzahl der Bergleute im Pott halbiert – begleitet von erbitterten Protesten und Streiks. Eine ähnliche Entwicklung zeigt sich beim Stahl: Wurden 1974 noch 50 Millionen Tonnen produziert, waren es 1988 nur 28 Millionen; die Zahl der Stahlbeschäftigten wurde von 283.000 auf 157.000 reduziert.

»Als die ganze Industrie vernichtet wurde, hat die SPD stillgehalten«, wusste Jan Specht im jW-Gespräch in seinem Büro im Hans-Sachs-Haus. Das denkmalgeschützte Gebäude im Stil des Backsteinexpressionismus dient unter anderem dem Rat der Stadt als Tagungsort. Specht sitzt für das AUF-Wahlbündnis (das zu einem großen Teil aus MLPD-Mitgliedern besteht) im Rat und kandidiert für das Amt des Oberbürgermeisters bei der anstehenden Wahl. Dass die AfD überhaupt Fuß fassen kann, sei auf den fehlgeschlagenen Strukturwandel und die Arbeitsplatzvernichtung zurückzuführen – dafür trage nach den Konzernen vor allem die SPD die Verantwortung.

Heute ist Gelsenkirchen eine arme Stadt. In Gesprächen wird das so beiläufig erwähnt, dass auch dieser Sachverhalt inzwischen Teil des Selbstverständnisses der Gelsenkirchener geworden sein muss. Im Internet kursiert etwa der Hashtag »401«, denn 2018 hatte das ZDF (zusammen mit der Beratungsfirma Prognos AG) Gelsenkirchen auf dem letzten Platz der »lebenswertesten Städte Deutschlands« verortet – Platz 401. Eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft attestierte der Stadt 2023 das deutschlandweit niedrigste durchschnittliche Jahreseinkommen pro Kopf. Seit 2017 wächst fast jedes zweite Kind hier in Armut auf.

»Wer jahrzehntelang hart gearbeitet und Steuern gezahlt hat und sich jetzt Mieten, Energie und Lebensmittel nicht leisten kann, während sich politisch nichts verbessert, verliert das Vertrauen«, bemerkte das Gelsenkirchener BSW am Dienstag auf jW-Anfrage. Das Narrativ vom rechten Arbeiter lenke von diesem »eigentlichen Problem« ab. Das jüngste AfD-Ergebnis sei »ein Signal für politisches Versagen, nicht für ideologische Verschiebungen«.

Arbeiter nach rechts?

Dass Gelsenkirchen »ein blauer Stempel« aufgedrückt wird, ärgert auch die Verdi-Aktive Petra Müller. Rechne man die Nichtwähler mit ein, relativiere sich das Wahlergebnis vom Februar, sagte die Erzieherin gegenüber jW. Hinzu kämen diejenigen, die nicht wählen dürfen, ergänzte ein Aktivist des Gelsenkirchener Offenen Antifa-Treffens (GOAT): Das seien etwa 100.000 an der Zahl. Fazit: »Es haben also nur elf Prozent der Leute hier AfD gewählt«, so der Aktivist. Bei den Kommunalwahlen ist eine Wahlbeteiligung von unter 50 Prozent zu erwarten.

Am 1. September, dem Antikriegstag, fanden in der Stadt gleich drei Kundgebungen statt: Auf dem Heinrich-König-Platz in der Gelsenkirchener Innenstadt demonstrierten die Parteien Die Linke, BSW, DKP sowie der antifaschistische Verein VVN-BdA; rund 150 Meter entfernt standen AUF und MLPD; nochmals 150 Meter weiter der DGB. Wohl abgesehen von einem Passanten, der die Protestierenden rufend des »Deutschland-Hasses« bezichtigte, war man sich hier einig: Die Rechten gelte es zu bekämpfen.

Zu leugnen sind die AfD-Zugewinne nicht. »Wir machen uns schon Sorgen«, sagte Verdi-Aktive Müller. Gerade städtische Beschäftigte wollten keinen AfD-Oberbürgermeister. Man müsse schon sehen, dass inzwischen »viele alte Sozialdemokraten die AfD wählen«, vermutete sie.

Für den OB-Kandidaten der Linkspartei, Martin Gatzemeier, kam der AfD-Aufstieg nicht von ungefähr. »Welche Arbeitsplätze haben wir denn noch in Gelsenkirchen?« Jobs würden abgebaut – was bleibe, seien der Niedriglohnsektor und Tarife »am unteren Ende«. Wenn das so bleibe, werde die AfD noch weiter wachsen, meinte Gatzemeier. Er kritisierte außerdem die Zahl an Geflüchteten, die auf Gelsenkirchen verteilt würden: Der Bund bestimme das, aber gebe zu wenig Geld, um eine angemessene Versorgung zu gewährleisten. Der Linke-Politiker fordert einen Verteilschlüssel, der die »Integrationslast der Kommunen berücksichtigt«.

Den Eindruck, dass die Arbeiter inzwischen alle rechts seien, hat Valentin Zill nicht. 2022 war er noch für die Gelsenkirchener DKP zu den Landtagswahlen angetreten; an den bevorstehenden Kommunalwahlen nimmt die Partei nicht teil. »Es gibt hier linke Menschen und linke Arbeiter«, sagte er im jW-Gespräch. Er nehme aber schon wahr, »dass die ein bisschen stiller werden«. In der Verantwortung sieht Zill die großen Parteien: »Wenn du von der SPD dermaßen verarscht wirst – von den Grünen brauchen wir gar nicht reden – und wenn die Linkspartei dich dann auch noch hängen lässt, weil sie einfach nur auf Mitregieren aus ist, dann hast du am Ende keine Optionen mehr.« Die Gelsenkirchener SPD antwortete bis Redaktionsschluss nicht auf Fragen dieser Zeitung.

Die Rechten

1. Mai 2025. Die Neonazipartei Die Heimat (ehemals NPD) hatte nach Gelsenkirchen mobilisiert – kaum 150 Faschisten kamen laut Polizei auf die Straße. Dem standen laut WAZ bis zu 2.650 Antifaschisten und Teilnehmer des Arbeiterkampftags gegenüber. Das GOAT hält die Gelsenkirchener Rechte für »noch relativ gespalten«; es »spuken viele kleinere Gruppen herum«, die »bekannten Problemnazis unterstützen auch die AfD, aber meist mit dem Nachsatz, dass sie Die Heimat eigentlich besser finden«.

Die lokale AfD teilte auf jW-Anfrage vergangene Woche mit, sie sei »zuversichtlich, mit einem starken Ergebnis in den Rat der Stadt Gelsenkirchen und die Bezirksvertretungen einzuziehen«. Die realen Probleme der Stadt benennt die AfD – Stellenabbau, fehlender Strukturwandel –, allerdings durchmischt mit Klagen über das mangelnde »Sicherheitsgefühl im öffentlichen Raum«; über »ganze Straßenzüge«, die »Armutszuwanderern, insbesondere aus Südosteuropa« anheimfielen; über »nächtlichen Lärm, respektlose Jugendbanden, Müllansammlungen in vielen Straßen«. »Werte und Heimat müssen verteidigt«, das »Kirchensterben« und die »Islamisierung« gestoppt werden, meint die Partei.

Die AfD sei gegen die Reichensteuer, gegen den Mindestlohn, gegen die Gewerbesteuer, erwiderte AUF-Kandidat Specht. Ihr Programm »wäre eine Katastrophe für Gelsenkirchen«. Auch der Aktivist des GOAT sagte: »Wir machen uns alle Gedanken, wie das nach der Wahl wird.« Aber: »Wir sind mehr als ein blauer Fleck auf der Landkarte. Es gibt hier genauso antifaschistisches Leben, Menschen, die an die ›bürgerliche Mitte‹ glauben, Politkultur und Solidarität.« Es gebe »verschiedene Bündnisse und Gruppen, die mit unterschiedlichsten Strategien, Taktiken und Aktionsformen daran arbeiten, dass die AfD so wenig Stimmen wie möglich bekommt.«

Kommunalwahlen NRW

Außer Gelsenkirchen: Überrollt die von Bild, Tagesspiegel und anderen prognostizierte »blaue Welle« am Sonntag ganz NRW? Umfragen geben das jedenfalls nicht her. »Wem trauen Sie am ehesten zu, die wichtigsten Probleme vor Ort zu lösen?«, fragte das Meinungsforschungsinstitut Infratest Dimap im Auftrag des WDR die Wahlberechtigten in ganz NRW. Die Ergebnisse wurden am vergangenen Donnerstag veröffentlicht: 23 Prozent trauten das der CDU zu, 15 der SPD, nur elf der AfD. Am 9. Juli veröffentlichte Forsa-Umfrageergebnisse sahen die CDU mit 32 Prozent landesweit ganz vorn, die SPD mit 22 Prozent auf Platz zwei, gefolgt von AfD und Grünen mit je 14 Prozent.

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