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Aus: Ausgabe vom 10.09.2025, Seite 2 / Inland
Kommunalwahlen Gelsenkirchen

»Wir sind ein Sprachrohr im Rat der Stadt«

Kommunalwahl in Gelsenkirchen: AfD könnte SPD ablösen. Wahlbündnis AUF sieht Ursache in Vernichtung von Arbeitsplätzen. Gespräch mit Jan Specht
Interview: Max Grigutsch, Gelsenkirchen
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Der Gelsenkirchener Rat der Stadt tagt im backsteinexpressionistischen Hans-Sachs-Haus (1.9.2025)

Das AUF-Wahlbündnis, kurz für »Alternativ, Unabhängig, Fortschrittlich«, kann man nur in Gelsenkirchen wählen. Warum gibt es AUF überhaupt?

Die SPD dominierte hier alles. AUF gibt es seit 1999 und sollte eine Opposition dazu sein. An der Gründung waren viele von der MLPD beteiligt. Es ist ein kapitalismuskritisches Kommunalwahlbündnis. Die Idee damals war, dass man in den Kommunen mit Parteilosen und Mitgliedern verschiedener Parteien zusammenarbeiten kann.

Sie sind zum ersten Mal OB-Kandidat?

Ja. Die Hoffnung war, zu Podien eingeladen zu werden. Das hat nicht geklappt. Es gibt immer noch eine ziemliche antikommunistische Ausgrenzung gegenüber AUF. Wenn AfD und AUF dann gleichermaßen nicht eingeladen werden, ist das eine üble Auswirkung der Hufeisentheorie, was auch die AfD verharmlost.

Trotz historischer Dominanz: Die Gelsenkirchener SPD ist im Abwärtstrend. Bei der Bundestagswahl im Februar hat die AfD hingegen fast 25 Prozent der Zweitstimmen geholt.

Wir stellen uns gegen das AfD-Narrativ, dass die Migration an allem schuld ist. Es gibt viele Probleme in der Stadt; die Ursache ist der fehlgeschlagene Strukturwandel, die Arbeitsplatzvernichtung. Gelsenkirchen wurde durch Migration in den Bergbau aufgebaut. Als die ganze Industrie vernichtet wurde, hat die SPD stillgehalten. Mit ihrer Stellvertreterpolitik und ihrem egoistischen Standortdenken hat sie Zersetzung in die Arbeiterbewegung getragen. Wir haben jetzt kaum noch große Industrie. Während meiner fünf Jahre im Stadtrat haben bestimmt zehn kleinere bis mittlere Betriebe dichtgemacht.

Die Industrie wurde vernichtet?

Das ist die kapitalistische Logik. Wir sind auch nicht dafür, an Kohleverbrennung festzuhalten. Aber es wurde auch weiterhin Kohle in Kraftwerken verfeuert. Die kam dann halt nicht mehr aus Gelsenkirchen, sondern aus Kolumbien. Es war billiger, das da abzubauen und hierher zu verschiffen. Der Bergbau hier war wohl der fortgeschrittenste und sicherste der Welt, und der wurde plattgemacht. Allein das ordentlich zu verfüllen und für die Zukunft zu sichern, hätte Zehntausende Arbeitsplätze erhalten. Bei der Stahlindus­trie war es ähnlich.

In welchen Sektoren arbeiten die Gelsenkirchener heute?

Es gibt nicht mehr viel. Zu den größten Arbeitgebern zählen die Stadt selber, die Kliniken und BP.

Glaubt man der Erzählung, sind die Arbeiter heute zunehmend rechts. Spricht AUF für die Beschäftigten?

Auf jeden Fall. Wir haben gute Verbindungen in die Betriebe. Es ist auch so, dass ein Teil der Arbeiter AfD wählt. Aber wir sagen nicht, dass die alle rechts und damit verloren sind. Da hat die SPD schon eine Verantwortung. Auch, weil die SPD immer ein starkes Standortdenken vertreten hat. Das hat Einfluss gehabt in der Arbeiterbewegung. Früher hieß es »internationale Solidarität«; das findet man bei der SPD nicht. Wir sprechen auch über die Bulgaren und Rumänen, die hier zu niedrigsten Löhnen die härteste Arbeit leisten.

Trägt Die Linke eine vergleichbare Verantwortung?

Ich habe zur Linkspartei im Rat ein ganz gutes Verhältnis. Bei vielen sachlichen Fragen sind wir uns einig. Aber sie passen sich zu sehr an und unterstützen aus Opportunitätsgründen vor allem gegenüber der SPD in letzter Zeit auch wieder die antikommunistische Ausgrenzung von AUF. Da waren sie schon mal weiter.

Mit welchen Themen kommt man an die Beschäftigten ran?

Wir wollen, dass die ganzen Brachflächen, die es in Gelsenkirchen gibt, besser genutzt werden. Die Flächen sind hochgradig verseucht. Betriebe wollen sich da nicht ansiedeln, weil die dann die Böden sauber machen müssen. Aber wir versprechen auch nicht, dass Gelsenkirchen mit uns in paradiesische Zeiten kommt. Dafür muss gekämpft werden. Indem man zum Beispiel gegen Betriebsschließungen streikt, statt die Arbeitsplätze für einen Sozialtarifvertrag oder eine Abfindung kampflos aufzugeben. Überhaupt muss mehr Protest auf die Straße. Die anderen Parteien verhandeln das lieber in Hinterzimmern. Wir machen eine andere Art von Politik. Bei uns unterschreibt jeder Kandidat, dass er die Aufwandsentschädigung an AUF spendet. Ich selbst habe so bereits über 30.000 Euro gespendet. Wir sind ein Sprachrohr im Rat der Stadt. Aber das ist nicht der einzige Ort, wo Politik stattfindet.

Jan Specht ist Kandidat für das Amt des Oberbürgermeisters für AUF Gelsenkirchen

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